Netzausbau: Es ist Zeit, aufzustehen

Der Umbau des Energiesystems kann nur gelingen, wenn das Stromnetz erneuert und ausgebaut wird. Noch stehen dieser Notwendigkeit aber einige regulatorische Hürden im Weg.
03.06.2022

Eine Viertelmillion Kilometer. So lang ist das gesamte Schweizer Stromnetz von Netz­ebene 1 bis 7, vom Grosskraftwerk bis in die Steckdosen in Schweizer Haushalten und Betrieben. 250 000  Kilometer entsprechen mehr als dem sechsfachen Erdumfang. Eine wahrlich lange Leitung, die im Gegensatz zur sprichwörtlichen «langen Leitung» Höchstleistungen ermöglicht und erbringt – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, immer. Dieses Netz ist zentral, damit die Schweiz funktioniert, damit ihre Stromversorgung sichergestellt wird. Schliesslich ist die moderne Gesellschaft auf Strom angewiesen: Das fängt beim Radiowecker am Morgen an, geht weiter über die Arbeit am Computer, an der Registrierkasse oder an der Bandsäge und endet abends vor dem Fernseher, beim Videoanruf bei Freunden oder beim – dank elektrischer Beleuchtung möglichen – Lesen eines Buchs bis spät in die Nacht hinein. Dass die Versorgung mit Strom zuverlässig funktioniert, ist die Aufgabe von Kraftwerk- und Netzbetreibern. Sie sorgen heute mit zentraler Produktion dafür, dass im Netz stets so viel Strom zur Verfügung steht, wie zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich gebraucht wird. 

Netz ist aber nicht gleich Netz. Im bisherigen, «traditionellen» Energiesystem quert der Strom von der Produktion beispielsweise im grossen Wasserkraftwerk in den Alpen bis zur Steckdose am Arbeitsplatz sieben Netzebenen. Vom Kraftwerk wird der Strom erst via Übertragungsnetz mit einer Spannung von 380 respektive 220  kV (der Netz­ebene  1) über drei Transformatoren-Ebenen sowie überregionale, regionale und lokale Verteilnetze schrittweise auf eine «handelsübliche» Spannung von 400 respektive 230  Volt transformiert. Das Übertragungsnetz und die Verteilnetze sind teilweise mehrere Jahrzehnte alt. Zwar war das Netz damals so konzipiert worden, dass es auch grösser werdende Lasten zu transportieren imstande ist. Dennoch gerät es langsam, aber sicher an seine Grenzen.

Verantwortlich dafür ist einerseits sein Alter. Rund zwei Drittel des Übertragungsnetzes wurden vor 1980 erstellt. Die Erneuerung und der Ausbau dieses Netzes sind dringend nötig. Aufgrund des mannigfaltigen Widerstands und der zahlreichen Einsprachemöglichkeiten kommen diese Projekte allerdings nur sehr langsam voran. Die 30  Kilometer lange Freileitung Chamoson-Chippis ist ein Paradebeispiel dafür. Sie soll zwar in diesem Sommer ans Netz gehen. Begonnen hatten die Planungen dafür jedoch 1986 (!). Zur Erinnerung: Diego Armando Maradona führte in jenem Jahr Argentinien zum vorerst letzten Fussballweltmeister-Titel, Michail Gorbatschow lancierte «Glasnost» und «Perestroika» und Status Quo waren «In the army now».

Zervreila-Staumauer im Kanton Graubünden
Zentral: Im bestehenden System produzieren grosse Kraftwerke (im Bild die Zervreila-Staumauer im Kanton Graubünden) Strom und speisen diesen ins Netz ein.

Die Dekarbonisierung braucht ein angepasstes Netz, damit sie überhaupt stattfinden kann

Doch nicht nur das Alter macht den Ausbau des bestehenden Netzes unabdingbar. Ein massiver Treiber ist auch der mit der Energiestrategie 2050 ausgerufene Umbau des Energiesystems. Die Energie der Zukunft soll nicht mehr aus fossilen oder nuklearen, sondern aus erneuerbaren Quellen – primär aus Wasser-, Solar- und Windkraft – gewonnen werden. Ergänzend zur überschaubaren Anzahl bestehender und neuer grosser Kraftwerke wird Strom künftig auch aus Tausenden dezentralen Produktionsanlagen ins Netz eingespeist. Das wird vor allem im Sommer, wenn all die geplanten Solaranlagen viel mehr Energie produzieren, als deren Betreiber vor Ort selbst verbrauchen können, zu einer grossen Herausforderung, weil das Netz von sehr vielen kleinen Anlagen gespeist wird. Darauf ist das bestehende Netz aber nicht ausgelegt. Es ist schlicht nicht in der Lage, ständig Einspeisungen von überallher zu «schlucken». Mit der angestrebten dezentralen Produktion werden diese Lastenflüsse so zahlreich, dass sie nicht mehr mit den bisherigen Mitteln zu bewältigen sind. Um diese zusätzlichen Lastenflüsse, vor allem von volatilem Strom, kontrollieren zu können, braucht es neue Technologie im Netz.

Nicht der maximale Netzausbau ist das Ziel, sondern das optimal ausgelegte Netz

Ideen, wie das Netz «aufgerüstet» werden könnte, damit es mit diesen neuen Anforderungen fertig wird, sind vorhanden. Dabei geht es aber keinesfalls um einen «Maximalausbau». Ein Netz, das auf theoretisch mögliche Spitzenlasten ausgelegt wird, wäre massiv überdimensioniert und wäre auch viel zu teuer. Stattdessen muss das Netz gezielt ausgebaut und verstärkt sowie mit technologischen Möglichkeiten für die neuen Anforderungen optimiert werden. Regelbare Ortsnetztransformatoren (Ront) ermöglichen beispielsweise, mehr Solarstrom ins Netz einzuspeisen, ohne die Netzspannung unzulässig zu beeinflussen. Nur mit intelligenten Steuerungen, welche Produktion und Nachfrage regeln können, kriegen Netzbetreiber die zu erwartenden Lastflüsse in den Griff. Dieses Vorgehen erlaubt einen Netzausbau, der sich auf den notwendigen Umfang beschränkt. Ein Muss ist allerdings auch eine Möglichkeit für den Netzbetreiber, bei einer drohenden Überlastung des Netzes eingreifen zu können.

Zugegeben, im ersten Moment hört sich ein solcher Abschaltmechanismus nach Bevormundung der Stromverbraucher an. Ein solches Instrument kann aber nur eine Ultima Ratio sein, die entsprechend nicht einfach so eingesetzt würde. Kein Stromversorger will schliesslich seinen Kunden leichtfertig den lebenswichtigen Saft abdrehen. Sowieso erhalten die Verbraucher im neuen Netz eine gänzlich andere Bedeutung als bisher, weil sie eben nicht mehr ausschliesslich Verbraucher sind, sondern auch Produzenten. Ihr Verbrauchsverhalten wirkt sich auf den Betrieb des Netzes aus, während ihre Investitionen in die eigene Produktionsanlage Auswirkungen auf die Dimensionierung des Netzes haben. Damit das neue Netz funktionieren kann, braucht es das Miteinander von Netzbetreibern und Prosumern.

Dezentral: Künftig produzieren neben den grossen Kraftwerken auch Tausende dezentrale Produktionsanlagen volatile Energie (vor allem Solar- und Windkraft) und speisen diese ins Netz ein.

Um all diese Massnahmen effizient und innert nützlicher Frist umsetzen zu können, sind schlanke Bewilligungsverfahren und ein zukunftsorientierter Regulierungsrahmen nötig. Leider ist diese Botschaft noch lange nicht bei allen angekommen. So kommt dem Netz in politischen Diskussionen meist eine reine Statistenrolle zu. Die Anfang Jahr von Energieministerin Simonetta Sommaruga lancierte «Beschleunigunsvorlage», welche kürzere Bewilligungsverfahren für Infrastrukturprojekte zum Ziel hat, fokussiert beispielsweise auf grosse Energieprojekte. Das Netz findet darin kaum Beachtung. Zusätzlich wirkt die Netzregulierung eher als Hemmschuh denn als Treiber von Innovation und Förderin der Energiewende.

Viele Projekte sind momentan blockiert

Wäre es aus ökologischer Sicht nicht so tragisch, man müsste – aufgrund des langsamen Netzausbaus – beinahe froh darüber sein, dass der nötige Zubau von grossen, aber auch kleinen Produktionsanlagen für Energie aus erneuerbaren Quellen harzt und lange nicht in dem Tempo vorwärtskommt, das angedacht und angesichts des ungebremst voranschreitenden Klimawandels auch dringend nötig wäre. Paradoxerweise sind es in der Hauptsache Umwelt- und Landschaftsschutzverbände, welche zahlreiche Projekte für grosse Produktionsanlagen von erneuerbarer Energie (beispielsweise hochalpine Solaranlagen, Windkraftanlagen oder Staumauer-Erhöhungen respektive -Neubauten) blockieren, also jene Kreise, die zu grossen Teilen als Treiber der Schweizer Klima- und Energiestrategie wirken.

Traurigerweise könnte ausgerechnet der Krieg Russlands gegen die Ukraine dieser Diskussion wieder mehr Schub verleihen. Weil sich viele europäische Staaten von Russlands fossiler Energie emanzipieren wollen, kommen sie nicht darum herum, möglichst schnell dezentrale Produktionsanlagen für erneuerbare Energie zuzubauen. Der steigende Bedarf nach «grünem» Strom, der zu einem wesentlichen Teil auf der Elektromobilität und der Wärmeerzeugung beruht, wird weiter zunehmen. Mehr Produktionsanlagen bedeutet mehr Lastenflüsse im Netz. Der Druck auf die Netze wird daher sehr schnell zunehmen.

Ausbau: Das bestehende Netz ist jedoch nicht für diese zusätzlichen Lastenflüsse ausgelegt und muss daher aufgerüstet und ausgebaut werden.

Es gibt noch sehr viel zu tun

Die Schweiz hinkt momentan sowohl bei der Modernisierung des Netzes als auch beim Ausbau der Produktion aus erneuerbarer Energie weit hinter den eigenen Ansprüchen hinterher. Um das Energiesystem erfolgreich umzubauen und den künftigen Anforderungen entsprechend zu gestalten, müssen sich die Beteiligten in beiden Fragen bewegen. Am Verzicht auf Energie aus fossilen Energiequellen führt aus ökologischer Sicht kein Weg vorbei. Anders sind die ambitionierten Klimaziele des Bundes auch gar nicht erreichbar. Damit aber der künftig erneuerbare Strom von den vielen dezentralen Produktionsanlagen auch an den Ort gelangt, wo er jeweils benötigt wird, ist ein modernes Netz, das den Anforderungen an ein umgebautes Energiesystem gerecht wird, Grundvoraussetzung.

Auf einem Bein steht sich schlecht. Diese Erfahrung macht jedes Kleinkind, das erstmals aufzustehen und zu gehen lernt. Auch das Kind «Energiewende» wird nur vorwärtskommen, wenn es sicher auf zwei starken Beinen steht: der erneuerbaren Stromproduktion und einem zukunftsfähigen Netz. Fünf Jahre nach der Annahme der Energiestrategie an der Urne wäre es langsam an der Zeit, dass es endlich aufstehen kann...