Mehr Mut und Tempo für unsere Stromversorgung

VSE Präsident Michael Wider erklärt im Interview, was die hohen Strompreise für die Versorgungssicherheit bedeuten, warum es eine politische Lösung mit der EU braucht und was er sich für 2022 wünscht.
24.01.2022

Michael Wider, die Branche startet mit viel Gewichtigem ins neue Jahr: Der Mantelerlass geht Ende Januar zur Debatte in die UREK-S, die neue Version des revidierten CO2-Gesetzes ist in Vernehmlassung, ebenso steht die Vernehmlassung zur Verfahrensbeschleunigung vor der Tür. Welche Themen beschäftigen weiter?

Noch einige mehr! Es wird auch 2022 nicht langweilig, das ist gut so. Besonders wichtig scheint mir auch weiterhin das Thema Zusammenarbeit mit der EU. Mittlerweile ist den meisten klar, wie wichtig eine enge Stromkooperation der Schweiz mit der EU für unser Stromsystem ist. Aber es bleibt schwierig. Die Kupferdrähte enden bekanntlich nicht an den politischen Grenzen. Über die 41 Punkte, die uns mit dem europäischen Netz verbindet, fliesst immer Strom, ob wir ein Agreement haben oder nicht. Nur wissen wir eben oft nichts davon, wenn wir nicht Teil der Planung sind.

Mit welchen Folgen?

Es verurteilt uns das dazu, ständig im Reaktionsmodus zu sein. Das gefährdet die Systemstabilität und beansprucht unseren Produktionspark. Wir brauchen aus physikalischer, aber eben auch kommerzieller Sicht eine langfristige, stabile Lösung. Es ist toll, dass Swissgrid einen privatrechtlichen Vertrag mit der Kapazitätsberechnungsregion «Italy North» abschliessen konnte. Doch langfristig braucht es eine politische Lösung mit der EU.

Der Jahreswechsel hat auch rekordhohe Strompreise gebracht – nicht nur in der Schweiz. Was heisst das für uns?

Die Schweiz ist nicht ein price maker, sondern ein price taker. Ob uns das passt oder nicht. Die Preise werden massgeblich von den fossilen Energieträgern, dem CO2-Preis und der Volatilität von Wind und Sonne sowie der Stromnachfrage geprägt. Das macht die Preisbildung unberechenbar. Wir haben diesen Winter eindrücklich gesehen, welchen massiven Einfluss es auf das Preisgefüge hat, wenn planbare Kraftwerke wegfallen, wie z.B. die 15 Kernkraftwerke in Frankreich, oder wenn die Gaspreise explodieren. Wir müssen mit dieser Unberechenbarkeit leben lernen, denn dieser globale, seit 20 Jahren offene Markt ist massgebend für die Preise in der Schweiz.

Die Preisschwankungen beeinflussen auch die Versorgungssicherheit...

Genau. Nämlich dann, wenn man bei inländischer Knappheit im Winter Strom besorgen muss. Gerade deshalb brauchen wir rasch mehr erneuerbare Produktion in der Schweiz. Jede Kilowattstunde zählt! Zu wenig Strom führt zu Verteuerung, Abhängigkeiten und eingeschränkter Handlungsfähigkeit. Vorderhand ist das schwierig für die Akteure im Strommarkt. Mittelfristig wird es sich auch auf den Preis für die Konsumentinnen und Konsumenten auswirken. Gut ist, dass der Wert und die Bedeutung von Strom wieder stärker wahrgenommen wird und entsprechend auch mehr Anreize für Effizienz entstehen.

Kaum ein Ausbauprojekt wird realisiert ohne Einsprache- und Gerichtsmarathon.

Apropos Konsumentinnen und Konsumenten: Wie stehen die Chancen, dass es zu einer vollständigen Marktöffnung kommt?

Das ist ein Blick in die Kristallkugel. Ich denke, dass momentan im Parlament andere Themen im Vordergrund stehen, allen voran die Versorgungssicherheit. Persönlich bin ich der Meinung, dass sich die Märkte sehr rasch und einschneidend bewegen werden. Ohne geordnete Öffnung des Endkundenmarkts werden wir ins Hintertreffen geraten und viele Innovationen ausbremsen, statt voranzutreiben.

Die Versorgungssicherheit bleibt auch für den VSE die grosse Klammer von allem. Der Verband hat kurz vor Jahresende seine Roadmap mit über 40 Massnahmen für die Versorgungssicherheit publiziert. Mit welchem Ziel?

Es gibt für die Versorgungssicherheit keine Patentlösung. Es gibt kein Allerheilmittel, um unsere Energie- und Klimaziele zu erreichen - weder die Erneuerbaren, das Gas oder die Effizienz. Es braucht ein Zusammenspiel aller Elemente. Die Stromversorgungssicherheit ist ein Gesamtsystem, das nur funktioniert, wenn alle involvierten Akteure der Wertschöpfungskette zusammenspielen und ihren Teil der Verantwortung für die Versorgungssicherheit wahrnehmen. Die Branche tut dies. Mit der VSE Roadmap haben wir die Welt nicht neu erfunden. Vielmehr haben wir versucht, eine Gesamtsicht der aus unserer Sicht notwendigen Massnahmen zu erstellen entlang der Wertschöpfungskette zu erstellen, vom Verbrauch über Produktion und Speicher bis zu Handel und Netzen. Dieses Papier werden wir laufend weiterentwickeln und in die Diskussion einbringen.

Die Roadmap berücksichtigt auch die Themen der Akzeptanz und Verfahren.

Ja, weil Zielkonflikte von Schutz und Nutzung den Ausbau der Erneuerbaren behindern. Es sind Volksinitiativen in der Pipeline, die den Ausbau der Erneuerbaren zum kompletten Stillstand bringen könnten. Dazu kommen Bewilligungsverfahren, die unendlich lange dauern. Kaum ein Ausbauprojekt wird realisiert ohne Einsprache- und Gerichtsmarathon. Wir erwarten deshalb die Botschaft des Bundesrats zur Verfahrensbeschleunigung mit grosser Spannung. Auch Bestrebungen wie der runde Tisch zur Wasserkraft zeigen, dass sich die Strombranche und viele Umweltverbände des Konflikts und der Notwendigkeit zu Kompromissen bewusst sind. Schön wäre, wenn sich alle zum gemeinsamen Vorwärtskommen bekennen könnten, statt auf Partikularinteressen zu beharren und dogmatisch zu handeln. Dies im Interesse von Klima, Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit der Stromunternehmen.

Was wünscht sich der VSE Präsident für 2022?

Weniger Homeoffice, weniger Teams-Sessions, mehr Begegnungen – so Omikron will. Und mehr Mut und Tempo bei der Umwandlung des Energiesystems, damit wir endlich vorwärtskommen.