Wer zu spät kommt…

Nachrichtenlose Vermögen, Bankgeheimnis... und jetzt auch noch Stromversorgung und Europapolitik?
12.09.2022

Die Liste der Dossiers, bei welchen die Schweiz erst kurz vor dem Absturz erwacht, hat offensichtlich neue Anwärter. Dabei hätte man es bei der Stromversorgung schon lange wissen müssen. Schon kurz nach der Annahme der Energiestrategie 2050 warnten mehrere Stimmen, dass der Ausbau der Erneuerbaren in der Schweiz viel schneller erfolgen müsse. So war beispielsweise im Mai 2019 an dieser Stelle von der Notwendigkeit, die vorherrschenden Blockaden zu durchbrechen, zu lesen. Der Ukraine-Krieg hat diese Dringlichkeit lediglich noch verschärft.

Dass die eminente Bedeutung einer sicheren Stromversorgung mittlerweile überall angekommen ist und sich eine angeregte Debatte um die zu ergreifenden Massnahmen entfacht hat, ist sicher zu begrüssen. Angesichts der immer zahlreicheren seltsamen Blüten, die das langsam ausser Kontrolle geratene Ideen-Jekami treibt, wähnt man sich indes zuweilen im falschen Film.

Es ist zu hoffen, dass die entscheidenden Akteure sowohl in Bern als auch in Brüssel nicht mehr lange zuwarten, um ihren ideologischen Ballast endlich über Bord zu werfen.

So wollen Marktprediger, welche jahrelang auf dem freien Markt in den Genuss von Tiefst-Strompreisen kamen, nun plötzlich wieder unter die Fittiche des Monopols kriechen. Andere liebäugeln damit, angebliche «Übergewinne» von Stromfirmen abzuschöpfen und umzuverteilen - notabene nachdem sie jahrelang grosszügig über die «Überverluste» derselben Firmen hinweg geschaut haben. Oscarverdächtig in der Kategorie «Absurdes» ist der Vorschlag, die für die Netzerneuerung benötigten Mittel zusammenzustreichen – als ob eine zuverlässige Stromversorgung ohne die entsprechenden Investitionen in ein zukunftsfähiges Netz möglich wäre.

Im grotesken Kontrast zur Panik bei der Stromversorgung versinkt die Schweizer Europapolitik nach dem Kurzschluss-Entscheid vom Mai 2021 in Agonie. Es ist zu hoffen, dass die entscheidenden Akteure sowohl in Bern als auch in Brüssel nicht mehr lange zuwarten, um ihren ideologischen Ballast endlich über Bord zu werfen und den Weg zu einer gemeinsamen, konstruktiven und zukunftsfähigen Lösung zu finden. Denn ohne Lösung im Stromdossier droht die im Februar 2020 an dieser Stelle zitierte tickende Uhr zu einer Zeitbombe zu werden.

Ob in Versorgungs- oder Beziehungsfragen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.


Die politische Feder

Unter der Rubrik "Die politische Feder" veröffentlicht Dominique Martin, Bereichsleiter Public Affairs des VSE, regelmässig Kommentare und Einschätzungen zu energiepolitischen Themen.