«Versorgungssicherheit ist die Benchmark unseres Schaffens»

Die rekordhohen Energiepreise und der Ukrainekrieg stellen viele EVUs vor enorme Herausforderungen. Gefordert sind in dieser Situation insbesondere deren Steuerungsorgane, etwa der Verwaltungsrat. An der VR-Tagung des VSE konnten sich Verwaltungsratsmitglieder untereinander austauschen und Inputs von Expertinnen und Experten aus der Energiebranche abholen.
10.06.2022
Eröffnen die VR-Tagung des VSE: Direktor Michael Frank (l.) und Ivo Schillig, Geschäftsführer Stiftung AlpEnForCe.

Das Selbstverständliche sei nicht mehr selbstverständlich. Mit dieser Aussage setzt Michael Frank gleich zu Beginn den Ton der VR-Tagung 2022, die sich primär an Verwaltungsratsmitglieder aus der Energiebranche richtet, um ihnen ein Update über die wichtigsten Themenbereiche der Branche zu vermitteln. Die gespielte Note passt zum wechselhaften Wetter an jenem Juni-Tag in Zürich. Es sei die Zeit der «bösen Überraschungen», fährt der VSE Direktor fort. Zu diesen gehören das Scheitern des Rahmenabkommens Ende Mai letzten Jahres, die vom Bund im Herbst präsentierte Frontier-Studie, die vor gravierenden Versorgungsengpässen ab 2025 warnt, und natürlich die Covid-19-Pandemie sowie der Ukrainekrieg.

Die Versorgungssicherheit, und vor allem ihr Wert, ist durch diese Entwicklungen ins Zentrum gerückt, wie eine Analyse von gfs.bern im Auftrag des VSE bestätigt. Die Mehrheit ist bereit, wenn nötig für die Versorgungssicherheit Abstriche beim Umweltschutz und Beschwerderechten zu akzeptieren. Michael Frank wertet das Ergebnis als klaren Auftrag an alle involvierten Akteurinnen und Akteure, Prinzipien zu überdenken und Kompromissbereitschaft zu erhöhen. «Wir stehen am energiepolitischen Scheideweg und müssen jetzt Verantwortung übernehmen. Versorgungssicherheit ist die Benchmark unseres Schaffens.»

Einheitliche Spielregeln für die grösste «menschengemachte Maschine»

Nachdem Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, den russischen Angriffskrieg eingeordnet und dessen Auswirkungen auf die europäische Energieversorgung erläutert hat, zählt Jörg Spicker (Swissgrid) auf, was im Sinne der Versorgungssicherheit zu tun sei. Die To-Do-Liste ist seit Langem bekannt: Anreize zum Ausbau und Erhalt der inländischen erneuerbaren Stromproduktion setzen, Bewilligungsverfahren beschleunigen und damit den Ausbau von Produktionsanlagen und Netzinfrastruktur deblockieren sowie strategische Reserven für Engpässe schaffen. Spicker betonte insbesondere auch die Notwendigkeit eines Stromabkommens, damit das Schweizer Stromnetz, das eng mit der grössten «menschengemachten Maschine», nämlich dem europäischen Stromsystem, weiterhin zuverlässig und konstant funktionieren kann. Strom kenne keine Grenzen, erklärt der Physiker, weshalb es gemeinsame Spielregeln und deren Einhaltung für alle brauche. Ohne Stromabkommen werde die Schweiz sukzessive ausgeschlossen, wodurch der Systemstress zunehme.

Save the date

Die nächste VR-Tagung findet am 14. Juni 2023 statt (zur Anmeldung).

Paradigmenwechsel mit Risiken, aber auch Chancen

Was bedeuten diese energiepolitischen Entwicklungen für die strategische Führung eines EVU? Insbesondere die rekordhohen Energiepreise hätten zu einem Paradigmenwechsel geführt, meinte Phyllis Scholl, Partnerin bei Baryon und selbst Verwaltungsrätin verschiedener EVU. Nach Jahren der Preisstabilität müsse man den Ernst der Lage erkennen und bereit sein, Veränderungen stattfinden zu lassen. Ein Verwaltungsratsmitglied müsse sich nun verstärkt mit der gesamten Wertschöpfungskette auseinandersetzen und Risiken, vor allem aber auch Chancen identifizieren. Es sei keine neue Erkenntnis, dass EVUs in einem sogenannten VUCA-Umfeld (volatil, unsicher, komplex, unvorhersehbar) handeln. Markus Menz, Professor für Strategisches Management an der Universität Genf, referiert über die Strategie- und Kontrollfunktionen des Verwaltungsrats und die Hebel, die ihm zur Verfügung stehen, um Krisensituationen zu meistern. Ein solcher Hebel bestehe etwa bei der Zusammensetzung des VR. So wirken etwa «relevante» Expertise (professionelle Qualifikation) sowie die Präsenz weiblicher Verwaltungsratsmitglieder positiv auf Strategie- und Kontrollfunktionen.

Branchenempfehlung
Data Policy in der Energiebranche
Die überarbeitete Data Policy dient als Empfehlung für einen branchenweiten, geordneten und rechtskonformen Umgang mit Daten für die Energiebranche. Sie ist konform mit dem revidierten Datenschutzgesetz, das am 1. September 2023 in Kraft tritt.

Cybersicherheit: Zunehmend auch Sache des VR

Mit der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung steigt die Gefahr von Cyberattacken, die immer professioneller und systematischer werden. In Cybersicherheitsfragen trage die Schweiz im europäischen Vergleich, spezifisch aber auch der Stromsektor die rote Laterne, wie Florian Muff (BDO AG) anhand einer entsprechenden Erhebung des Bundesamts für Energie von 2021 illustriert. Cybersicherheitsfragen seien darum zunehmend auch Sache von Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten. Zurecht, findet Juristin Michéle Balthasar. Das Riskmanagement in dieser Angelegenheit auszugestalten sei eine unübertragbare Aufgabe des Verwaltungsrates. Dazu zählen laut Balthasar das Festlegen der Organisation und die Zuweisung entsprechender Rollen, aber auch die Erarbeitung einer Data Policy und Massnahmen zum Datenschutz. Dies sei im Hinblick auf das neue, per September 2023 in Kraft tretende Datenschutzgesetz sowieso notwendig, das diverse Neuerungen, Verschärfungen und Pflichten nach sich zieht.