So sieht das Schweizer Energiesystem bis 2050 aus

Wie erreicht die Schweiz ihre Energie- und Klimaziele? Mit der «Energiezukunft 2050» zeigt der VSE realistische Optionen, wie klimaneutrale Energiesicherheit bis 2050 erreicht wird. Die Resultate sprechen eine deutliche Sprache: Das offensiv-integrierte Szenario schafft das robusteste Energiesystem.

Versorgungssicherheit bei der Energie ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Geschichte des Umbaus des Energiesystems und damit auch des Klimaschutzes ist eine der (zu) kleinen, zähen Schritte, und nicht jene der inspirierten, grossen Würfe. Um die Energie- und Klimaziele zu erreichen, braucht es massive Anstrengungen. Zu diesem Schluss kommt die «Energiezukunft 2050» – die Studie des VSE in Zusammenarbeit mit der Empa, die Wege in die Energie- und Klimazukunft der Schweiz zeigt.

Der «Energiezukunft 2050» liegt eine Simulation des Gesamtenergiesystems bis 2050 zugrunde. Daraus resultieren vier Szenarien entlang zweier Dimensionen, welche mit heutiger Technologie umsetzbar sind und die Versorgung sowie die Klimaneutralität sicherstellen. Das Modell schlägt folglich nur Lösungen vor, die Versorgungssicherheit garantieren, und mit denen die Klimaziele erreicht werden. Je nach Ausprägungen der beiden Dimensionen entscheidet es sich für die jeweils kostengünstigste Variante.

Die massgebenden Dimensionen, welche die Szenarien prägen, sind zwei: Zum einen die inländische Akzeptanz für neue Energieinfrastruktur, sprich, wie offen Politik und Gesellschaft gegenüber dem Ausbau neuer Energieinfrastruktur sind (defensiver vs. offensiver Ausbau). Zum anderen das energiepolitische Verhältnis der Schweiz zu Europa, also, wie eng die Kooperation der Schweiz mit der EU im Energiebereich ist (isoliert vs. Integriert). So skizziert das Modell keine unrealistische Punktlandung, sondern schafft einen Lösungsraum, indem sich die Schweiz bewegt. Je nachdem, welchen Weg wir einschlagen, sieht die Energiezukunft anders aus und verändern sich die Voraussetzungen und Konsequenzen für die Entwicklung des Energiesystems.

Lösungsraum aufgeteilt in vier Quadranten und den respräsentativen Szenarien in der «Energiezukunft 2050».

Für die Modellierung des Energiesystems bis 2050 arbeitete der VSE eng mit der Empa und der Branche zusammen. Insgesamt leisteten rund 70 Personen aus Branche und Wissenschaft wichtige Beiträge zum Projekt. Das Modell der Empa nutzt alle verfügbaren Technologien und berücksichtigt zusätzlich – das unterscheidet die «Energiezukunft 2050» von anderen Studien und Analysen – alle Sektoren (Mobilität, Wärme und Stromversorgung) sowie die umliegenden Länder.

Systemoptimierendes Modell in stündlicher Auflösung

Methodisch verfolgt die Studie den Ansatz, die jeweilige Nachfrage zu den geringstmöglichen Systemkosten zu decken. Dabei rechnet das Modell mit einem deterministischen Ansatz in stündlicher Auflösung die Kapazitäten und Energieflüsse des Energiesystems von heute sowie für die Jahre 2030, 2040 und 2050. Das Modell berücksichtigt alle Energiebezüger wie Haushalte, Gewerbe, Dienstleistung, Industrie und Mobilität sowie alle relevanten Energieträger wie Elektrizität, Wärme (Heizen und Kühlen) und Gase.

Für die Nachbarländer der Schweiz und den Rest von Europa wurde deren Strominfrastruktur mit den steuerbaren Anlagen und grenzüberschreitenden Netzkapazitäten im Modell berücksichtigt. Dieses erarbeitete, ganzheitliche Energiesystemmodell erlaubt fundierte Ansagen bezüglich des technischen Ausbaus, der Systemkosten und der CO2-Emissionen.

Der massive Produktionsausbau und die Elektrifizierung von Verkehr und Wärme bedingen einen Um- und Ausbau der Stromnetze, gerade auch auf den unteren Netzebenen. Die Resultate, wie sich der Netzausbau entwickeln wird, sind in diesem Bericht noch nicht enthalten und werden 2023 in einer separaten Studie veröffentlicht.

Produktion-Nachfrage-Lücke am kleinsten im offensiv-integrierten Szenario

Die Nachfrage nach Strom wird in allen Szenarien markant zunehmen, von heute 65 TWh auf 80 TWh (+25%) bei offensiven bzw. auf 90 TWh (+40%) bei defensiven Szenarien. Dieser Anstieg ist leicht grösser als in den Szenarien der Energieperspektiven 2050+ (EP2050+) des Bundes, die im Basisszenario von rund 76 TWh Stromnachfrage ausgehen. Der Grund für die Abweichung von 5 TWh (+6%) Strombedarf 2050 gegenüber den Annahmen der EP2050+ sind realistischere Berechnungsmethoden für den zukünftigen Strombedarf der Mobilität, Wärme und neuen Verbrauchern wie Rechenzentren sowie die Wirkung der Effizienzmassnahmen. Letztere dämpfen zwar die Zunahme der Nachfrage, vor allem in den offensiven Szenarien, trotzdem resultiert insgesamt ein starker Anstieg des Strombedarfs.

Gleichzeitig werden von der heutigen Produktion Kapazitäten im Umfang von 23 TWh bis 2050 stillgelegt, hauptsächlich weil die Kernkraftwerke nach einer Betriebsdauer von 60 Jahren vom Netz genommen werden. Somit entsteht eine Lücke zwischen Nachfrage und Produktion, die im Szenario «offensiv-integriert» rund 37 TWh beträgt (siehe folgende Abbildung). Im Szenario «defensiv-isoliert» vergrössert sich die Lücke auf 47 TWh aufgrund von weniger wirksamen Effizienzmassnahmen.

Nachfrageanstieg Elektrizität im Szenario «offensiv-integriert» bei gleichzeitigem Rückgang der heutigen Produktion zeigt einen Ausbaubedarf im Umfang von rund 37 TWh bis 2050.

Gesamtenergieverbrauch sinkt wegen Elektrifizierung und Effizienz

Heute verbraucht die Schweiz jährlich rund 200 TWh Endenergie aller Art. Davon sind rund 60% fossil und somit nicht erneuerbar. Die Dekarbonisierung des Energiesystems bedeutet, dass fossile Energieträger bis 2050 praktisch vollständig durch Elektrizität und andere erneuerbare Energieträger ersetzt werden. Tatsächlich steigt im Szenario «offensiv-integriert» der Endenergiebedarf von heute 58 auf 73 TWh bis 2050. Weil elektrische Systeme i.d.R. effizienter sind als fossile, sinkt gleichzeitig der jährliche Gesamtenergieverbrauch um 25% von 200 auf rund 150 TWh.

Die Hauptreiber des Strombedarfs- aber auch der Effizienzgewinne sind Mobilität und Wärmeanwendungen. Die Mobilität wird von heute primär fossil auf elektrisch umgestellt und verursacht einen Anstieg des Strombedarfs, reduziert jedoch Benzin und Diesel überproportional. Die Wärmeanwendungen für Heizungen, Kühlungen und industrielle Prozesse werden zukünftig zu einem hohen Anteil mittels elektrisch betriebener Wärmepumpen anstelle von Heizöl- oder Gasheizungen bereitgestellt. Auch hier resultiert ein Strombedarfsanstieg, welcher jedoch durch den Rückgang des Heizöl- und Erdgasimports mehrfach kompensiert wird. Der Grund dafür liegt in den massiv höheren Wirkungsgraden der Wärmepumpen, welche Umweltwärme im grossen Ausmass nutzen. Zusätzlich wird der Raumwärmebedarf aufgrund der Effizienzsteigerung durch Gebäudesanierung reduziert.

Im Beispielszenario «offensiv-integriert» sinkt der gesamte Endenergieverbrauch von über 200 TWh/a um rund 25% auf rund 150 TWh/a. Bei den anderen Szenarien liegt die Spanne zwischen 160 TWh/a («defensiv-integriert») und 140 TWh/a («offensiv-isoliert»).

Robusteste und resilienteste Energieversorgung im offensiv-integrierten Szenario

Wer die vier Szenarien miteinander vergleicht, erkennt, dass eine hohe Akzeptanz (offensiver Ausbau) für neue Energieinfrastruktur und eine enge Energiekooperation mit der EU beste Voraussetzungen für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Energie- und Klimaziele schafft – und dies zu den geringsten Kosten. Im offensiv-integrierten Szenario sind die jährlichen Systemkosten mit rund 24 Mia. CHF am tiefsten und die Stromimportabhängigkeit im Winter mit rund 7 TWh (19% des Bedarfs Winterhalbjahr) ebenfalls relativ gering. Im Gegensatz dazu betragen die Kosten im defensiv-isolierten Szenario rund 28 Mia. CHF und die Importabhängigkeit beim Strom beträgt rund 9 TWh (22% des Bedarfs Winterhalbjahr). Insgesamt schafft das offensiv-integrierte Szenario für die Schweiz die robusteste Energieversorgung.

Monatliche Darstellung aller Szenarien, Stromerzeugung.

Die Photovoltaik spielt in allen vier Szenarien eine wichtige bis sehr wichtige Rolle. Insbesondere in den defensiven Szenarien stellt sie die einzige Möglichkeit unter den möglichen Technologien dar, um im grossen Massstab zusätzlichen inländischen Strom zu produzieren. Entsprechend ist die jährliche PV-Produktion bei den defensiven Szenarien im Jahr 2050 höher, d.h. rund 28 TWh gegenüber 16 TWh. In den offensiven Szenarien wird die Photovoltaik ab 2040 zunehmend durch Wasserstoff-GuD ergänzt und der Zubau von PV stagniert ab 2040. Beim Szenario «offensiv-integriert» resultiert aufgrund der Abregelung sogar ein leichter Rückgang der aus Photovoltaik erzeugten Elektrizität von 16,7 TWh im Jahr 2040 auf 16,1 TWh im Jahr 2050. Weil PV hauptsächlich dezentral zugebaut wird, kommt dem Aus- und Umbau der Verteilnetze eine kritische Rolle zu.

Alpine PV und Windkraft sind für die Winterstromproduktion in den offensiven Szenarien unerlässlich. Alpine Photovoltaik (2 TWh/a) und Windkraft (3 TWh/a) leisten einen äquivalenten Beitrag im Energiesystem und werden in allen offensiven Szenarien eingesetzt. In den defensiven Szenarien kann alpine Photovoltaik nicht und Windkraft nur minimal zugebaut werden.

Die Wasserkraft bleibt die tragende Säule im schweizerischen Energiesystem. Sie wird in allen Szenarien mit rund 35 TWh die Stromerzeugung dominieren. In den offensiven Szenarien können rund 2 TWh Wasserspeicher zugebaut werden, was die Wintersicherheit des Energiesystems erhöht.

Monatliche Darstellung aller Szenarien, Stromverbrauch (REF) und Strombedarf (2030, 2040 und 2050).

Die Schweiz bleibt Stromimporteurin

Die Schweiz bleibt in allen Szenarien im Winter Stromimportland und im Sommer Exportland. Diese Situation akzentuiert sich mit dem Umbau des Energiesystems. Im Winter wird neben dem Strom auch Wasserstoff importiert, um die Wasserkraft und PV mit thermischen Kraftwerken (H2/Gas) zu ergänzen. Im Sommer wird Strom aus Wasserkraft und PV exportiert. Der Netto-Stromimport variiert je nach Szenario und Jahr zwischen 1 und 11 TWh. Eine tiefe Importabhängigkeit beim Strom, d.h. der tiefste jährliche Netto-Import (rund 1 TWh), kann im Szenario «offensiv-integriert» am kostengünstigsten gewährleistet werden. Andere Szenarien, speziell defensive Szenarien, benötigen höhere Nettoimporte, vor allem im Winter, weil die inländische Produktion die Nachfrage weniger gut decken kann.

Die Schweiz importiert im offensiv-integrierten Szenario wie bis anhin im Winter viel Strom aus Frankreich. Der Stromaustausch mit Deutschland und Frankreich bleibt in allen Szenarien sehr wichtig. Bei den integrierten Szenarien ist der Stromaustausch dynamischer und Stromspitzen können direkt ausgeglichen werden. Bei den isolierten Szenarien werden die Austauschkapazitäten ausgeschöpft, jedoch müssen die Stromspitzen vermehrt durch inländische, flexible Technologien (Pumpspeicher, GuD, Batterien, thermische Speicher) ausgeglichen werden. In den integrierten Szenarien werden die Austauschkapazitäten (NTC) 45/134 zwischen der EU und Schweiz nicht ausgeschöpft und schaffen zusätzliche Möglichkeiten, um die Versorgungssicherheit im Bedarfsfall zu erhöhen.

Importmuster pro Szenario, jeweils REF bis 2050. Die Begrenzungen (Linien) zeigen die maximal möglichen Importkapazitäten (Net Transfer Capacity, NTC).

Wasserstoff kann zu einem essenziellen Element der schweizerischen Energieversorgung werden

Der Import von grünem Wasserstoff über die entstehende europäische Wasserstoffinfrastruktur kann neben Wasserkraft und PV zu einer tragenden Säule der Energieversorgung im Winter werden. Im offensiv-integrierten Szenario liefern mit Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke ganzjährig rund 13 TWh Elektrizität , davon 9 TWh im Winter, und decken damit rund 20% des Winterbedarfs.

Die inländische Elektrolyse spielt aus Kostengründen eine untergeordnete Rolle und wird hauptsächlich in der Umbauphase um 2040 oder nach 2050 im defensiv-isolierten Szenario eingesetzt (rund 1 –1,5 TWh). Aufgrund der hohen Kosten wurde in keinem Szenario inländisch produzierter oder importierter Wasserstoff in der Schweiz gespeichert. Insofern wird beim Wasserstoff eine neue Importabhängigkeit entstehen. Diese Abhängigkeit wird im Vergleich zum heutigen Gas- und Stromimport jedoch deutlich reduziert, d.h. von heute rund 40 TWh Erdgas- auf 27 TWh H2-Import. Wasserstoff wird in Zukunft global gehandelt und die Diversifizierung über verschiedene Lieferketten und Einspeisepunkte dürften eine sichere Versorgung ermöglichen.

Der Zubau neuer nuklearen Technologien der vierten Generation, wie Small-Modular-Reactors (SMR), ist mit Blick auf eine starke europäische Wasserstoffinfrastruktur und -wirtschaft («H2-Backbone EU») nicht wirtschaftlich, weil die mit Wasserstoff betriebenen Gaskraftwerke den Bedarf flexibler und günstiger decken können.

Keine vollständige Dekarbonisierung des Energiesektors ohne Negativ-Emissions-Technologien

Die Schweiz emittiert heute im Energiebereich rund 35 Megatonnen (Mt) äquivalente CO2-Emissionen pro Jahr. Diese direkten CO2-Emissionen müssen entweder eliminiert oder aus der Atmosphäre abgeschieden werden. Der Ersatz fossiler Brenn-/Treibstoffe erfolgt bis 2050 nahezu vollständig, um die Schweizer Energie- und Klimaziele zu erreichen (Modellannahme für alle Szenarien). Ein Energiesystem ohne fossile Energieträger ist in allen Szenarien technisch möglich. Der Energiesektor lässt sich jedoch ohne Negativ-Emissions-Technologien (NET), insbesondere CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS18), nicht vollständig dekarbonisieren. Die Restemissionen durch die Erzeugung von Strom und Wärme aus Abfällen im Umfang von jährlich rund 2,6 Mt CO2 werden weiterhin emittiert. Diese Restmenge ist in allen Szenarien praktisch identisch.

Entwicklung der CO2-Emissionen des Energiesystems der Schweiz. Die Gesamtemissionen (inkl. nicht-energetischer Treibhausgasemissionen) betrugen in der Schweiz 2018 rund 46 Mt CO2-.eq.

Richtschnur für Politik, Gesellschaft und Branche

In der Energie- und Klimapolitik stehen wichtige Weichenstellungen an. Die «Energiezukunft 2050» soll der Politik, aber auch der Branche und Gesellschaft als Richtschnur dienen. Sie illustriert anschaulich, welche Optionen wir für unsere Energie- und Klimazukunft haben. Die Resultate zeigen, dass «weiter wie bisher» keine Option ist, sondern grösste Anstrengungen notwendig sind. Denn ohne massiv beschleunigten Zubau und massive Steigerung der Effizienz, fokussierten Um- und Ausbau der Netze sowie einem engen Energieaustausch mit Europa erreichen wir die Energie- und Klimaziele nicht. «Mit dieser Studie leistet die Branche einen kompetenten und wissenschaftlich fundierten Beitrag in die energiepolitische Diskussion und zur Weiterentwicklung unseres Energiesystems», sagt VSE Direktor Michael Frank.