Wilder Westen im Stromnetz?

Bei der Solarenergie herrscht im Moment fast schon Goldgräberstimmung. Aber ein zentrales Element fällt dabei wieder einmal unter den Tisch…
15.11.2022

Die Energiekrise hat das Parlament beflügelt. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion soll nun rassig vorwärtsgemacht werden. Nicht nur bei alpinen Solaranlagen, sondern auch beim Eigenverbrauch herrscht fast schon Goldgräberstimmung. Was dabei meist unter den Tisch fällt: Dafür braucht es das Stromnetz als Basis.

Das Netz muss so ausgelegt werden, dass es die maximale Belastung abdecken kann – auch wenn diese nur an wenigen Stunden im Jahr auftritt. Dezentrale Photovoltaik und Elektromobilität werden zu einer starken Zunahme solcher Lastspitzen führen. Um den Investitionsbedarf in den Netzausbau zu verringern, wäre es daher sinnvoll, Anreize für eine möglichst geringe Netzbelastung zu setzen. Doch dem steht das enge Regulierungskorsett aus dem letzten Jahrtausend entgegen. Unglaublich: Das Setzen von wirksamen Anreizen für eine möglichst sparsame und intelligente Nutzung des Netzes ist nicht erlaubt, für innovative Ansätze und die konstruktive Zusammenarbeit zwischen Netzbetreibern und Netznutzern besteht kaum Spielraum. Die Folge? Das Netz wird seine Rolle als Enabler der Energiewende nicht spielen können – oder nur zu horrenden Kosten für einen teilweise vermeidbaren Netzausbau.

Bei der Netztarifierung bewegt sich absolut nichts – so bleiben tarifliche Signale, die mithelfen, den kostspieligen Netzausbau so gering wie möglich zu halten, weiterhin Wunschdenken.

Eine Motion aus dem Nationalrat wollte daher endlich vorwärtsmachen und forderte eine weniger starre und dynamischer ausgerichtete Netztarifierung. Doch nun will die Energiekommission des Ständerats ausgerechnet diese von der grossen Kammer bereits angenommene Motion ad acta legen. Begründung? Das Anliegen sei bereits im Mantelerlass behandelt worden... Was für eine Fehleinschätzung! Denn bei der Netztarifierung bewegt sich absolut nichts – so bleiben tarifliche Signale, die zu einer Reduktion der Netzbelastung führen und mithelfen, den kostspieligen Netzausbau so gering wie möglich zu halten, weiterhin Wunschdenken.

Stattdessen wird das Netz als neues Eldorado missbraucht und es werden problematische Entwicklungen wie lokale Elektrizitätsgemeinschaften vorangetrieben, die keiner technischen Realität entsprechen und in der Umsetzung für alle Akteure hochkomplex sind. Fehlen dann auch weiterhin die überfälligen Instrumente wie eine zukunftsfähige Netztarifierung, werden im Stromnetz in Bälde Zustände wie im Wilden Westen herrschen.


Die politische Feder

Unter der Rubrik "Die politische Feder" veröffentlicht Dominique Martin, Bereichsleiter Public Affairs des VSE, regelmässig Kommentare und Einschätzungen zu energiepolitischen Themen.