Neubau Grimselstaumauer: Die Nagelprobe erfolgt erst ganz zum Schluss

2019 begannen die Arbeiten für eine neue Staumauer als Ersatz für die Spitallamm-Mauer am Grimsel. Nach der ersten Beton-Saison ist das Mammut-Vorhaben dem Fahrplan sogar etwas voraus. Die Zeichen stehen also gut, dass die neue Mauer 2025 termingerecht in Betrieb genommen werden kann – vorausgesetzt, sie besteht ihre finale Bewährungsprobe.
28.01.2022

Bilder: KWO/David Birri

Noch immer steht sie mächtige 114 Meter hoch da, die Spital­lamm-Mauer. Noch immer ist sie unverrückbar, unerschütterlich, und sie trotzt nach wie vor der rauen Witterung hier oben, auf 1900 Metern, just unterhalb des Grimselpasses. Und noch immer bändigt sie gemeinsam mit der Seeuferegg-Mauer die 94 Millionen Kubikmeter Wasser des Grimselsees. Doch der Tag, an dem die vor über 90 Jahren erbaute, denkmalgeschützte Staumauer ausser Dienst genommen wird, rückt unausweichlich näher.

2025 wird es so weit sein. Dann erfolgt nach sechs Jahren Bauzeit der Ersteinstau, um zu testen, ob die neue Mauer, die direkt vor der Spital­lamm-Mauer errichtet wird, auch wirklich hält, was man sich von ihr verspricht. Für Benno Schwegler, Leiter Projekte bei der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), wird das ein besonderer Moment: «Der Ersteinstau ist der spannendste Augenblick in diesem Projekt. Dann werden wir sehen, ob wir alles richtig gemacht haben.»

Mängel machten den Neubau nötig

Seit dem Sommer 2019 baut die KWO eine neue Staumauer, weil die bestehende Spitallamm-Mauer Mängel aufweist, die im Moment zwar noch keine Auswirkungen haben, die aber nicht einfach ignoriert werden können. Einerseits hat sich aufgrund der damaligen Bauweise eine Fuge aufgetan, die kontinuierlich zunimmt. Zwar hielte die Spitallamm-Mauer auch in diesem Zustand einem aussergewöhnlichen Ereignis wie einem sehr starken Erdbeben nach wie vor stand. Aber weil die Sicherheit bei dieser Anlage zentral sei, habe die KWO handeln müssen. Gleichzeitig sei noch ein weiteres Problem mit der Mauer festgestellt worden: die Alkali-Aggregat-Reaktion. Dabei handelt es sich um einen Schadensmechanismus, der zu einer verminderten Festigkeit der entsprechenden Bauten führen kann.

Um diese Reaktion bei der neuen Staumauer am Grimsel zu verhindern, hat die KWO entsprechende Massnahmen vorgenommen: «Die Alkali-Aggregat-Reaktion hängt stark von der Beton-Rezeptur ab. Wir verwenden weniger Zement, damit der Beton nicht quellen kann. Ausserdem geben wir Flugasche bei, denn diese hilft zusätzlich auch, die Temperatur im Beton zu senken», erklärt Benno Schwegler.

Kein Blick in die Kantine. Hier werden Prüfungen an Frischbeton durchgeführt.
Kein Blick in die Kantine. Hier werden Prüfungen an Frischbeton durchgeführt.

Aushubarbeiten abgeschlossen, jetzt geht es in die Höhe

Die Arbeiten begannen im Frühjahr 2019, als die Baustelle überhaupt erst erschlossen werden musste. Anschlies­send wurden bereits erste Aushubarbeiten vorgenommen und notwendige Stollen in den Berg getrieben. 2020 wurde der Aushub des Fundaments abgeschlossen. Das dabei abgetragene Material wird quasi vor Ort verwertet und im eigens erstellten Kieswerk in der Gerstenegg zu Betonkies verarbeitet, mit dem wiederum der Beton für die neue Mauer hergestellt wird. Ursprünglich waren die Verantwortlichen davon ausgegangen, dass rund 80% des Aushubmaterials wiederverwertet werden könnte. Weil die Gesteinsqualität aber besser war als erwartet, können praktisch 100% des abgetragenen Materials zur Beton-Herstellung eingesetzt werden.

2020 wurden parallel zu den Aushub­arbeiten die Stollen weiter in den Fels getrieben und ein 100 Meter tiefer Liftschacht gebaut. Dazu musste erst ein Loch von oben gebohrt werden. Anschliessend wurde der Bohrkopf unten an der Bohrstange angesetzt, um den Schacht in seinem vollen Durchmesser von unten nach oben herauszubohren. Dieses Verfahren ist sehr effizient und energiesparend, weil dabei gezogen statt gedrückt werden kann. Und auch ein Teil des späteren Grundablasses wurde in dieser Zeit bereits gebaut. «Unser Ziel war, 2021 etwa 17'000 m3 Beton zu verbauen. Erfreulicherweise sind wir deutlich schneller vorangekommen, sodass wir Ende Jahr bereits rund 35 000 m3 verbaut hatten», sagt Benno Schwegler.

Der Bohrkopf ist bereit, um einen Liftschacht nach oben in den Fels zu treiben.
Der Bohrkopf ist bereit, um einen Liftschacht nach oben in den Fels zu treiben.

Keine bösen Überraschungen, keine schweren Unfälle

Generell steht das Projekt bisher unter einem guten Stern. Böse Überraschungen blieben aus, und – was Benno Schwegler sehr wichtig ist – es kam zu keinen schwerwiegenden Unfällen. «Auf Baustellen kann trotz Sicherheitsvorkehrungen immer etwas passieren. Und diese Baustelle ist speziell herausfordernd. Sie ist eng, es verkehren viele Fahrzeuge und die Witterung kann schnell umschlagen. Da muss man noch mehr aufpassen als sonst.»

Von der Bevölkerung spürt Benno Schwegler viel Wohlwollen: «Die Menschen sind sehr interessiert an dieser Baustelle. Sie ist ja auch spannend und dazu gut sichtbar von der Strasse.» Für Baustellentouristen ist der Bauplatz auch ideal gelegen, kann man doch bequem mit dem Auto hinfahren und vom Grimselnollen beim Alpinhotel Grimsel Hospiz herunterschauen. «Wir bieten für Interessierte sogar Führungen auf der Baustelle an», sagt Benno Schwegler. Mit grossem Erfolg: Rund 10’000 Besucher seien seit 2019 auf der Baustelle gewesen. Auch die Lastwagenfahrten störten die Einheimischen nicht gross, sagt Benno Schwegler: «Zu Beginn wurde das Material angeliefert. Nun sind es nur noch ein paar Lastwagen pro Tag, die den Zement zur Baustelle bringen. Das fällt auf der auch sonst vielbefahrenen Grimselpass-Strasse nicht ins Gewicht.» Der Hauptverkehr finde momentan auf den gut vier Kilometern zwischen dem Kieswerk Gerstenegg und der Baustelle – und damit in unbewohntem Gebiet – statt.

Wie beim Alpaufzug werden die Pneu- und Turmkräne zur Baustelle transportiert.

Ein Kran baute den Kran, der die beiden Kräne baute

Im Augenblick befindet sich die Baustelle aber sowieso im «Winterschlaf». Was abtransportiert werden konnte, ist eingelagert und wartet auf den Frühling. Planmässig sollten die Schneeräumungsarbeiten auf der Passstrasse im April beginnen. «Dann können wir Ende Mai oder Anfang Juni die Betonarbeiten wieder aufnehmen.» Erwartet werden die Arbeiter dannzumal von den beiden Kränen, welche Benno Schwegler zu Recht als «Schlüsselelemente» dieser Baustelle bezeichnet. Deren Montage war ein spektakulärer Anblick, musste dazu doch eigens ein demontierter 500-t-Pneukran zur Baustelle transportiert und vor Ort mit einem kleineren Pneukran zusammengebaut werden. Ein Kran baute also den Kran, der die beiden Kräne baute.

Die beiden Turmkräne – ihr Aufbau dauerte nur drei Wochen – sind je 90 Meter hoch, und ihre Ausleger messen 70 respektive 75 Meter. Sie sind in der Lage, 60 Tonnen zu heben und stehen auch während der Winterpause nie ganz still. Eine Automatik lässt die beiden Kräne sich ständig ein wenig drehen, damit sie nicht festfrieren. Ausserdem sind die beiden Ausleger mittels Tirolienne von der bestehenden Staumauer aus erreichbar, falls ein Monteur Zugang benötigt, um beispielsweise Eis abzuschlagen.

Ab dem Frühling wird betoniert

Wenn das Eis im Frühling schmilzt, stehen vor allem Betonarbeiten an. Während der nächsten drei Jahre wird die Mauer stetig wachsen und bis 2024 das Niveau der bestehenden Spitallamm-Mauer erreichen. Die Mauer wird in Etappen betoniert: «Wir bauen 15 Meter breite Blöcke, auf die jeweils 3-Meter-Etappen aufbetoniert werden.» Zwischen den Blöcken entstehen so Fugen, die vorerst offen bleiben. «Einerseits schwindet der Beton beim Austrocknen, und im Winter zieht er sich bei Kälte zusammen. Die Fugen werden aber vor dem Ersteinstau ausinjiziert und so dicht gemacht.»

Bei diesem Vorgang wird Zementmilch in die Fugen gepumpt. Nachdem diese ausgehärtet ist, wird mit Druck nochmals Zementmilch injiziert, sodass quasi eine Vorspannung über die ganze Mauer entsteht. Natürlich gibt es bei einem so grossen Bauwerk nicht nur einen «Einfüllstutzen», um die ganze Mauer zu injizieren. Alle 24 Meter führt ein horizontaler Kontrollgang in die Mauer, wo sich jeweils ein Fugenfeld befindet. Dort wird die Zementmilch injiziert, und dann geht es weiter zum nächsten Fugenfeld, solange bis alle Fugen abgedichtet sind. Die ersten Injektionen werden 2023 vorgenommen, 2025 wird schliesslich der obere Teil der Mauer behandelt.

Die neue Staumauer wird etappenweise in Blöcken aufbetoniert.
Die neue Staumauer wird etappenweise in Blöcken aufbetoniert.

Für diese Injektionen werden bereits beim Betonieren Leitungen verlegt und Ventile angebracht. Auch wenn die fertige Staumauer von aussen wie ein grosser Monolith erscheint, weist sie sehr viel unsichtbares Innenleben auf. Auch Kühlschläuche werden während des Baus eingelegt, damit der Beton mit kaltem Seewasser ausgekühlt werden kann. Dieser Prozess wird rund ein Jahr in Anspruch nehmen.

Parallel zum Hochziehen der Staumauer finden auch noch weitere Arbeiten statt. So wird beispielsweise der neue Grundablass 20 bis 30 Meter weit Richtung See getrieben. Weiter müssen ein bestehender Stollen aufgeweitet und die nötige Kammer fertiggestellt werden. Im Winter 2025 wird der See schliesslich vollständig entleert, damit der Durchschlag zwischen Grundablass und See erfolgen kann. Der neue Grundablass ist nötig, weil der bestehende dem Neubau in die Quere gekommen wäre. Es mussten sowieso schon rund vier bis fünf Meter vom Fuss der bestehenden Spital­lamm-Mauer entfernt werden, damit die neue Mauer so nah wie möglich ans bestehende Bauwerk gebaut werden kann.

Der entscheidende Moment

Wirklich ernst gilt es im April 2025, denn dann beginnt der Ersteinstau. Der See wird in Etappen wieder aufgefüllt, um zu beobachten, wie sich die neue Staumauer verhält. Dann wird sich zeigen, ob die Fugen dicht sind. «Das ist eine wirkliche Nagelprobe», sagt Benno Schwegler. «Die Betonqualität prüfen wir ständig mit Testkörpern, aber die Dichtigkeit des ganzen Bauwerks können wir wirklich erst ganz am Schluss überprüfen.»