Dringliches wird noch dringlicher

Explodierende Preise für fossile Energien, fehlende Einbindung in die europäischen Märkte und ein Winterstromdefizit: Der Ausbau der Produktion aus erneuerbaren Energien war noch nie so dringend wie jetzt.
20.09.2022

(Quelle: Towfiqu Barbhuiya/pixabay)

Das Thema Versorgungssicherheit ist seit jeher ein zentrales Anliegen des VSE. Er weist daher auch seit geraumer Zeit eindringlich darauf hin, dass die Schweiz ein strukturell bedingtes Stromdefizit im Winterhalbjahr hat, das sich massiv verstärken wird. Die Gründe dafür sind die Abschaltung der Kernkraftwerke und der starke Anstieg der Stromnachfrage aufgrund der Elektrifizierung. Um diese Lücke zu schliessen, müssen Energieeffizienzmassnahmen umgesetzt werden und alle erneuerbaren Energien ihren Beitrag leisten. Das grösste Volumen des Ausbaus der erneuerbaren Energien entfällt auf die Photovoltaik. Wichtige Beiträge zur Winterversorgung müssen vor allem alpine PV, Wind, Wasserkraft und Biomasse leisten. Zudem werden Lösungen für die saisonale Speicherung benötigt. Für eine weitgehend erneuerbare Stromversorgung ist ferner der Erhalt der bestehenden erneuerbaren Stromproduktion aus Wasserkraft zwingend. Eine Verzögerung des Ausbaus kann sich die Schweiz nicht leisten (Grafik «Zukünftige Nachfrage und Produktion»). Für den Winter wäre die Situation unhaltbar. Selbst bei einem Ausbau nach Plan wird der Grenzwert der ElCom im Winter fast erreicht.

Parallel zur sinkenden Selbstversorgung im Winter gelten die Importe aus der EU als nicht mehr gesichert. Einerseits wird sich das Stromdargebot durch den Ausstieg diverser Länder aus Kohlekraft und Kernenergie auch in der EU verknappen und stark wetterabhängig sein. Je nach Wetterlage werden sie nicht mehr in der Lage sein, die Schweiz mitzuversorgen, selbst wenn sie es wollten. Andererseits ist die Schweiz aufgrund des Fehlens eines Stromabkommens mit der EU nicht Teil des Market Couplings und der 70-%-Regel der EU, wonach die EU-Staaten ab dem 31.  Dezember 2025 mindestens 70 % der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reservieren müssen. Zur Einhaltung dieser Regel werden die Nachbarländer die Importkapazitäten der Schweiz potenziell stark beschränken.

Seit 2018 warnen Branche und ElCom explizit vor Versorgungsrisiken. Als Folge davon hat der Bundesrat die Revisionen des Energiegesetzes und des Stromversorgungsgesetzes stärker auf die Versorgungssicherheit ausgerichtet und diese als «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» (Mantelerlass) im Sommer 2021 zuhanden des Parlaments verabschiedet. Dieses Gesetz soll die Rahmenbedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien verbessern und die Versorgungssicherheit mit einer Energiereserve und dem Ausbau der Speicherwasserkraft ergänzend gewährleisten. Der Teil betreffend die Förderung der erneuerbaren Energien wurde vom Parlament vorgezogen behandelt und bereits 2021 im Rahmen einer parlamentarischen Initiative beschlossen, sodass die Änderungen per 1.  Januar 2023 in Kraft treten werden.

Zukünftige Nachfrage und Produktion: 2050 wird die Stromnachfrage in der Schweiz voraussichtlich rund 85 TWh betragen. Ohne entsprechende Massnahmen wird die heimische Produktion allerdings bloss 73 TWh bereitstellen können. (Quelle: VSE)

Seit dem Sommer 2021 hat sich mit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen Schweiz–EU die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter verschlechtert. Im Oktober 2021 ist mit der Frontier-Studie zu den Risiken ohne Stromabkommen  und dem Aufruf von Bundesrat Parmelin zur Vorbereitung auf eine allfällige Strommangellage das Bewusstsein über eine Gefährdung der Versorgungssicherheit auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Seither herrscht Alarmstimmung, auch beim Bund. Verschiedenste Massnahmen wurden aufgegleist. Der Bundesrat hat die ElCom beauftragt, ein Konzept Spitzenlast-Gaskraftwerk zu erarbeiten, mit dem Ziel, ergänzend zur Energiereserve bis im Jahr 2025 eine weitere Reserve für ausserordentliche Situationen zur Verfügung stellen zu können. Beide Reserven sollen die bestehenden Energieerzeugungsanlagen, welche am Markt agieren, im Notfall, wenn also der Markt aufgrund eines zu geringen Angebotes nicht schliesst, ergänzen. Auch hat der Bundesrat im Februar 2022 ein Verfahrensbeschleunigungsgesetz in die Vernehmlassung geschickt, mit welchem verfahrensrechtliche Hürden, die dem raschen und effektiven Ausbau der erneuerbaren Energien im Wege stehen, abgebaut werden sollen.

VSE Roadmap Versorgungssicherheit mit über 40 Massnahmen

Angesichts der sich zuspitzenden Lage und der an Fahrt aufnehmenden politischen Diskussion um die Versorgungssicherheit ist auch der VSE nicht untätig geblieben. Um aufzuzeigen, wie den Herausforderungen begegnet werden soll, hat er Ende 2021 in der VSE Roadmap Versorgungssicherheit eine Gesamtsicht über die notwendigen Massnahmen entlang der ganzen Wertschöpfungskette erstellt: von Produktion über Speicher zentral-dezentral, Handel, Netze bis zu den Verbrauchern. Ebenfalls berücksichtigt die Roadmap Fragen zur Akzeptanz sowie Verfahrensthemen und die Stromzusammenarbeit Schweiz – EU.

Die Roadmap präsentiert über 40 Massnahmen, die zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit Strom nötig sind. Diese Massnahmen basieren auf Positionen und Stellungnahmen des Verbandes der vergangenen Jahre. Der VSE weist in der Roadmap auch darauf hin, dass die Versorgungssicherheit nur in einem engen Zusammenspiel aller Akteure als Gesamtsystem auf der gesamten Wertschöpfungskette untrennbar gewährleistet werden kann. Die verschiedenen Akteure (Energiewirtschaft, Bund, Kantone, ElCom) teilen sich die Verantwortung für dieses Gesamtsystem Versorgungssicherheit. Die Strombranche steht zu ihrer Verantwortung.

Treiber der Stromnachfrage: Die Abkehr von fossilen Energiequellen führt zu einer Elektrifizierung der Mobilität sowie der Gebäudeheizung und -klimatisierung. Die Nachfrage nach aus erneuerbaren Energiequellen gewonnenem Strom wird in Zukunft stark steigen. (Quelle: ClimateWarrior/pixabay)

Die Basis für die Massnahmen zur Versorgungssicherheit legen geeignete politische und regulatorische Rahmenbedingungen. In vielen Fällen müssen die rechtlichen Voraussetzungen erst noch geschaffen werden, bevor die Massnahmen konkret umgesetzt werden können. Daher ist es dringend, dass diese Basis sofort gelegt wird, denn die notwendigen Massnahmen wirken sich gegebenenfalls erst mittel- oder langfristig auf die Versorgungssicherheit aus. Während Optimierungen und Anpassungen bestehender Systeme kurzfristig möglich sind und umgehend wirken, brauchen Gesetzgebungsprozesse sowie die Umsetzung von Infrastrukturanlagen Zeit, sodass die effektive Wirkung frühestens mittelfristig spürbar wird. Insbesondere der Ausbau der Energieerzeugungsanlagen braucht Zeit.

Zu den Top 10 der VSE-Massnahmen gehören: 

  • Ausweitung Zielvereinbarungen von Energieeffizienz​ auf Immobilien und Verkehr,
  • Zubau Winterproduktion mit alpiner Photovoltaik, Wind, Biomasse, Wasserkraft
  • Ausbau Winter-Speicherwasserkapazität,
  • technologieoffene Ausschreibung Strom- und Wärmeproduktion dezentral und/oder zentral,
  • rasche Etablierung Energiereserve
  • Erhöhung Transparenz Netztransferkapazität (NTC) im Verbundnetz,
  • Sicherheit für Investitionen in Um-/Ausbau und Digitalisierung der Netze aufrechterhalten,
  • moderate Umsetzung Umwelt- und Gewässerschutzvorschriften
  • vorgängige übergeordnete Interessenabwägung Schutz/Nutzung
  • bilaterales Abkommen Schweiz – EU im Strombereich.

Die Massnahmen für mehr heimische Stromproduktion setzen auf verschiedenen Ebenen an (Grafik «Übersicht»). Einerseits braucht es grosse Mengen an zusätzlicher erneuerbarer Energie. Diese soll vor allem durch den Zubau von PV-Anlagen, Wasserkraft, Windkraft, Biomasse und ab 2040 Geothermie bereitgestellt werden. Dieser sommerlastige Zubau wird jedoch nicht reichen, um die Winterproblematik zu lösen. Auch ist deren Produktion stark wetterabhängig. Es braucht zusätzlich noch Speicher und abrufbare Leistung wie Speicherwasserkapazitäten. Die Energie all dieser Anlagen wird wie üblich über den Markt verkauft. Für Notfälle werden Reserven bereitgestellt. Sie kommen nur dann zum Einsatz, wenn das Angebot am Markt nicht reicht. Im Normalfall sind sie nicht in Betrieb, so bleibt die Reserve-Energie reserviert und Reservegaskraftwerke laufen nicht unnötig.

Ausbau der erneuerbaren Energien

Beim Ausbau von Photovoltaik, Wasserkraft, Wind, Biomasse und Geothermie sollte der Fokus vor allem auf der Winterproduktion liegen, weil die Schweiz in der kalten Jahreszeit ein strukturelles Versorgungsdefizit aufweist und sich dieses noch verschärfen wird. Projekte mit hoher Winterstromproduktion sollen bei der Fördergesuchsbearbeitung prioritär behandelt werden und höhere Fördersätze erhalten. Auch sollen Anlagen mit Winterstromproduktion nicht durch eine Förderuntergrenze von vornherein von einer Unterstützung ausgeschlossen werden.

Übersicht: Massnahmen für mehr heimische Stromproduktion. (Quelle: VSE)

Ausbau Speicher und weitere Strom- und Wärmeproduktion Winter

Um dem strukturell bedingten Defizit im Winter gezielt entgegenzuwirken, plant der Bund ergänzend zusätzliche Speicherwasserkraftwerke, welche bei Bedarf abrufbar sind und vor allem auch Wasser vom Sommer in den Winter transferieren können. Am Runden Tisch Wasserkraft, an welchem sich auch der VSE beteiligt hat, wurden dafür 15 Speicherwasserkraftprojekte ausgewählt (+2  TWh). Diese sollen bis spätestens 2040 realisiert werden. Dafür braucht es einerseits den politischen Willen aller. Andererseits muss die Revision des StromVG durch das Parlament zeitnah verabschiedet werden, damit diese Projekte tatsächlich einen Förderbeitrag erhalten können.

Der Bundesrat beabsichtigt, ab 2040 allenfalls Ausschreibungen für weitere im Winter sicher abrufbare und klimaneutrale Strom- und Wärmeproduktion durchzuführen. Aus Sicht VSE sollten diese Ausschreibungen allenfalls bereits früher eingeführt werden, um die Winterversorgung sicherzustellen. Dabei könnte es sich beispielsweise um Wärme-Kraft-Kopplung oder Gas-und-Dampf-Kombikraftwerke handeln, welche mit Wasserstoff oder erneuerbarem Gas klimaneutral betrieben werden. Die Voraussetzungen für diese Ausschreibungen sind aber jetzt schon zu schaffen.

Wasserkraftreserve 

Der Bundesrat hat Mitte Februar bekannt gegeben, dass er die Energiereserve vorerst in Form einer Wasserkraftreserve auf dem Verordnungsweg vorziehen will. Diese soll bereits im Winter 2022/23 als Versicherung bereitstehen, um mögliche Engpässe zu überbrücken. Mittels jährlicher Ausschreibungen sollen sich Speicherwasserkraftwerke verpflichten können, einen Teil des Energie-Inhalts ihrer Speicherseen als Reserve vorzuhalten. Während der Dauer der Verpflichtung darf diese Reserve-Energie nicht am Markt veräussert werden und muss jederzeit abrufbar sein. Der Abruf wird voraussichtlich durch ein Marktsignal ausgelöst werden, konkret wenn die Stromnachfrage im Day-Ahead-Markt nicht gedeckt werden kann. Im Falle eines Abrufs bezahlen die abrufenden Bilanzgruppen für die abgerufene Energie.

Der VSE begrüsst das rasche Vorgehen des Bundesrats im Sinne der Versorgungssicherheit und hat sich im Rahmen der Konsultation für punktuelle Optimierungen zur Ausgestaltung und Umsetzung der Reserve ausgesprochen[3]. Wichtig ist, dass die Reserve-Energie marktbasiert beschafft wird und dass die Modalitäten im Fall eines Abrufs möglichst marktnah ausgestaltet sind. Parallel dazu ist im Rahmen des Mantelerlasses zügig eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, um die Rechtssicherheit zu stärken und um die Reserve für weitere Anbieter – auch Verbraucher – zu öffnen.

Wasserkraftreserve

Wasserkraftreserve: Um dem Stromdefizit im Winter entgegenzuwirken, soll im Frühling und im Sommer in Stauseen eine bestimmte Menge Energie gespeichert werden. Diese Energiereserve könnte bei Bedarf im Winter abgerufen werden. (Quelle: VSE)

Die Energiekrise macht die Umsetzung der Massnahmen nur noch dringlicher

Seit Anfang 2022 hat sich die Welt verändert. Russland hat die Ukraine angegriffen und der Krieg auf dem europäischen Kontinent hat zu einer weltweiten Energiekrise mit Fokus in Europa geführt. Dies just zu einem Zeitpunkt, in der sich die Schweiz und Europa im grössten Umbruch ihrer Energiesysteme befinden und grosse Herausforderungen zu bewältigen haben. In vielen europäischen Ländern waren Gaskraftwerke als Überbrückungstechnologie beim Wandel des Energiesystems vorgesehen.

Was tun? Alles nochmals überdenken, andere Wege einschlagen? Nein! Der VSE hat seine über 40 Massnahmen nochmals überprüft. Und sie sind immer noch richtig. Nur sind sie aufgrund der Energiekrise noch dringlicher geworden. Nun braucht es

  • einen massiv beschleunigten Ausbau der heimischen, erneuerbaren Stromproduktion,
  • eine starke und rasche Elektrifizierung zur Verminderung der Abhängigkeit von fossiler Energie,
  • eine massive Steigerung der (Energie-)Effizienz sowie
  • eine enge Kooperation mit der EU.

Eine starke Beschleunigung des Ausbaus ist mit der bisherigen Blockadepolitik jedoch nicht zu erreichen. Insbesondere Anlagen, die zur Winterproduktion beitragen können, wie alpine PV, Wind, Wasserkraft und Biomasse, kommen nicht vom Fleck. Geht es in diesem Tempo weiter, dauert es mindestens 100 Jahre, bis die Ziele der Energie- und Klimastrategie erreicht werden. Es braucht daher umgehend eine deutliche Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Realisierung von Energieinfrastrukturen. Dazu gehört insbesondere Folgendes:

  • Die Nutzungsinteressen an der Energieproduktion sollen mindestens temporär höher gewichtet werden als andere, auch nationale Interessen.
  • Um die Bewilligungsfähigkeit von Energieprojekten inklusive der notwendigen netzseitigen Infrastrukturen inner- und ausserhalb des Baugebiets sicherzustellen, ist eine Anpassung des Umwelt- und Raumplanungsrechts notwendig.
  • Um die Planungs- und Investitionssicherheit zu verbessern, müssen Bewilligungsverfahren beschleunigt werden, auch für kleinere Anlagen, welche nicht im Verfahrensbeschleunigungsgesetz berücksichtig sind.

Die Schweizer Bevölkerung steht hinter einem solchen Vorgehen. Der Versorgungssicherheit räumt sie klar oberste Priorität ein. Dafür ist sie insbesondere auch bereit, Abstriche bei den Beschwerderechten in Kauf zu nehmen. Man sollte nun nicht mehr lange diskutieren, hinterfragen und abwägen. Die Richtung ist klar. Die heimische und erneuerbare Stromproduktion muss prioritär und schnell ausgebaut werden. Nur so verringert sich die Abhängigkeit und Verletzlichkeit der Schweiz, und nur so kann eine sichere, erneuerbare Versorgung gewährleistet werden.

Text: Nadine Brauchli, Bereichsleiterin Energie beim VSE

Nadine Brauchli über die VSE Roadmap