Im Zweifelsfall lieber Fakten als Dogmen

Stromkongress, 16./17. Januar 2020, Bern
Referat Michael Wider, Präsident VSE
16.01.2020
Stromkongress 2020

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich begrüsse Sie ganz herzlich zum Stromkongress 2020. Zum dritten Mal darf ich das Einführungsreferat halten. Das Jahr 2020 ist für den VSE ein Spezielles. Der Verband wird 125-jährig. 1895 gründeten in Aarau die 16 bedeutsamsten Schweizer Werke den VSE, um Normen festzulegen und die gemeinsamen Interessen der Elektrizitätswirtschaft zu wahren. Dieser Auftrag gilt auch 125 Jahre später noch.

Jubiläen haben es in sich. Man soll und darf stolz sein auf Vergangenes. Zukunft braucht Herkunft, auf Tradition und Erreichtes darf man bauen. Doch die Musik für die Strombranche spielt eindeutig in der Zukunft. Wir müssen sie jetzt gestalten und auf ihr soll unser Hauptaugenmerk liegen.

Das VSE-Jubiläum fällt auf den Beginn eines neuen Jahrzehnts. Was wird uns dieses bringen, weltpolitisch, klimapolitisch, energiepolitisch, strompolitisch, unternehmerisch, persönlich?

Natürlich weiss ich das nicht. Aber ich weiss, welche Themen mir für diese nächste Dekade und deren Herausforderungen prägend scheinen. Es sind vier.

1. Themenbereich: Der Prozess der Transformation

Der Physiker und Chemiker Antoine Lavoisier hat im 18. Jahrhundert in Paris gelebt und ist unter anderem der Entdecker des Wasserstoffes H und des Sauerstoffs O. Denn Lavoisier gelang sowohl die Zerlegung wie auch die Synthese von Wasser, kurz H2O. Er hat aber auch etwas Mächtiges gesagt, das bereits Philosophen wie Anaxagoras – zugegebener Weise etwas weniger bekannt – in der griechischen Antike erkannten: «rien ne se crée, rien ne se perd, tout se transforme». Nichts entsteht, nichts verliert sich, alles wandelt sich.

Diese Aussage aus dem Munde eines Physikers und Chemikers ist mit den Herausforderungen der Klima-, Energie- und Stromthematik wahrer denn je. Ob fossile Energieträger, Kernkraft, Wasser, Sonne, Wind, Erdwärme, seltene Erden, Rohstoffe jeglicher Art: Wir wandeln Bestehendes in Neues und Anderes um. 

Es läge jedoch auch in unserer Hand, zu bestimmen, wie schnell, wie intelligent, wie respektvoll wir die Prozesse der Transformation vorantreiben – dies bei allen Energieträgern und Energieumwandlern – wenn Sie mir diesen Ausdruck erlauben! Wir wissen heute, dass wir dies in der Vergangenheit oft weder mit genügend Respekt noch mit genügender Intelligenz getan haben.

So suchen wir zum Beispiel heute verzweifelt CO2-Speicher. Die Grössten sind jedoch schon da. Neben den Weltmeeren und Wäldern sind Öl und Gasreserven die mächtigsten Speicher. Doch wir wissen alle: Das Problem ist das Tempo und die Intensität, mit der wir CO2 in die Atmosphäre entlassen – und die Tendenz ist weltweit nicht ermutigend.

Lavoisiers Erkenntnis ermahnt uns, unsere derzeitig – nach meinem Geschmack – zu grosse Euphorie für Dogmen zu zügeln. Die Patentlösung haben wir in der Praxis nicht. Tout se transforme. Es wird ein Zusammenspiel von verschiedenen Lösungsansätzen brauchen. Diese müssen sich nicht nur energiepolitisch durchsetzen können, sondern auch wirtschaftlich.

Idealerweise ist die vielzitierte, schwierige Kreislaufwirtschaft anzustreben. Denn sie ist ein regeneratives System, in dem Ressourceneinsatz und Abfallproduktion, Emissionen und Energieverbrauch durch Verlangsamen, Verringern und Schliessen von Energie- und Materialkreisläufen minimiert werden.

2. Themenbereich: Strom und andere Energiebereiche rücken näher zusammen

Im Kontext des eben erwähnten Zusammenspiels rücken Strom und Energie allgemein enger zusammen. Wir wissen, dass Strom in der Schweiz rund 25% des Gesamtenergieverbrauchs ausmacht, europaweit und weltweit verhält es sich ähnlich. Die Suche nach Lösungen für die so wichtigen Klimafragen etabliert neue, grössere Schnittstellen zwischen den verschiedenen Energieformen. Die Interdependenzen verstärken sich. So werden gerade im Endkundenmarkt die Energieträger und die Energieanwendungen sich vermehrt koppeln. Die Sektorkopplung und Digitalisierung werden diese Interdependenzen akzentuieren und optimieren idealerweise unseren Energieverbrauch.

Unsere Bestrebungen, den Klimawandel zu begrenzen, namentlich mittels Reduktion der CO2 Emissionen, wird zudem zu einer vermehrten Elektrifizierung führen.

Was heisst das für uns? Meines Erachtens vor allem zwei Dinge:

  1. Trotz Effizienzmassnahmen wird der Stromverbrauch steigen. Dieser Strom muss auf die beste Art produziert werden, also emissionsneutral oder gar emissionsfrei.
  2. Verbände und Unternehmen werden sich breiter aufstellen müssen. Das vom Kunden gewünschte Angebot wird ein gebündeltes sein, in dem möglicherweise der Strom gar nicht mehr der Hauptdarsteller sein wird.

3. Themenbereich: Was kann die Schweiz denn tun?

Die Schweiz ist kein sehr grosses Land. Wir streben eine vorbildliche Energiepolitik an. Zu Recht. Aber wieso? Wir werden den weltweiten Tendenzen, die zum Teil nichts Gutes verheissen, nicht Einhalt gebieten können. Der Energieverbrauch wird, wie erwähnt, weiter steigen und zum grossen Teil mit fossilen Energieträgern abgedeckt werden. Wieso sollten wir also so streng sein mit uns selber, habe ich mich gefragt. Für mich gibt es drei Antworten auf diese Frage:

Erstens haben wir eine Beispielfunktion: Ich finde es nur richtig, dass sich ein so gut entwickeltes Wohlstandsland wie die Schweiz als Vorreiterin und Pionierin die besten Lösungen sucht für eine verantwortungsvolle Energiepolitik. Verantwortungsvoll heisst: energie- und klimatechnisch nachhaltig, aber dabei auch wirtschaftlich.

Zweitens ist es für einen Staat – wie für ein Unternehmen auch – richtig und wichtig, gefällte Entscheide konsequent, nicht blind, umzusetzen. Nur so kommt man vorwärts.

Und drittens müssen wir unser Innovationspotenzial nutzen. Es war für mich ermutigend, Herrn Prof. Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich, Ende letzten Jahres zuhören. Hengartner erläuterte, dass die Schweiz nach wie vor zu den absolut führenden Nationen der Welt in den Bereichen Entwicklung und Forschung sowie Innovation gehört. Dieses Potenzial müssen wir zwingend auch für Energie und Klimafragen einsetzen.

4. Themenbereich: Die Dreiecksgeschichte

Wir bewegen uns derzeit in einem spannungsgeladenen Dreieck der Energiepolitik. Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit/Klima und Wirtschaftlichkeit sind dessen Eckpunkte, die sich nicht immer gut vertragen.

Die letzten 15 Jahre waren geprägt vom Versuch, Wirtschaftlichkeit über den Markt – also Angebot und Nachfrage – zu erlangen. Dieser Versuch war nur teilweise, nämlich im Kurzfristbereich, von Erfolg gekrönt. Mittel- und langfristig vermochte der Energy-Only-Markt kaum Impulse zu geben, kaum Akzente zu setzen.

Aber gerade dort, im Mittel- und Langfristbereich, finden wir die Herausforderungen der Versorgungssicherheit und der Nachhaltigkeit. Wollen wir diese Qualitäten sicherstellen, geht das nicht oder nicht alleine mit Markt. Privilegieren wir die Nachhaltigkeit, können wir dann auch die Versorgungssicherheit sicherstellen? Wir müssen unsere Prioritäten immer im Bewusstsein setzen, dass wir uns in einem Trilemma aus Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit befinden. Änderungen an einer Dimension haben immer Auswirkungen auf die zwei anderen Dimensionen. Die Energiewirtschaft ist ein Feld komplexer Interdependenzen.

Alle Verantwortlichen der Umsetzung von nationalen Energiestrategien – Politik und Marktakteure – kommen nicht umhin, diese drei zum Teil antagonistischen Dimensionen zu priorisieren – oder sich zumindest der folgenschweren Interaktionen ihrer Eingriffe bewusst zu sein.

Handeln wir unüberlegt, kommt das den Kunden sehr teuer zu stehen. In Deutschland, für einmal ein schlechtes Beispiel, bezahlt der Haushaltskunde mittlerweile den dreifachen Kilowattstundenpreis, verglichen mit dem Jahr 2000.

Diese vier Themen und die damit verbundenen Fragen werden uns in den nächsten Jahren prägen und fordern, davon bin ich überzeugt. Und wenn ich auf diese Zukunft blicke, würde ich mir vier Dinge wünschen. 

Ich hoffe, Sie gestehen mir anlässlich des 125. Geburtstags des VSE die folgenden vier Wünsche zu.

Wunsch 1

Eben habe ich erwähnt, wie gut die Schweiz weltweit in Bezug auf Innovation positioniert ist. Was für die Schweiz gilt, ist für unsere Branche nicht so evident. Wir, die Strombranche, zählen leider nicht zu den Industriezweigen der Schweiz, die mit grosser Dynamik Innovationen vorantreiben.

Ich weiss, einzelne Initiativen sind im Tun und die Zusammenarbeit mit Hochschulen findet statt. Trotzdem, proportional gemessen an der Wertschöpfung, sind wir noch verhalten unterwegs.

Anwendungsfelder gibt es genug: von technischen Entwicklungen bis hin zu neuartigen Geschäftsmodellen. Wir können nur gewinnen. Ich wünsche mir für die Unternehmen und den Verband noch mehr Initiative und Offenheit, auch für Neues. Dies auch oder gerade weil wir alle zumindest halböffentliche Unternehmen vertreten. Ein offener Markt schafft zudem gute Rahmenbedingungen für Innovationen.

Wunsch 2

Energie- und klimapolitisch sind unsere Herausforderungen gross, interdisziplinär herausfordernd und sehr komplex. Ich wünsche mir weniger Dogmen und Behauptungen, denn sie werden uns die Lösungen nicht bringen. Nur der wissenschaftliche Ansatz, die Vollkostenrechnung, der Einbezug physikalischer Grundsätze und die Transparenz werden uns die Richtung weisen. Wir sollten uns an diesen Fakten orientieren.

Wunsch 3

Die magische Zahl der Politik ist 50,01%. Ohne diese geht es nicht weiter und nichts bewegt sich. Trotzdem hat sich meines Erachtens die Politik – und sie legt am Ende des Tages die Rahmenbedingen fest – in den letzten Jahren von einer gesunden Sachpolitik mehr und mehr entfernt. In den Medien und Debatten geht es vielfach nur darum, Gewinner und Verlierer zu schaffen, selber viel zu sprechen und dabei nicht zuzuhören. Es wird personen- und nicht sachbezogen argumentiert. Ja, das alles gehört zum politischen Spiel. Die Gewichtung stimmt aber nicht mehr.

Unsere Bundespräsidentin, Frau Bundesrätin Sommaruga, wird prioritär viel anderes zu tun haben...ich erlaube mir aber den Wunsch, dass sie sich der beschriebenen Tendenz entgegensetzt, weil sie die Persönlichkeit und die Kraft dazu hat.

Wunsch 4

Und schliesslich ist mein letzter Wunsch ein Wunsch in eigener Sache. Ich wünsche mir, dass wir mit den Mitgliedern des Verbandes, den Kommissionsmitgliedern, Vorstandsmitgliedern, dem Management und den Mitarbeitenden die notwendige Energie aufbringen, einen oder zwei Schritte zurückzustehen, um gesamtheitliche, übergeordnete Lösungen zu finden, die für die Kunden, die Gesellschaft und unser Land verantwortungsvoll, mutig, nachhaltig und zukunftsgerichtet sind. Dies nebst allen unternehmerischen Zwängen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen interessanten Stromkongress!