Elektromobilität: "Es braucht mehr Handlungsspielräume bei der Netztarifierung"

Der Verkehr versursacht den Löwenanteil der CO2-Emissionen. Für die gelingende Dekarbonisierung muss die Mobilität elektrifiziert werden. Was bedeutet das für die Ladeinfrastruktur und das Netz? Das Interview mit Michael Paulus, Bereichsleiter Netze und Berufsbildung.
21.09.2021

Michael Paulus, die hohe Zunahme der Steckerfahrzeuge in der Schweiz macht Mut. Die E-Mobilität scheint voll auf Kurs zu sein. Was braucht es noch?
Ja, inzwischen scheint es realistisch, dass über das Jahr 2021 gesehen jedes fünfte gekaufte Auto am Ende ein Steckerauto sein wird. Und mit dem Stromverteilnetz ist das «Tanknetz» für die Elektromobilität auch bereits vorhanden. Das Netz ist die Grundlage für den raschen Ausbau der Elektromobilität.

Wo drückt denn der Schuh?
Die meisten Ladestationen haben eine hohe bis sehr hohe Bezugsleistung. Für die erwartete grosse Anzahl von Ladestationen mit hohen Bezugsleistungen bei gleichzeitiger Nutzung ist das bestehende Verteilnetz aber nicht errichtet worden. Wenn die Kunden ihr Auto alle fast zur selben Zeit laden, zum Beispiel am Sonntagabend nach einem schönen Wochenende, dann kann es zu Überlastungen kommen. Die Ladeinfrastruktur muss daher effizient, zuverlässig und sicher in das bestehende Verteilnetz integriert werden.

Ist ein Ausbau der E-Mobilität also gar nicht möglich, ohne das Verteilnetz ans Limit zu bringen?
Doch, die Ausbauziele können erreicht und die Mobilitätsbedürfnisse der Autofahrer befriedigt werden, ohne die Netzstabilität zu gefährden. Für die überwiegende Zahl der Anwendungen, das «Laden daheim», ist es ausreichend, mit geringeren Bezugsleistungen und dafür länger zu laden. Die meisten Fahrzeuge müssen auch nicht täglich eine volle Batterie nachladen. Auch bei einer tiefen Ladeleistung von 3,7 kW haben die meisten Automobilisten in etwa zwei Stunden genug Energie für die alltäglichen Mobilitätsbedürfnisse geladen.

Das Laden kann sicher noch netzverträglicher umgesetzt werden...
Mit intelligenten Steuersystemen können Sie tatsächlich die Flexibilitäten der Ladestationen nutzen und Engpässe vermeiden. Damit der Netzbetreiber Anreize für netzverträgliches Laden setzen kann, braucht er aber einen geeigneten regulatorischen Rahmen – und eine Weiterentwicklung der Netztarifierung mit mehr Handlungsspielräumen. «Belohnt» würde dann etwa das Laden während Zeiten tieferer Netzbelastung – oder eben das langsame Laden. Übrigens: Privatpersonen legen im Schnitt in der Schweiz 38 Kilometer pro Tag zurück. Dafür müssen Sie Ihr Auto nicht sehr lange laden...

Was kann und muss der Verteilnetzbetreiber tun, um einen sicheren Netzbetrieb zu gewährleisten?
Zuerst einmal muss er dafür sorgen, dass es möglichst nie zu einer Überlastung der Netze kommt. Dies erreicht er vor allem mit neuen Tarifen, die geeignete Anreize setzen. Reicht das nicht, muss er Vereinbarungen mit Ladestationsbetreibern treffen, um die Ladeleistung bei Bedarf gegen Vergütung zu reduzieren. Kommt es dennoch zu einer Gefährdung des sicheren Netzbetriebs, muss der VNB die Ladestationen direkt beeinflussen können, um eine lokale Überlastung zu verhindern. Technische Vorschriften müssen eine solche Lastreduktion sicherstellen – deren Ausgestaltung bleibt den Ladestationsbetreibern und -anbietern überlassen. Darin unterscheiden sich Ladestationen nicht von anderen grösseren Verbrauchern wie Boiler oder Wärmepumpen, die schon seit Jahrzehnten zum Wohl der Netzsicherheit beeinflusst werden. Und natürlich muss der VNB den Ausbau der Elektromobilität bei seiner mittel- und langfristigen Netzplanung berücksichtigen.

Und was ist die Rolle des VSE in dem ganzen Gefüge?
Der VSE entwickelt technische Empfehlungen in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden. Zudem setzt er sich für die Harmonisierung der Bedingungen für die Integration der Ladestationen ein. Wir sagen: Strom ist der Treibstoff der Zukunft. Doch nur ein kontrollierter Anschluss von Ladestationen an das Verteilnetz gewährleistet die sichere Stromversorgung – und stellt den weiteren raschen Ausbau der Elektromobilität sicher.