Netzstabilität: Was passiert, wenn die Schweiz zur Strominsel wird?

Insgesamt 41 Grenzleitungen verbinden unser Land mit dem europäischen Stromnetz. So viel «spannende Kontakte» hat kein anderes Land Europas. Doch was geschieht, wenn wir uns elektrisch vom Ausland abnabeln? Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht – im Swissgrid Simulation Center.
22.08.2019

Ein schlicht gehaltener Raum. Beiger Boden, graue Decke und zweckmässige runde Plastiklampen über den Arbeitsplätzen. Nichts im Swissgrid Simulation Center lässt vermuten, dass hier Situationen eintreten können, welche die Schweiz in ihren Grundfesten erschüttern. Nur virtuell zum Glück. Denn was da über jedem einzelnen Arbeitsplatz auf vier grossen Bildschirmen erscheint, ist die Schweizer Stromversorgung – in ihrer ganzen Vielfalt und inklusive aller Kraftwerke und Transformatoren. «Wir haben hier die 380 Kilovolt-Leitungen in Rot, die 220 Kilovolt-Leitungen in Grün», erklärt Georges Bossert, Principal Operations Engineer bei Swissgrid das Schweizer Starkstromnetz. Wie ein Nervenkostüm legen sich die zahlreichen Verbindungen über die Umrisse der kleinen Schweiz – und machen an keiner Grenze Halt. Es ist ein angenehmer Sommertag, 14 Uhr, und 1200 bis 1500 Megawatt Strom fliessen gerade nördlich aus der Schweiz heraus, zu unserem deutschen Nachbarn. Auch an der italienischen Grenze sieht es etwa so aus. Seit 30 Minuten steht die Exportbilanz bei stolzen 3000 Megawatt, ungefähr die Leistung von drei Limmern-Pumpspeicherwerken. Aus Frankreich und Österreich wird ein wenig Strom importiert. Die Schweiz kommt mehr als gut zurecht, sie verkauft gar Strom in grosser Menge. Ein idealer Tag, um sich vom Ausland abzunabeln und die Leitungen zu kappen, oder? «Das können wir gerne tun», antwortet Georges Bossert und gibt dem System den Befehl, alle Importe und Exporte einzustellen. Die Strom-Transitland Schweiz mit seinen 6700km Starkstromleitungen und 141 Schaltanlagen wird zur Strominsel – auf einen Schlag.

Der gerade noch stabile Herzschlag des Schweizer Hochspannungsnetzes kommt ins Stolpern.

Es passiert: Nichts. Die Netzfrequenz, die idealerweise genau 50 Hz beträgt, steigt zwar geringfügig an – denn unser Ausklinken hat das Schweizer Netz fürs Erste entlastet. Europa erlebt das Gegenteil: Die fehlenden Importe aus der Schweiz lassen die Frequenz im Verbundnetz etwas sinken. Nach einigen Sekunden haben sich beide Kurven wieder stabilisiert. Doch bereits nach fünf Minuten geschieht es: Der gerade noch stabile Herzschlag des Schweizer Hochspannungsnetzes kommt ins Stolpern. Wie ein fallender Stein zieht die Frequenzkurve plötzlich Richtung 49 Hertz. Der kleine Unterschied hat dramatische Konsequenzen. Wenn die Leitstelle jetzt nicht handelt und die Frequenz noch weiter fällt – werden Verbraucher und Kraftwerke Schaden nehmen. Wie konnte es dazu kommen? «Unsere Strominsel-Aktion hat zwar das Gesamtnetz entlastet», so Bossert, «doch die Belastung einzelner Komponenten ist gestiegen, als wir den Stecker zogen und die Frequenz ins Flattern kam.» Die Folge: Eine Notabschaltung der Turbine in Leibstadt. Knapp 1300 Megawatt fallen auf einmal weg. Viel Leistung, die so schnell auch niemand ersetzt – wir haben uns ja eben gerade vom Ausland abgenabelt. Daher der Frequenztaucher.

«Bei 49 Hertz kommt es auch zu einem Sicherheits-Lastabwurf», erklärt Bossert. Will heissen: Schweizer Verbraucher in einem bestimmten Gebiet werden ohne Strom dastehen. «Der Lastabwurf kennt 7 Eskalationsstufen. Schon bei Stufe 1 sind es 15% des gesamten schweizerischen Strombezugs, die wegfallen.» Sobald sich die Frequenz dadurch wieder stabilisiert, kann das Netz wiederaufgebaut werden. Doch das geschieht sukzessive und dauert Stunden – im vorliegenden Fall rechnet Bossert mit einem halben Tag.

Einer der ersten Schritte ist die Re-Synchronisation mit den Nachbarländern. Bis dahin müssen Teile der Schweiz ohne Elektrizität auskommen – was innert Stunden hunderte von Millionen Franken kostet, weil die Wirtschaft lahmgelegt wird.

Die Schweiz, eine Strominsel? Mitnichten, wie das Experiment im Swissgrid Simulation Center gezeigt hat. Die Frage ist nicht, ob unser Land in einem gegebenen Moment gerade genug Strom für sich selber hat – sondern was im Fall von Netzstörungen und Kraftwerksaufällen getan werden kann. «Viel, solange wir auf Reserven aus dem Ausland zählen können. Doch dazu müssen wir mit dem europäischen Verbundnetz gekoppelt bleiben», so Bossert. Eine losgelöste Schweiz, selbst wenn die Abnabelung schrittweise und geordnet geschehen würde, sei viel fragiler in Bezug auf die Versorgungssicherheit. «Der Vergleich mit einem Segelschiff bietet sich an. Es trotzt einigen Stürmen, doch irgendwann wird es in Seenot kommen. Eine Schweiz im europäischen Verbundnetz hingegen ist eher so etwas wie ein Supertanker.»

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