Am 23. Mai 2024 wurdest Du zum VSE Präsidenten gewählt. Wie sind Deine Eindrücke nach neun Monaten in diesem Amt?
Martin Schwab: Mich beeindrucken die Qualität und der Umfang der vielfältigen Aufgaben, die die Mitglieder der Kommissionen und Arbeitsgruppen sowie die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle des VSE leisten. Die Branche lebt davon, dass einzelne Mitglieder ihr Knowhow und Ressourcen zur Verfügung stellen und sich einbringen. Die schiere Menge an Arbeiten hat mich aber schon überrascht, und umso grösser ist der Respekt gegenüber denjenigen, die ihre Zeit in diesen Gremien für die Strombranche einsetzen.
Was stand für Dich zu Beginn der Amtszeit an erster Stelle?
Viele Gespräche zu führen mit verschiedensten Akteuren und Gruppierungen in unserer Branche und der Energiewirtschaft, aber auch mit Politikerinnen und Politikern und Vertreterinnen und Vertreter der Behörden. Dieser Austausch, wie zum Beispiel an der Betriebsleitertagung des VSE in der Deutsch- und Westschweiz, gibt mir persönlich sehr viel – und ist auch enorm wichtig für einen durchsetzungsstarken Auftritt der Branche. Denn wir müssen wissen, wo wir stehen und wie wir unsere Ziele – nämlich die Energiezukunft der Schweiz aktiv mitzugestalten – erreichen wollen.

Das Stromgesetz wurde letzten Juni mit grosser Mehrheit angenommen. Löst es unsere Versorgungsprobleme?
Das Stromgesetz ist ein extrem wichtiger Schritt. Jetzt müssen wir vorwärts machen und all diese Wasser-, Wind- und Solarprojekte umsetzen. Da sind wir gefordert. Leider stellen wir nach wie vor fest, dass es massiven Widerstand gibt, vor allem gegenüber den 16 Wasserkraftprojekten und der Windkraft. Die Folge sind jahrelange Blockaden und Verfahren. Diesen Stillstand können wir uns nicht weiter leisten. Aber auch wenn wir die Erneuerbaren gemäss Stromgesetz ausbauen können, bleiben Herausforderungen. Laut unserer aktualisierten Studie «Energiezukunft 2050» werden wir im Winter zusätzliche Stromproduktion und flexible Reservekraftwerke benötigten.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?
Erstens: Die Ausbauziele im Stromgesetz erreichen und ein Stromabkommen mit der EU abschliessen ist für die zukünftige Versorgungssicherheit entscheidend. Zweitens: Im Winter braucht es zusätzliche Stromproduktion. Aus Systemsicht zu favorisieren wäre ein starker Ausbau der Windkraft. Flexibel einsetzbare Gaskraftwerke braucht es aber sowieso. Drittens: Die Überschüsse im Sommer müssen sinnvoll genutzt werden. Speicher und zusätzliche Flexibilitäten werden eine zentrale Rolle spielen. Es ist aber davon auszugehen, dass in einigen Jahren die Einspeisung aus Solaranlagen im Sommer zweitweise begrenzt werden muss. Dies, da das Netz den Überschuss an nicht lokal verbrauchtem Strom gar nicht mehr aufnehmen kann. Viertens: Die Netzkosten werden steigen. Der Kostenanstieg kann aber mit Massnahmen wie der Einspeisebegrenzung stark gedämpft werden.
«Mit den aktuellen Prozessen und Strukturen können wir kaum mehr Energieinfrastrukturen bauen.»
Bleiben wir bei den Netzen. Der VSE fordert schon lange eine Beschleunigung der Verfahren. Stellen die Vorlagen des Bundes hier die richtigen Weichen – auch für die Verteilnetze?
Vorab eine Anekdote. Ich kenne einen Anwalt in einem grossen Stromunternehmen, der mit 25 Jahren ein Netz-Projekt übernommen hat und dieses 40 Jahre später anlässlich seiner Pensionierung seinem Nachfolger übergeben musste. Solche Projektlaufzeiten sind nicht tragbar. Die Vorlagen des Bundes bringen Verbesserungen bei den Übertragungsnetzen, bringen aber nur wenig Fortschritt für die Verteilnetze. Da erhoffe ich mir Einiges mehr. Mehr Schub bringen würde, wenn wir unbestrittene Netz-Vorhaben nachträglich bewilligen lassen und Trafo-Stationen auch ausserhalb der Bauzone errichten können.
Was bedeutet die Senkung der Kapitalrendite für Investitionen in die Energieinfrastruktur für den Netzausbau?
Diese WACC-Senkung steht komplett quer in der Landschaft und ist nicht sachlich, sondern politisch motiviert. Die meisten Stromunternehmen reinvestieren die Rendite zu grossen Teilen und zum Teil darüber hinaus in den Unterhalt und Ausbau der Netze. Durch die Senkung der Rendite ist das benötigte Kapital für den Netzausbau nun nicht mehr in dem Ausmass vorhanden, und viele EVU haben gar keine Chance, die nötigen Summen anderweitig am Kapitalmarkt zu beschaffen. Das bremst den Netzausbau ein und schadet zum Beispiel auch der Solarenergie, weil es länger dauern kann, bis Private ihre Anlagen in Betrieb nehmen können.
Und wie steht es um die Finanzierung für den Ausbau der Stromproduktion?
Die Fördersysteme müssen auf die Produktion im Winter ausgelegt werden. Denn im Sommer haben wir durch den rasanten Zubau der Solarenergie schon heute tendenziell zu viel Produktion. Wie für den Netzausbau gilt auch für Produktionsanlagen, dass Investitionen dann attraktiv sind, wenn Produktionsanlagen in vernünftiger Zeit umgesetzt und wirtschaftlich betrieben werden können. Die Basis dafür sind geeignete, stabile Rahmen- und Finanzierungsbedingungen, Anreize und zügigere Bewilligungsverfahren.

Erreichen wir Letzteres mit dem Beschleunigungserlass?
Wenn wir die Verfahren damit nur schon um ein paar Jahre, zum Beispiel von 15 auf 10, verkürzen können, wäre das ein Fortschritt. Das wird aber nicht genügen, um den steigenden Strombedarf bis 2050 – das ist bereits in 25 Jahren – zu decken. Ich bin ein grosser Anhänger von Subsidiarität und Föderalismus und man muss unseren partizipativen System Sorge tragen. Doch mit den aktuellen Prozessen und Strukturen können wir kaum mehr Energieinfrastrukturen bauen. Das ist die Realität, und diesen Zielkonflikt müssen wir lösen. Entweder wir schaffen es, in einem vernünftigen politischen und rechtlichen Prozess Wasser-, Wind- und Solarprojekte von übergeordnetem Interesse mit mehr Tempo zu bauen, oder wir werden in einigen Jahren wieder vor einem äusserst unangenehmen Entscheid stehen und Kraftwerke per Notrecht bauen müssen – wie vor 2 Jahren in Birr.
Von grosser Bedeutung ist laut VSE Studie auch ein Stromabkommen mit der EU. Inwiefern?
Mit einem Stromabkommen würde die Schweiz über mehr Kapazitäten für Importe und Exporte verfügen, was mehr Handelsmöglichkeiten für die Stromversorgung eröffnet und diese insgesamt resilienter, sicherer und stabiler macht. Die Stromversorgung wird dadurch günstiger, weil die Kosten für Systemdienstleistungen und der Bedarf nach teuren Stromreserven im Inland sinken.
Trotzdem gibt es auch kritische Stimmen, insbesondere gegenüber der Marktöffnung…
Ich bin der Meinung, dass die Auswirkungen der Marktöffnung auf die Kunden und die EVU überschätzt werden. Das zeigt zumindest der Blick ins benachbarte Ausland. Der grosse Umbruch blieb aus. Nichtsdestotrotz müssen wir den kritischen Stimmen bei der Umsetzung der Marktöffnung Rechnung tragen. Da sind wir gefordert, breit getragene Lösungen zu finden. Letztlich ist mehr Wahlfreiheit etwas Positives und etwas, das wir von Versicherungen, Handy-Abos und vielen anderen Dienstleistungen kennen. Daher bin ich sicher, dass wir die Vorteile eines Stromabkommens und der Marktöffnung plausibel erklären können.