Die Transformation des Energiesystems ist machbar, aber eine Herkulesaufgabe

02.05.2023
Die Schweiz braucht Lösungen, um die strukturelle Winterstromlücke zu schliessen und ihre langfristigen Ziele Versorgungssicherheit und Klimaneutralität zu erreichen. Wie die Weichen für eine sichere und nachhaltige Energieversorgung gestellt werden müssen, zeigt die Studie «Energiezukunft 2050», die der VSE in enger Zusammenarbeit mit der Empa im Dezember 2022 veröffentlicht hat.

Die Versäumnisse der vergangenen Jahre wiegen immer schwerer. Viele Energieprojekte – egal ob Wasser- oder Windkraft, PV-Freiflächenanlagen oder Netzprojekte – werden durch Einsprachen blockiert und bis vor Bundesgericht bekämpft. Dies hat zur Folge, dass wir weiterhin im Winter stark von Importen abhängen – mit zunehmendem Strombedarf sogar noch mehr – und die für das Klima schädliche Abhängigkeit von fossilen Energien bleibt. Was dringend benötigt würde, ist massiv mehr Strom aus Wasser-, Solar- und Windkraft und weiteren erneuerbaren Energiequellen, weil wir Mobilität und Heizen für das Klima elektrifizieren und zeitgleich den Atomausstieg kompensieren müssen.

Ist eine sichere, erneuerbare und klimaneutrale Energieversorgung überhaupt realistisch? Dies hat der VSE im Branchenprojekt «Energiezukunft 2050» zusammen mit der Empa wissenschaftlich untersucht. Die Studie simuliert das Gesamtenergiesystem bis ins Jahr 2050 und zeigt vier realistische Szenarien, die Energiesicherheit und Klimaneutralität garantieren. Die Studienresultate zeigen eindrücklich, dass eine hohe Akzeptanz für neue Energieinfrastruktur und eine enge Energiekooperation mit der EU beste Voraussetzungen für die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Energie- und Klimaziele bringen.

Die Weichen für unsere Energie- und Klimazukunft müssen wir jetzt stellen – mit mehr Tempo, Entschlossenheit und Umsicht.

Konkret bedeutet dieses Idealszenario: Zubau von neuen Produktionsanlagen resolut beschleunigen, Effizienz massiv steigern, die Stromnetze um- und ausbauen sowie einen engen Energieaustausch mit Europa sicherstellen. Ein solches Energiesystem mit hoher Akzeptanz und enger energiepolitischer Kooperation mit der EU ist für die Zukunft nicht nur am robustesten, sondern auch günstiger als der Status quo. Die Schweiz muss in diesem Szenario im Winter zwar weiterhin Strom importieren, insgesamt jedoch reduziert sich die Importabhängigkeit bei der Primärenergie um das Fünffache. Die Wasserkraft bleibt das Rückgrat der Stromversorgung. Alpine Photovoltaik und Windkraft tragen gemeinsam zu einer sicheren Winterversorgung bei.

Energiesicherheit ist auch in einem erneuerbaren, klimaneutralen Energiesystem möglich. Das zeigt die «Energiezukunft 2050» eindrücklich. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz und politischen Willen wird diese Energiezukunft, wie im Idealszenario beschrieben, aber nie Realität. Nur gemeinsam mit grossen Anstrengungen und mehr Kompromissbereitschaft erreichen wir die Energie- und Klimaziele der Schweiz. Die Weichen für unsere Energie- und Klimazukunft müssen wir jetzt stellen – mit mehr Tempo, Entschlossenheit und Umsicht. Ein Schritt nach vorne und zwei zurück, das können wir uns nicht mehr leisten.

Faktencheck: Die meistgestellten Fragen zur «Energiezukunft 2050»

Ist eine vollständig erneuerbare Energieversorgung in der Schweiz möglich? Was passiert, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht?

Photovoltaik und Wind werden in allen Szenarien eine wichtige Rolle bei der Stromversorgung der Schweiz spielen. In keinem Szenario wird aber postuliert, dass Sonne und Wind jederzeit die vollständige Versorgung des Landes mit Strom sicherstellen müssen. In der Schweiz bestehen weitere Technologien für diese Aufgabe, insb. die Wasserkraft, die in Kombination mit Photovoltaik und Wind diese Aufgabe sicherstellen.

Alpine PV liefert einen höheren Anteil der Produktion im Winter als PV auf Dächern, Wind sogar mehr als im Sommer. Dunkelflauten haben wir mit der Speicherreserve und den Back-up-Kraftwerken Rechnung getragen. Unser Modell berücksichtigt auch Effizienz- und Lastverschiebungsmassnahmen.

Inwiefern wurde der Klimawandel bei der Modellierung berücksichtigt?

Die Auswirkungen des Klimawandels auf Wärme, Kühlung und Hydrologie wurden in der Studie in Form von veränderter Wärmenachfrage und zeitlich verschobenen Wassermengen berücksichtigt. Im Betrachtungszeitraum bis 2050 hat der Klimawandel auf diese Faktoren keinen wesentlichen Einfluss, weil ein grosser Teil der Erwärmung um global 2 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter heute bereits erfolgt ist.

Können wir gemäss den Ergebnissen das Netto-Null-Ziel 2050 erreichen und wenn ja, wie und zu welchen Kosten?

Die Energie- und Klimaziele der Schweiz sind mit den verfügbaren Technologien erreichbar, vorausgesetzt, dass die benötigten Infrastrukturzubauten realisiert werden können. Die Kosten des Energiesystems werden im Zuge dieser Transformation abnehmen, wobei die Zusatzkosten des Ausbaus des Stromnetzes (noch) nicht berücksichtigt wurden. Die Kostenabnahme resultiert durch den Wegfall importierter fossiler Brennstoffe, die durch Strom substituiert werden.

Welche Sensitivitäten wurden angewandt?

Es wurden folgende Sensitivitäten berücksichtigt, die die wichtigsten Annahmen im Modell verändern, um die Modellergebnisse auf ihre Robustheit zu prüfen:

  • reduzierte Möglichkeit, Wasserstoff in grossen Mengen zu günstigem Preis zu importieren
  • Zubau von Kernkraftwerken neuer Bauart
  • erhöhter Strombedarf im Inland
  • Worst-Case-Szenario mit verlangsamtem Zubau von erneuerbarer Produktion ohne Wasserstoffimport

Wieso soll es besser sein, beim Wasserstoff importabhängig zu sein als beim Strom?

Die Studie geht davon aus, dass Wasserstoff in Europa zu einem im grossen Stil gehandelten Energieträger wird. Die Wasserstoffabhängigkeit ersetzt im Grundsatz die heutige Abhängigkeit von Erdgas, nicht jene von Strom, allerdings wird weniger Wasserstoff importiert als heute Erdgas. In Summe handelt es sich um einen Rückgang der Importabhängigkeit. Eine vollständige Autarkie ist aus unserer Sicht eine teure Illusion.

Warum sind Kernkraftwerke des SMR-Typs weniger wirtschaftlich als mit grünem Wasserstoff betriebe Gaskraftwerke?

Um die Wirtschaftlichkeit zu beurteilen, muss auch die Anzahl Volllaststunden betrachtet werden. Neue SMR produzieren zwar mit 8 Rp./kWh relativ günstig, allerdings nur, wenn sie als Grundlast mit 8000h/a eingesetzt werden. Das Energiesystem der Zukunft verlangt aber vermehrt nach Flexibilität, welche mit Gaskraftwerken wirtschaftlicher bereitgestellt werden kann.