Masshalten im Interesse von uns allen

Am VSE Treffpunkt «Top-Themen der Energiepolitik» diskutierten Branche, Bund und Politik über die Top-Sorgen der Schweizer Bevölkerung: Versorgungssicherheit und Klima. Über Massnahmen und Meinungsverschiedenheiten.
26.10.2022

UREK-N-Mitglieder über Versorgungssicherheit und Interessenskonflikte

«Der Energieerhaltungssatz muss jederzeit gewährleistet sein.» Mit der physikalischen Dimension der Versorgungssicherheit begrüsste Verbandspräsident Michael Wider die Teilnehmenden des VSE Top-Themen-Anlasses am 24. Oktober 2022 in Zürich. Die Gleichung sei einfach: Produktion - Verbrauch + Import - Export = 0. Die Variablen der Gleichung würden sich bis 2050 stark verändern, etwa durch den Wegfall der Kernenergie auf der Produktionsseite und den steigenden Stromverbrauch durch die Dekarbonisierung. «Die Herausforderungen sind enorm, denn die physikalische Gleichung muss immer Null ergeben», bedachte Wider.

Die Herausforderungen seien vor allem auch im Hinblick auf diesen Winter gross, führte Pascal Previdoli, stellvertretender Direktor  des Bundesamts für Energie, aus und zählte die zahlreichen Massnahmen im Strom- und Gasbereich auf, die der Bund ergriffen hatte. Trotz dieser Massnahmen vermochte Previdoli keine Entwarnung zu geben. Die Signale seien positiv, es bestünde aber weiterhin grosse Unsicherheit. Zu den Massnahmen für die mittel- und langfristige Versorgungssicherheit erwähnte Previdoli unter anderen den Mantelerlass, die Beschleunigungsvorlage oder der Abschluss eines Stromabkommens. Wegen der Energiekrise gebe es zudem Diskussionen über die Errichtung von Gasspeichern, Anpassungen des Merit-Order-Systems und die Rückkehr in die Grundversorgung.

Mit der VSE Roadmap zur Versorgungssicherheit aus dem «Schlamassel»

Die Energiekrise dürfte auch das dominierende Thema der eidgenössischen Parlamentswahlen 2023 sein und deren Ausgang bestimmen, wie die Ausführungen von Urs Bieri deutlich machten. Er ist Co-Leiter des Politikforschungsinstituts gfs.bern. Aktuell gehöre neben der Klimakrise neu auch das Sicherheitsthema zu den Top-Sorgen der Schweizer Bevölkerung, allen voran die sichere Versorgung mit Energie. Jene Parteien, denen zugetraut werde, die Energie- und Klimakrise zu lösen, könnten als Gewinnerinnen aus den Wahlen hervorgehen, so Bieri.

Urs Bieri (gfs.bern) über den Einfluss der Versorgungssicherheit auf die Wahlen 2023

Schon lange oberste Priorität geniesst die Versorgungssicherheit in der Branche. Der VSE erstellte im Dezember 2021 eine Roadmap mit über 40 Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, die für die Gewährleistung die Versorgungssicherheit kurz-, mittel- und langfristig notwendig sind. «Versorgungssicherheit ist ein Gesamtsystem, das End to End gedacht werden muss. Es gibt nicht die eine Top-Massnahme, die uns, salopp gesagt, aus dem Schlamassel führt. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel all dieser Massnahmen», betonte Dominique Martin, Bereichsleiter Public Affairs und Mitglied der Geschäftsleitung beim VSE. Den anwesenden Parlamentsmitgliedern gab Martin den Wunsch mit auf den Weg, die Stromnetze nicht zu vergessen. Denn diese würden in der energiepolitischen Diskussion lediglich ein Schattendasein fristen, obwohl sie Enabler der Energie- und Klimastrategie seien. Zudem müsse nun endlich eine vertragliche Lösung für die Strombeziehungen Schweiz-EU gefunden werden.

Schützen oder nutzen?

Die angesprochenen Parlamentsmitglieder wurden nach Martins Votum von Jürg Meier, Journalist der NZZ am Sonntag, zur Diskussion auf das Podium gebeten. Auf die Frage, wie wir die Natur bewahren und trotzdem die erneuerbaren Energien ausbauen, antwortete SP-Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel, man löse die Energiekrise nicht, indem die Klima- und die Biodiversitätskrise auf die lange Bank geschoben werden. Bei der Schutz-/Nutzung-Abwägung gebe es kein Patentrezept. Die Pro-Natura-Präsidentin betonte, die Erneuerbaren fördern zu wollen, dass Auswirkungen auf Natur um Umwelt im Einzelfall aber stets abgewogen und minimiert werden müssten. Dafür brauche es Kompromisse und Lösungen wie beim runden Tisch Wasserkraft, den sie als grossen Schritt bezeichnete.

Matthias Jauslin, FDP-Nationalrat und Stiftungsrat der Stiftung Landschaftsschutz, pflichtete Schneider Schüttel im Grundsatz bei: «Wir müssen Schutz und Nutzung unter einen Hut bringen. Aktuell sind wir aber nicht imstande, gemeinsam zukunftsfähige Lösungen zu finden.» Dabei seien Technologien und Innovationen vorhanden, um vorwärtszumachen. Dass die Herausforderungen immens seien, sah auch Mitte-Nationalrat Nicolo Paganini ein. Für ihn war klar, dass die letzten zehn Jahre zu wenig gemacht wurde, um die Ausbauziele zu erreichen. Paganinis Schlussfolgerung: Biodiversität und Landschaftsschutz liessen sich nicht gleichzeitig mit der Sicherung der Energieversorgung realisieren. Gute Projekte dürften nicht mehr scheitern wegen einzelner Steinfliegen.

Im Gegensatz zu seinen Ratskollegen und zur Ratskollegin stellt für SVP-Nationalrat Christian Imark die Kernenergie die Antwort auf die Versorgungskrise dar. Die Technologie sei zuverlässig, CO2-frei und verschandele nicht die Landschaft. Man solle die ideologischen Scheuklappen abnehmen und das Technologieverbot aufheben.

Pascal Previdoli (BFE) über die Entscheide des Ständerats zum Mantelerlass

Masshalten mit Partikularinteressen

Nach der angeregten Podiumsdiskussion zog VSE Direktor Michael Frank zum Abschluss ein Fazit. Man führe seit Jahren dieselben Diskussionen und stehe noch immer am gleichen Punkt. Wenn man der Energiekrise und den rekordhohen Strompreisen etwas Positives abgewinnen wolle, dann die Tatsache, dass Versorgungssicherheit, Energie und Strom wieder einen Wert erhalten haben. Partikularinteressen gehörten zur Auseinandersetzung dazu. Im Interesse von uns allen gelte es damit aber masszuhalten und die Energie- und Klimaziele nicht nur fest vor Augen zu halten, sondern sie endlich auch konsequent zu verfolgen.