Die Industrie ist der Politik um Längen voraus

Die Fachtagung Elektromobilität vom 22. November 2022 eröffnete den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Rundumschau zu Themen um die Gegenwart und die Zukunft der Mobilität. Dass dieser Gegenstand von grossem Interesse ist, belegte der volle Saal im Trafo in Baden: Rund 120 Interessierte und Referenten wohnten der von VSE und ETH Zürich gemeinsam organisierten Veranstaltung bei.
25.11.2022
Elektromobilität Ladestation

Nach der Begrüssung durch Michael Paulus, Bereichsleiter Netze und Geschäftsleitungsmitglied beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE, zeigte Christoph Schreyer, Leiter Energieeffizienter Verkehr beim Bundesamt für Energie BFE, aus der Sicht des Bundes auf, welche Rolle die Elektromobilität für die Schweizer Energie- und Klimapolitik spielt und spielen wird. Aktuell sei der Verkehr der grösste Energieverbraucher überhaupt. «2021 entfielen 32 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in der Schweiz auf den Verkehr.» Aber aktuell seien bloss 0,38 Prozent des Stromverbrauchs in der Schweiz auf den Strassenverkehr zurückzuführen. Dieser Wert werde sich in Zukunft stark erhöhen, prognostizierte Christoph Schreyer.

Die Gründe dafür seien weniger politisch-regulatorische Vorgaben wie beispielsweise die Schweizerische Energie- und Klimastrategie oder Programme wie «Fit for 55» der EU, sondern schlicht die Absichten der meisten Autohersteller, bis Mitte der nächsten Dekade gar keine Verbrenner mehr auf den Markt zu bringen. Die Industrie ist der Politik in dieser Frage also weit voraus. Peter de Haan, Leiter Geschäftsbereich Ressourcen, Energie + Klima bei EBP Schweiz, stellte mögliche Szenarien über die Entwicklung der Elektro- und Hydro-Mobilität in der Schweiz vor. Mittels einer Modellierung bis auf Ebene Gemeinde zeigte er, welchen Druck die Elektrifizierung des Verkehrs auf das Verteilnetz ausübt und wie das Bedürfnis nach Ladestationen beantwortet werden muss.

Bidirektionales Laden

In einem Block zum Thema bidirektionales Laden referierten Martin Stadie von Honda R&D (Research & Development) in Offenbach, Christoph Woodtli von der Energie Thun AG sowie ETH-Doktorandin Christine Gschwendtner. Die Nutzung der Energie aus den grossen Batterien in Elektrofahrzeugen beispielsweise für den Verbrauch in Gebäuden ist eine wichtige Anwendung. Honda führt dazu grossangelegte Versuche mit den Fahrzeugen, welche die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung stellen, durch. Das Potenzial für den Energiebezug aus der Batterie eines Elektrofahrzeugs, das den ganzen Tag auf einem Parkplatz oder in der Garage steht, sei offensichtlich, und zwar gleichermassen für Vehicle to Home, Vehicle to Building oder Vehicle to Grid.

Damit solche Anwendungen möglich werden, muss das Netz entsprechend mit Intelligenz ausgestattet werden. «Wir brauchen smarte Prosumer, die miteinander kommunizieren und ihren Bedarf mitteilen», erklärte Christoph Woodtli, der nicht nur als Innovations- und Projektmanager bei Energie Thun arbeitet, sondern auch im Vorstand des Vereins Smart Grid Ready wirkt. Smart Grid Ready entwickelt und verbreitet ein anerkanntes und belastbares Label für ein intelligentes Netz. Christine Gschwendtner erläuterte den Anwesenden schliesslich ihre Erkenntnisse über das Ladeverhalten und die Faktoren, welche dieses beeinflussen. Dabei spielen die Routine und das Gewohnte eine grosse Rolle, aber auch Parameter wie die Topografie oder die Besiedelungsdichte haben über das entsprechende Mobilitätsverhalten einen indirekten Einfluss. Nicht ganz unerwartet ist der einzige tatsächlich wirksame Anreiz, der die Verbraucher zu einem netzdienlichem Ladeverhalten veranlasst, finanzieller Natur.

Michael Paulus: wie die Zeitenwende in der Mobilität gelingt

Ladestationen und Verteilnetze

Unter dem Thema Verteilnetzbetrieb mit Ladestationen erläuterte anschliessend Olivier Stössel, Leiter Netze und Sicherheit beim VSE, das VSE-Handbuch zum Anschluss von Ladestationen am Verteilnetz. Er betonte, dass die Verteilnetzbetreiber im Notfall, also wenn dem Netz aufgrund eines Übermasses an Ladevorgängen eine Überlastung drohe, das Netz über eine Lastreduktion schützen und die Versorgungssicherheit aufrechterhalten müssten. Gemeinsam mit den Verbänden aus Österreich und der Tschechischen Republik habe der VSE einen entsprechenden Prozess entwickelt, der vorderhand die Anforderungen erfülle und als Zwischenlösung fungiere, bis ein moderner Standard entwickelt werden könne.

Reinhard Nenning, Leiter Netzplanung und Power Quality bei Vorarlberger Energienetze, erlaubte den Anwesenden einen Blick über die Landesgrenzen hinaus nach Osten. Das österreichische Regierungsprogramm 2020 sieht als Ziele für 2030 unter anderem eine 30-prozentige E-Fahrzeug-Durchdringung im österreichischen Fuhrpark sowie eine Verachtfachung des PV-Bestandes gegenüber 2020 vor, wobei der Ausbau der E-Mobilität tendenziell die grössere Herausforderung für die Verteilnetze sei. Und für Reinhard Nenninger ist klar: «Ohne Hilfe des Gesetzgebers geht das nicht.» Denn, um diese Ziele zu erreichen, seien Massnahmen wie die Nutzung der Smart-Meter-Daten oder die Drosselung der PV-Einspeisung in bestimmten Fällen nötig.

Christian Schaffner, Direktor des Energy Science Center der ETH Zürich und Co-Gastgeber der Tagung, zeigte anschliessend, dass die Elektromobilität als Teil des Gesamtenergiesystems betrachtet werden müsse, was es dazu brauche und dass wir heute entscheiden müssten, wo wir in 20 bis 30 Jahren sein wollen.

Aus der Praxis

Mit einem Praxisbeispiel zu einem grossskaligen Smart-Meter-Rollout-Projekt im Kybunpark in St. Gallen, der Vorstellung des imposanten Multi-Energy-Hubs in Zug sowie einem Beispiel für die Integration von Elektromobilität in die Zielnetzplanung läuteten Reto Wullschleger, Customer Solutions E-Mobility bei Plug’n Roll, Roman Tschanz, Geschäftsführer Multi-Energie Zug AG, sowie Marcell Fieni, Ingenieur Netzentwicklung bei der BKW Energie AG, den Schlussspurt ein. Den Abschluss machten schliesslich Daniel Laager, Leiter E-Mobilität bei der Primeo Netz AG, sowie Silvan Rosser, Marktfeldleiter Elektromobilität bei EBP Schweiz AG. Mit einer exklusiven Vorschau auf die Rolle der Mobilität in der VSE «Energiezukunft 2050» servierten sie den Anwesenden zum Ende der Tagung noch einen veritablen Primeur.

Energieversorgung der Schweiz bis 2050
Energiezukunft 2050
Der VSE wird die vollständigen Resultate der richtungsweisenden «Energiezukunft 2050» am 13. Dezember 2022 kommunizieren. Sämtliche Informationen werden ab dann auch auf der Studien-Website abrufbar sein.