Das müssen Sie wissen
- Dass die Schweiz mit der EU keine Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Strombereich hat, verursacht gravierende Systemrisiken, die sich schon heute negativ auf die Versorgungssicherheit auswirken und Mehrkosten auslösen.
- Die Schweiz ist im Winter auf Stromimporte angewiesen. Bereits ab 2025 drohen einschneidende Einschränkungen für die Importfähigkeit der Schweiz.
- Die «Energiezukunft 2050» des VSE zeigt wissenschaftlich auf: Ein enger Energieaustausch mit Europa zusammen mit einem konsequenten Ausbau aller erneuerbaren Energien würde beste Voraussetzungen schaffen, um die Energie- und Klimaziele bis 2050 zu erreichen und um die Stromversorgung resilienter und diversifizierter zu machen.
- Der Bund befindet sich in Sondierungsgesprächen mit der EU, die zu einem neuen Verhandlungsmandat und später zu einem Stromabkommen führen könnten.
- Von einem Stromabkommen erwartet der VSE einen klaren Nutzen. Eine geregelte Zusammenarbeit mit der EU soll der Schweiz Zugang zur europäischen Energieinfrastruktur und zu künftigen Märkten (u.a. Wasserstoff) verschaffen, Versorgungsrisiken und Mehrkosten reduzieren sowie mehr Souveränität über das Übertragungsnetz geben.
Die geografische Lage im Herzen Europas macht die Schweiz zu einer Drehscheibe für den Strom. Sie hat 41 Verbindungspunkte zu ihren Nachbarn – mehr als jedes andere Land auf der Welt – und ist ein wichtiges Transitland, insbesondere für Italien. Der Strom, der jedes Jahr durch unser Stromnetz fliesst, übersteigt unseren Landesverbrauch.
Obwohl die Schweiz das europäische Verbundnetz durch den «Stern von Laufenburg» mitbegründet hat, kann sie nicht mehr gleichberechtigt an verschiedenen Marktplattformen teilnehmen und wird von gewissen Handelsmärkten und wichtigen Gremien ganz ausgeschlossen. Der Grund dafür liegt in der bis dato fehlenden Regelung der Zusammenarbeit mit EU im Energiebereich. Während die EU den europäischen Strombinnenmarkt laufend stärkt und weiterentwickelt, werden «Drittstaaten» immer stärker ausgeschlossen. Die Stromzusammenarbeit Schweiz-EU erodiert zunehmend, was die Schweiz vor verschiedene versorgungsgefährdende Herausforderungen stellt und ihr Mehrkosten beschert.
Gefährdung der Netzstabilität
Ohne geregelte Zusammenarbeit mit der EU ist die Stabilität des Stromnetzes gefährdet (immer mehr ungeplante Flüsse durch die Schweiz; Wartungsarbeiten an den Netzen, die aufgrund der hohen Netzbelastung nicht durchgeführt werden können). Obwohl das Schweizer Übertragungsnetz ein integraler Bestandteil des europäischen Verbundnetzes ist, entgleitet es zunehmend der Hoheit der Schweizer Akteure. Um es stabil halten zu können, müssen immer häufiger Massnahmen ergriffen werden, die auch zu massiven Mehrkosten führen. Oft muss aus Gründen der Netzstabilität auf die wertvolle Schweizer Wasserkraft zurückgegriffen werden, deren Reserven dadurch allenfalls Ende des Winters fehlen. Die anhaltende Energiekrise und das damit verbundene erhöhte Risiko eines Strommangels verdeutlicht, wie wertvoll die Kapazitäten der Stauseen für die Winterversorgung sind.
Keine gleichberechtigte Teilnahme an den Energiemärkte
Ohne geregelte Zusammenarbeit mit der EU kann die Schweiz nicht mehr gleichberechtigt an verschiedenen Marktplattformen teilnehmen und wird von gewissen Handelsmärkten ganz ausgeschlossen. Das verwehrt auch eine gleichberechtigte Teilnahme am Day-Ahead-Markt, am Intraday-Markt sowie am Regelenergiemarkt. Zudem werden Herkunftsnachweise (HKN) in der EU nicht mehr anerkannt.
Negative Auswirkungen auf die Importfähigkeit, …
Die fehlende Stromkooperation mit unseren Nachbarn wirkt sich auch negativ auf die Importfähigkeit unseres Landes aus. Die Schweiz weist seit jeher im Winter ein strukturelles Stromversorgungsdefizit auf. Das heisst, sie produziert selbst zu wenig, um den Verbrauch im Winter zu decken, und ist daher auf Energieimporte angewiesen. Die Winterstromproblematik wird durch den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie und die Elektrifizierung von Mobilität, Wärme und Industrie, welche im Rahmen der Dekarbonisierung eine zentrale Rolle spielt, weiter akzentuiert. Die Schweiz wird in Zukunft im Winterhalbjahr mehr Strom aus den Nachbarländern importieren müssen, wie die Studie «Energiezukunft 2050» des VSE zeigt. Im offensiv-integrierten Szenario steigt die Importabhängigkeit im Winter von heute 3 TWh auf 7 TWh, im Szenario defensiv-isoliert müssen 9 TWh Winterstrom importiert werden.
... die sich ab 2025 zusätzlich verschärfen dürften
Eine hohe Importabhängigkeit ist aufgrund von Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung der Produktionskapazitäten in den Nachbarländern sowie der verfügbaren Grenzkapazitäten riskant. Gemäss einer neuen EU-Regel müssen ab 2025 mindestens 70% der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten in der EU für den Stromhandel innerhalb der EU freigehalten werden. Das könnte die Importfähigkeit der Schweiz zusätzlich einschränken und sich negativ auf ihre Netzstabilität auswirken.
Studien belegen den Wert eines Stromabkommens
Die im Herbst 2021 veröffentlichte «Frontier-Studie» im Auftrag des Bundesamts für Energie und der ElCom, die die Strombranche inhaltlich unterstützte, befasst sich ausführlich mit den Auswirkungen der fehlenden Kooperation mit der EU im Strombereich. Die Studie kommt zum Schluss, dass ohne Kooperation eine Gefährdung der Versorgung sowie beträchtliche wirtschaftliche Einbussen zu erwarten sind. Die anschliessende Grafik zeigt dies eindrücklich:

Auch die vom VSE gemeinsam mit der Empa erarbeitete und Ende 2022 publizierte Studie «Energiezukunft 2050» zeigt deutlich, dass eine enge Energiekooperation mit der EU (neben einer hohen Akzeptanz für neue Energieinfrastrukturen) beste Voraussetzungen für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Energie- und Klimaziele schafft. Und dies erst noch zu den geringsten Kosten.
- Im offensiv-integrierten Szenario sind die jährlichen Systemkosten mit rund 24 Mia. CHF am tiefsten. Im Gegensatz dazu betragen die Kosten im Szenario «defensiv-isoliert» rund 28 Mia. CHF/Jahr.
- Die Schweiz wird in Zukunft im Winterhalbjahr mehr Strom aus den Nachbarländern importieren müssen. Im offensiv-integrierten Szenario steigt die Importabhängigkeit im Winter von heute 3 TWh auf 7 TWh, im Szenario «defensiv-isoliert» müssen 9 TWh Winterstrom importiert werden.
- Hinzu kommt auch künftig Wasserstoff, der eine mögliche tragende Säule der Energieversorgung im Winter ab 2040 werden kann. Wasserstoff wird hauptsächlich importiert werden. Dafür ist ein möglichst ungehinderter Zugang zu ausländischen Wasserstoffmärkten und -Infrastruktur eine Voraussetzung.
Geregelte Zusammenarbeit für mehr Versorgungssicherheit
Wie zuvor ausgeführt, verursacht die fehlende Stromkooperation gravierende Systemrisiken. Sie wirkt sich zunehmend negativ auf die Versorgungssicherheit der Schweiz aus (Gefährdung der Netzstabilität sowie der Importfähigkeit) und führt auch zu zunehmenden Mehrkosten für die Schweizer Stromkonsumentinnen und Stromkonsumenten. Darum ist eine geregelte Zusammenarbeit mit der EU im Strom-, idealerweise im Energiebereich unter Einbezug von Wasserstoff anzustreben. Dies würde die Schweizer Energieversorgung diversifizierter und damit resilienter machen. Studien wie die «Energiezukunft 2050» des VSE zeigen die Vorteile einer engen Stromkooperation mit der EU wissenschaftlich auf.
Neben einer engen Stromkooperation mit der EU müssen zwingend auch Massnahmen im Inland umgesetzt werden, um die Versorgungssicherheit zu stärken. Dazu gehören: massiver Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion mit besonderem Fokus auf die Winterstromproduktion; erhebliche Steigerung der Effizienz; fokussierter Aus- und Umbau der Stromnetze.
Positionen VSE
- Eine enge Energiekooperation mit der EU schafft zusammen mit einer hohen Akzeptanz für neue Energieinfrastrukturen die beste Voraussetzung für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Energie- und Klimaziele.
- Die Anbindung an die europäischen Energietransportinfrastrukturen sowie der Zugang zu den europäischen Märkten müssen sichergestellt sein (Strom und Wasserstoff): Versorgung differenzieren, Stromimporte absichern, Nothilfe in Krisensituation ermöglichen.
- Versorgungsrisiken und Mehrkosten gilt es zu reduzieren. Eine enge Zusammenarbeit ermöglicht volkswirtschaftliche Vorteile im Sinne von Opportunitäten für Konsumenten und Produzenten.
- Eine geregelte Zusammenarbeit stärkt die Souveränität der Schweiz über das Übertragungsnetz und erhöht die Stabilität des Stromnetzes.
- Technische Zusammenarbeit und Marktzugang müssen voneinander getrennt werden.
- Internationale privatrechtliche Verträge zum Verbundbetrieb sind auf Dauer kein Ersatz für ein bilaterales Abkommen Schweiz-EU.
- Der VSE erwartet von einem Stromabkommen einen klaren Nutzen mit Blick auf die Nachteile, wie sie heute ohne Vereinbarung bestehen (Kosten und Risiken für die Netz- und Systemstabilität sowie für die Versorgungssicherheit).
- Einige offene Fragen gilt es zu klären, u.a. hinsichtlich der Konditionen einer allfälligen vollständigen Strommarktöffnung oder der Auswirkungen einer dynamischen Rechtsübernahme. Eine abschliessende Beurteilung kann erst bei Vorliegen eines Stromabkommens vorgenommen werden.
Stand der Dinge: Bundesrat führt Sondierungsgespräche mit der EU
In den letzten Jahren sind die Verhandlungen über ein Stromabkommen wegen der nach wie vor ungelösten institutionellen Fragen in den Hintergrund gedrängt worden. Der Bundesrat führte verschiedene Sondierungsgespräche und verabschiedete im Juni 2023 Eckwerte für ein neues Verhandlungsmandat, dessen Verabschiedung per Ende 2023 in Aussicht gestellt wird. Der Bundesrat verfolgt dabei neu einen sektoralen Ansatz. Die eigentlichen Verhandlungen über verschiedene Dossiers, darunter über ein Stromabkommen, könnten ab 2024 aufgenommen werden.