Neubau Grimselstaumauer: «Diese Baustelle ist einmalig»

Seit dem vergangenen Sommer entsteht Grosses im Grimselgebiet: Die Spitallamm-Mauer wird bis 2025 durch eine neue Talsperre ersetzt. Ein einmaliges Projekt in unwirtlicher Umgebung, das minutiöser Planung bedarf.
10.02.2020
Grimsel

Mächtige 114 Meter hoch steht sie da, die Spitallamm-Mauer. Unverrückbar, unerschütterlich und trotzig der rauen Witterung hier oben, auf 1900  Metern, just unterhalb des Grimselpasses, die Stirn bietend. Seit 1932 hält sie gemeinsam mit der etwas östlicher gelegenen Seeuferegg-Mauer die Wassermassen des Grimselsees in Schach. Mit seinem Fassungsvermögen von rund 94 Millionen Kubikmetern ist der See das Herzstück der Energieproduktionsanlagen der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO). Die Spitallamm-Mauer ist also ebenso mächtig wie wichtig, oder besser: Sie war es.

Im vergangenen Sommer begannen nämlich die Arbeiten für eine neue Staumauer am Grimsel. Dass die KWO der altehrwürdigen Staumauer nun einfach so, mir nichts, dir nichts einen Neubau vor die Nase stellt, hat jedoch nur bedingt mit dem Alter der Spitallamm-Mauer zu tun. Die Ursache liegt vielmehr in der Art und Weise, wie die Mauer in den 1920er-Jahren gebaut werden musste, begründet. «Vor 90 Jahren war diese Bogengewichtsstaumauer eine der grössten Mauern der Welt», erklärt Benno Schwegler, Leiter Projekte bei der KWO und verantwortlich für den Neubau. «Allerdings waren die grossen Betonkubaturen wegen der Abbindewärme eine Herausforderung. Daher waren Vorsatz- und Massenbeton separat aufbetoniert worden. Die so entstehende Bresche wurde anschliessend mit Beton verfüllt.» Die Folge war ein ungenügender Verbund zwischen Vorsatz und Massenbeton, was allerdings erst in den 1960er-Jahren festgestellt wurde. Im Laufe der Jahre tat sich diese Fuge immer stärker auf. Sie nimmt auch heute noch kontinuierlich zu und ist irreversibel. Zwar presse der Wasserdruck die Fuge ein wenig zusammen, aber eben nicht vollständig. «Längerfristig wird das zu einem Problem.» Benno Schwegler betont, dass heute auch bei einem aussergewöhnlichen Ereignis – zum Beispiel einem sehr starken Erdbeben – die Sicherheit der Staumauer immer noch gewährleistet sei: «Dem Druck des Sees hält die Mauer trotz dieser Fuge problemlos stand. Aber bei dieser Anlage ist die Sicherheit zentral, weshalb wir nun aktiv geworden sind.»

Vogelperspektive: Blick auf die Baustelle am Fuss der bestehenden Mauer (Bild: KWO/David Birri).

Eine Sanierung wäre sinnlos

Eine neue Staumauer zu bauen, ist ein aufwendiges Unterfangen. Da stellt sich die Frage, ob es nicht einfacher gewesen wäre, die bestehende Mauer zu sanieren. Zwei Gründe hätten jedoch dazu geführt, dass die KWO diese Idee verworfen habe, erklärt Benno Schwegler: «Um die Mauer zu sanieren, hätte während der Bauzeit der See abgesenkt werden müssen. Der Grimselsee ist aber für die KWO sehr wichtig, und wir wollten aus wirtschaftlichen Gründen nicht solange auf den See verzichten.» Gleichzeitig leidet die Spitallamm-Mauer unter einem als «Alkali-Aggregat-Reaktion» bekannten Schadensmechanismus. Es handelt sich dabei um eine seit den 1980er-Jahren bekannte Reaktion, die bei diversen Betonbauten (Staumauern, Brücken, Tunnel) auftritt und zu Rissen im Beton führen kann, wodurch diese Bauten langfristig ihre Festigkeit einbüssen. «Daher wäre es sowieso nicht zielführend, die bestehende Mauer zu sanieren», erklärt Benno Schwegler. Diese Alkali-Aggregat-Reaktion trete auch bei anderen Staumauern und Bauten in der Schweiz auf.

Die bestehende Spitallamm-Mauer wird nach Fertigstellung der neuen Mauer nicht etwa abgebrochen, sondern geflutet. Einerseits wurde das Bauwerk von der kantonalen Denkmalpflege als «erhaltenswert» eingestuft und geniesst so einen gewissen Denkmalschutz, anderseits müsste dafür auch wieder der Grimselsee abgesenkt werden. Plus: Die Überreste der Mauer müssten in einer Spezialdeponie gelagert werden. Daher wird die Mauer so stehen gelassen und eingestaut, das heisst, dass auch der Zwischenraum zwischen bestehender und neuer Mauer mit Wasser gefüllt sein wird. Das führt zur kuriosen Situation, dass im Grimselsee ab 2025 zwei Mauerkronen in zirka 50 Metern Abstand zu sehen sind, da die neue Mauer gleich hoch wird wie die bestehende.

Benno Schwegler, Leiter Projekte (Bild: KWO/David Birri)

Allerdings wird die neue Talsperre so gebaut, dass die seit über zwei Jahrzehnten angedachte Erhöhung um 23 Meter der Mauer ohne spezielle Massnahmen vorgenommen werden könnte, wenn das Projekt dereinst grünes Licht erhält. Die Mauererhöhung am Grimselsee beschäftigt momentan das Bundesgericht, nachdem die Umweltorganisation Aqua Viva, die Schweizerische Greinastiftung und der lokale Grimselverein in Lausanne gegen ein Urteil des bernischen Verwaltungsgerichts appelliert haben. Die Aufstockung der Staumauern des Grimselsees um 23 Meter ermöglichte die Erhöhung der Seekapazität um 75 Millionen Kubikmeter. Diese zusätzliche Kapazität spielt nicht nur punkto Winterversorgung eine wichtige Rolle, sondern wäre auch ganz im Sinne der Energiestrategie 2050, welche auf dem massiven Ausbau erneuerbarer Energien abstützt. Mit der zusätzlichen Kapazität kann die KWO auch einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung des Stromnetzes leisten.

Beeindruckt von Motivation und Engagement

Gebaut wird in der Regel von April bis Oktober, wenn die Baustelle auf knapp 2000 Metern mehr oder weniger zugänglich ist. Minutiöse Planung und perfektes Zeitmanagement sind nötig, damit die neue Mauer innerhalb der veranschlagten Zeit fertiggestellt werden kann. Was schon in tiefergelegenen Gegenden oft genug nicht klappt, ist im Hochgebirge eine zusätzliche Herausforderung. «Wind und Wetter sind vor allem für die Arbeiter anspruchsvoll», sagt Benno Schwegler. Umso beeindruckter ist er von deren Motivation und Engagement: «Was alle Beteiligten hier seit Anfang Juni erreicht haben – gerade unter diesen äusseren Bedingungen – ist imposant. Jedem Arbeiter ist aber auch bewusst, wie einmalig diese Baustelle ist.» Übrigens: Waren vor 90 Jahren etwa 600 Arbeiter nötig, um eine Staumauer dieses Ausmasses zu bauen, werden heute nicht mehr als 100–150 Personen auf dieser Baustelle arbeiten. Gedauert haben die Bauarbeiten aber auch vor fast einem Jahrhundert «bloss» sechs Jahre.

Über Tag: Die Vorbereitungen für den Bau der Staumauer und der Stollen werden sowohl am Berg … (Bild: KWO/David Birri)

Neben der Witterung ist eine weitere Schwierigkeit dieses Projekts, dass unmittelbar neben der bestehenden Staumauer gearbeitet wird. «Das Fundament der neuen Mauer beginnt direkt an der bestehenden. Da müssen die Fachleute schon behutsam vorgehen, damit keine Anlagen, die in Betrieb sind, beeinträchtigt werden.» Der Bau der Mauer bedingt ausserdem mehrere Stollen sowie einen Liftschacht, die in den Fels getrieben werden müssen. Das hat Erschütterungen zufolge, welche sich weder auf die Kraftwerksanlagen noch auf das Grimsel-Hospiz auswirken dürfen. Dass der Neubau direkt am Fuss der bestehenden Mauer entsteht, hat topografische Ursachen: «Je weiter weg von der alten Spitallamm-Mauer wir bauen, umso stärker öffnet sich das Tal. Und mit jedem Meter, den die Mauer breiter wird, nehmen auch die Kräfte zu, welche auf ihr lasten.» Ganz abgesehen davon, dass es für eine breitere Mauer auch mehr Material braucht.

Recycling vor Ort

Das Ausbruchmaterial – rund 70 000 Kubikmeter Fels –, welches für die Fundation entfernt werden muss, wird unmittelbar bei der Baustelle zu Beton verarbeitet und so umgehend wiederverwertet. Dazu wird auf der Baustelle ein temporäres Kieswerk eingerichtet. Hinzu kommt auch noch das Ausbruchmaterial, welches beim Bau des Kraftwerks Grimsel  2 in den 1970er-Jahren angefallen war. Dieses lagert in einer alten Deponie vor dem etwas weiter unten gelegenen Räterichsbodensee. Indem jenes Material verwendet wird, welches vor Ort anfällt, werden zahlreiche kostspielige Materialtransporte aus tieferliegenden Gebieten zum Grimselsee eingespart. Es werde natürlich einige Materialfahrten zur Baustelle hinauf geben, räumt Benno Schwegler ein. «Die meisten Fahrten werden aber zwischen Räterichsboden- und Grimselsee stattfinden.» Die Arbeiter werden während der Bauphasen in Containern direkt bei der Baustelle oder im nahegelegenen Guttannen leben.

Unter Tag: ... als auch im Berg vorgenommen (Bild: KWO/David Birri).

Insgesamt wird am Grimsel während sechs Jahren gebaut. Im letzten Sommer wurde die Erschliessung der diversen Baustellen und des geplanten Kieswerks sichergestellt. Ausserdem begannen die Arbeiten zum Aushub des Fundaments und die erwähnten Stollen wurden in den Berg getrieben. Bis im Herbst soll nun der Aushub abgeschlossen werden, bevor 2021 die ersten Betonarbeiten beginnen können. Dazu werden Ende 2020 die ersten Betonversuche durchgeführt. Diese Versuche sind wichtig, um die Rezeptur des vor Ort hergestellten Betons zu justieren. «Wir verwenden Zuschlagstoffe, die wir selbst produzieren. Weil diese Stoffe die Betonqualität wesentlich beeinflussen, sind diese Versuche sehr wichtig.» Wegen des immensen Gesamtvolumens von 220 000 Kubikmetern Beton zählt jedes einzelne Kilo Material, das verbaut wird. «Wir wollen den Beton optimieren, sodass einerseits Qualität und Verarbeitbarkeit stimmen, anderseits aber auch wirtschaftlich damit gearbeitet werden kann», erläutert Benno Schwegler. In den Jahren 2022 bis 2024 wird die Mauer schliesslich Gestalt annehmen und sukzessive hochgezogen, bevor 2025 der erste Einstau erfolgen und die Ersatzmauer in Betrieb genommen wird.

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Hohen Belastungen ausgesetzt

Auch wenn die neue Staumauer dereinst mächtige 114  Meter hoch dastehen wird, scheinbar unverrückbar, unerschütterlich und der rauen Witterung trotzend – ein Bauwerk für die Ewigkeit wird auch sie nicht sein. «Solche Staumauern sind enormen Belastungen ausgesetzt», erklärt Benno Schwegler. «Einerseits ist da der ständig wechselnde Wasserdruck wenn der See voll oder leer ist. Dazu kommen die grossen Temperaturunterschiede im Winter und im Sommer.» Wenn auch nicht für die Ewigkeit gebaut, so soll die neue Staumauer am Grimsel doch für mehr als ein Menschenleben Bestand haben. Die Frage danach, wie lange die Mauer denn halten werde, beantwortet Benno Schwegler ohne zu zögern: «Sicher hundert Jahre.»

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