Netzstabilität: Die Netzsicherheit und ihre fünf Gebote

Man stelle sich vor: Ungeplanterweise werden in einem Land der europäischen Synchronzone mehrere Gigawatt Produktion nicht eingespeist, was zu einem Frequenzabfall in Europa führt. Das ist nicht üblich, aber möglich. Dass es die Ausnahme bleibt, ist auch den fünf eisernen Regeln der Netzsicherheit zu verdanken.
26.09.2019

12. Juni 2019: In Deutschland werden unerwartet mehrere Gigawatt Produktion zu wenig in das Netz eingespeist. Unser Nachbar verfügt nicht über genügend Regelenergiereserven, um das grosse Leistungsdefizit auszugleichen − und die Stromnetzfrequenz von 50 Hertz stabil zu halten. Die fehlende Produktionsleistung muss im Echtzeitbetrieb in mehreren Ländern kompensiert werden; Swissgrid koordiniert diesen Einsatz von Regelleistung. Die zusätzliche Einspeisung führt allerdings zu ungeplanten Stromflüssen im Netz... Nur dank der engen Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber kann die Lage letztlich entspannt werden.

Im Swissgrid Simulation Center können solch seltene und extreme Situationen jederzeit gefahrlos geübt werden. «Die hohe Netzsicherheit der Schweiz gibt es überhaupt nur, weil wir uns täglich an 'unsere fünf Gebote' halten», erklärt Georges Bossert Principal Operations Engineer, der das Center in- und auswendig kennt.

1. Gebot: Halte die Frequenz, was immer dazu auch nötig ist
Elektrische Energie kann in Verbundnetzen kaum gespeichert, sondern nur zwischen Erzeuger und Verbraucher verteilt werden. Der abgegebenen Leistung muss immer eine gleich grosse Leistungsaufnahme gegenüberstehen. «50 Hertz ist der Puls unserer Netze», sagt Bossert. Bei Abweichungen grösser +/- 50 Millihertz (+/- 0.1%) beginnen internationale Prozeduren. Bei einer Unterfrequenz von 49.5 Hz werden die Pumpen unserer Pumpspeicherkraftwerke gestoppt. Ab 49.0 Hz bis 47.8 Hz wird automatisch Kundenlast abgeschaltet – und bei 47.5 Hz steigen die Generatoren aus. Das heisst im Klartext: Ganze Quartiere und Dörfer stehen dann ohne Strom da.

2. Gebot: Du sollst den Verbundbetrieb immer wahren
Die Schweiz ist mit ihren zahlreichen Interkonnektionsstellen eng ins europäische Stromnetz eingebunden – sie ist keine Strominsel. «Die Reserven werden gemeinsam gepoolt», so Bossert, «ungeplante Schwankungen verteilen sich über das Verbundsystem und fallen damit weniger ins Gewicht». Die Frage ist nicht nur, ob unser Land in einem gegebenen Moment gerade genug Strom für sich selber hat – sondern was im Fall von Netzstörungen und Kraftwerksaufällen europaweit getan werden kann.

Ungeplante Schwankungen verteilen sich über das Verbundsystem − und fallen damit weniger ins Gewicht

3. Gebot: Respektiere die Belastungsgrenzen der Netze
6'700 Kilometer misst das überirdische Übertragungsnetz der Schweiz. Je mehr Strom durch die Leitungen fliesst, desto mehr erwärmen sie sich. Steigt die Temperatur der Leiterseile über 100 Grad, nimmt der elektrische Widerstand zu – und mit ihm der Leitungsverlust, wenn die Kabel heiss sind. Zugleich altern diese schneller. Fatal wäre eine Erwärmung über die Auslegungsgrenzen: Die Leiterseile müssten wegen nicht reversibler Verformung ausgetauscht werden 
− da sonst ein Erdschluss droht.

4. Gebot: Respektiere die Betriebsspannung der Netze
380 Kilovolt bzw. 220 Kilovolt sind die Nennspannungen unserer Übertragungsleitungen. Die Betriebsspannung liegt jeweils leicht darüber. «Leerlaufende Leitungen erzeugen Blindleistung, die Spannung steigt, die Blindleistung fliesst zurück in den Generator», erklärt Bossert, «und dieser verabschiedet sich mit einer Notabschaltung». Zu tiefe Spannung wiederum bedeutet zu hohe Stromstärke im Generator – auch dann klinkt sich der Stromerzeuger aus. Fallen mehrere grosse Generatoren aus, dann leidet die Versorgungssicherheit.

5. Gebot: Betreibe dein Netz so, dass niemals ein Element eine Ausfall-Kaskade auslöst
Die sogenannte «( n-1)-Sicherheit» sieht vor, dass in einem Netz die Netzsicherheit auch dann bestehen bleibt, wenn eine Komponente, etwa ein Transformator, ein Generator oder eine Leitung, abgeschaltet wird oder ausfällt. Dann darf es also nicht zu weiteren Unterbrechungen oder einer Ausweitung der Störung kommen. «Diese Regel beherzigen wir in der Vortagesplanung, in der 4-stündigen Netzvorschau und jeden einzelnen Moment während der Schicht», so Bossert. In der (n-1)-Prüfung kann der Ausfall einer beliebigen Komponente zudem jederzeit simuliert – und dessen Konsequenzen aufgezeigt werden.

- Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid