Stromabkommen – Gemeinsam geht es einfacher

Der Bundesrat hat die Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union (EU) verabschiedet. Sie bilden die Basis für die weiteren Gespräche mit der EU, und der Bundesrat wird sich bis Ende Jahr auf die Verabschiedung eines Verhandlungsmandates vorbereiten. Wie wird die Lage in Brüssel eingeschätzt? Christian Bühlmann, Botschaftsrat in der Mission der Schweiz bei der Europäischen Union, beantwortet unsere Fragen.
04.07.2023

Im Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen – und damit auch über ein Stromabkommen – mit der EU abgebrochen. Aus Sicht der Schweizer Strombranche wäre ein solches Abkommen aber sehr wichtig. Welche Haltung vertritt die EU in dieser Frage?

Das Abseitsstehen der Schweiz im EU-Strombinnenmarkt führt auch für die Nachbarstaaten und die EU zu einer Reihe von Problemen. Eine Teilnahme der Schweiz am EU-Strombinnenmarkt vereinfacht den Betrieb des europäischen Stromnetzes, reduziert die Kosten zur Sicherung der Stromversorgung und erleichtert die Umsetzung des European Green Deal sowie die notwendige Dekarbonisierung des Energiesystems bis 2050. Die EU-Kommission wünscht sich nach wie vor einen baldigen Abschluss eines Stromabkommens mit der Schweiz. Sie beharrt aber auf gewissen Prinzipien beispielsweise bei institutionellen Fragen oder beim Level Playing Field im Strombinnenmarkt. Ein Stromabkommen mit der Schweiz muss auch in der EU mehrheitsfähig sein.

Wie ist der Stand bei den Verhandlungen zu einem Stromabkommen? Wird überhaupt noch verhandelt, und ist ein Abschluss in Sicht?

Seit 2018 ruhen die Verhandlungen zum Stromabkommen mangels Fortschritten bei den übergeordneten, institutionellen Fragen und aufgrund der Beendigung der Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen im Jahr 2021. Nun sondiert die Schweiz mit der EU über eine gemeinsame Basis für Verhandlungen zum sogenannten breiten Paketansatz des Bundesrates. Dieser beinhaltet neben der Sicherung einer hindernisfreien Binnenmarktbeteiligung in den bisherigen Bereichen (Landverkehr, Luftverkehr, Wirtschaftsbeziehungen/gegenseitige Anerkennung von technischen Konformitätsbewertungen MRA, Personenfreizügigkeit, Landwirtschaft)  auch den Abschluss neuer Marktzugangsabkommen beim Strom und bei der Lebensmittelsicherheit, ein Kooperationsabkommen im Bereich Gesundheit und die systematische Teilnahme der Schweiz an künftigen EU-Programmen (zum Beispiel in der Forschung mit den Horizon-Folgeprogrammen). Sobald sich die Schweiz und die EU über diese Basis einig sind, können die Verhandlungen zum Stromabkommen wieder aufgenommen werden. Wie lange die Verhandlungen dauern werden, hängt von der Flexibilität sowie dem politischen Willen der Schweiz und der EU ab und lässt sich nicht zum Vornherein sagen.

In der EU hat sich seit 2018 viel getan, zum Beispiel mit dem Clean Energy Package oder mit Fit for 55. Droht der Schweiz die Übernahme zahlreicher EU-Regelungen auf einen Schlag?

Während die EU in den letzten 30 Jahren den integrierten Strombinnenmarkt etabliert und vervollständigt hat, stehen nun die Nachhaltigkeit des Energiesystems und der European Green Deal hoch oben auf der Agenda. Daran haben auch die Pandemie und der russische Krieg in der Ukraine nichts geändert. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz sind für die EU Lösung und nicht Ursache von Krisen. Im Jahr 2019 ist in der EU mit dem Clean Energy Package das sogenannte 4. Strombinnenmarktpaket in Kraft getreten. Nun diskutiert die EU über das Fit-for-55-Paket, über erneuerbare Gase und über die Stärkung der Resilienz des Strommarktes. In der EU ist seit 2018 tatsächlich viel passiert. Die Schweiz geht energie- und klimapolitisch mit der Energiestrategie 2050 und Klimaneutralität bis 2050 aber in die gleiche Richtung wie die EU. Vorläufige Analysen zeigen, dass die für die Schweiz heiklen Aspekte limitiert sind und ein Stromabkommen insgesamt im Interesse der Schweiz liegt.

Muss die vollständige Strommarktöffnung – als Bedingung für ein Abkommen – wieder auf den Tisch kommen? Und wäre das in der Schweiz überhaupt mehrheitsfähig?

Der EU-(Strom-)Binnenmarkt ist eine der zentralen Errungenschaften der EU. ACER, die EU-Agentur der Energieregulierungsbehörden, beziffert den Nutzen des integrierten Strombinnenmarktes auf 34 Mia. Euro pro Jahr. Die vollständige Strommarktöffnung wird in der EU notabene auch in der aktuellen Energiekrise nicht hinterfragt. Für ein Stromabkommen ist sie für die EU nach wie vor Conditio sine qua non. Der Bundesrat hat sich mit der Botschaft zum Mantelerlass für eine vollständige Strommarktöffnung ausgesprochen. Diese erhöht die Effizienz im Strommarkt, reduziert die Kosten der Stromversorgung und erleichtert die dringend notwendige Integration neuer erneuerbarer Energien. Eine Grundversorgung mit regulierten Stromtarifen für Haushalte ist auch gemäss EU-Recht zulässig. Die vollständige Strommarktöffnung verbunden mit einem Wahlrecht für kleine Endverbraucher, in der Grundversorgung zu verbleiben, hätte auch in der Schweiz positive Auswirkungen und eröffnet den Zugang zum EU-Strombinnenmarkt.

Wird auch die wichtige Frage der Anbindung an die Wasserstoff-Infrastruktur berücksichtigt?

Im Stromabkommen geht es um den gleichberechtigten Zugang zum EU-Strombinnenmarkt. Der EU-Wasserstoffbinnenmarkt ist erst in Entstehung begriffen, wird aber auf dem integrierten EU-Gasbinnenmarkt aufbauen. Eine Ausweitung des Stromabkommens auf weitere Energiethemen wäre in Zukunft durchaus denkbar. Hierfür wird es aber eine regulatorische Angleichung an den EU-Gasmarkt brauchen.

Wie stark ist die Strombranche in diese Verhandlungen integriert?

Die Strombranche ist von einem Stromabkommen natürlich stark betroffen und wird bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Verhandlungen im Rahmen der üblichen Prozesse konsultiert.

Wie lautet der Plan B, falls kein Stromabkommen zustandekommt?

Es gibt keinen Plan B. Die EU ist heute und in naher Zukunft nicht bereit, über Strommarktzugang à la carte oder über technische Abkommen zu verhandeln. Die Schweiz wird ohne Stromabkommen im europäischen Stromsystem weiter marginalisiert. Kosten und Risiken für den sicheren Netzbetrieb und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit, beispielsweise über teure Reservekraftwerke, werden weiter steigen.

Würden zusätzliche inländische Kapazitäten wie neue Kernkraftwerke die Verhandlungsposition der Schweiz stärken?

Nein. Die Absicherung des Stromaustauschs über ein Stromabkommen kann aber den Bau von teuren, inländischen Kapazitäten, die immer auch einen Eingriff in Landschaft und Umwelt mit sich ziehen, ersetzen. Nordsee-Wind in kalten Dezembernächten oder Photovoltaik in der italienischen Frühlingssonne ergänzt sich ganz gut mit der hochflexiblen aber nicht unendlich verfügbaren Schweizer Wasserkraft.