Kollektiver Kraftakt

Für die Versorgungssicherheit gibt’s keine Patentlösung. Es braucht Massnahmen entlang der ganzen Wertschöpfungskette, Rückhalt und Akzeptanz. Vor allem aber müssen alle am selben Strang ziehen. Ein Kommentar.
09.12.2021

Die Schweiz hat eine ausgezeichnete Basis für eine erfolgreiche Umsetzung der Energie- und Klimastrategie – eine gut erhaltene Infrastruktur, Netze und eine klimafreundliche, praktisch CO2-freie Stromproduktion. Doch unser Tempo beim Umbau des Energiesystems ist bei annähernd null, während die Dinge um uns herum in rasanter Geschwindigkeit passieren: Andere Länder treiben die Energiewende massiv voran – mit Auswirkungen auf Netz, Markt und Preise, das Klima verschlechtert sich noch schneller als prognostiziert, der zunehmende Ausschluss der Schweiz aus der Strom-EU ist ungebremst.

Wir haben uns in der Schweiz zu lange erlaubt, nur zu diskutieren – und sind dabei ins Hintertreffen geraten. Wir schieben Entscheide und damit unsere Zukunft vor uns her. Doch der Handlungsbedarf wird nicht kleiner, sondern immer dringender. Die Realität ist aber: Zielkonflikte von Schutz und Nutzung behindern den Ausbau der Erneuerbaren, Bewilligungsverfahren dauern unendlich lange, Initiativen stehen an, die den Ausbau der Erneuerbaren zum kompletten Stillstand bringen könnten, und der Markt setzt keine langfristigen Preissignale, damit in den Ausbau der Erneuerbaren investiert würde.

Zudem scheint das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure verkorkst, auch widersprüchlich. Die ElCom sagt, sie erfülle ihren gesetzlichen Auftrag als Regulatorin und ruft auf zum Handeln. Swissgrid sagt, sie fühle sich in der europäischen Diskussion allein. Das BFE sagt, handeln ja, es gelte jedoch das Subsidiaritätsprinzip. Die Kantone sagen, der Bund müsse halt, aber wenn der Bund macht, wollen sie doch lieber selbst. Und wir als Branche sagen, wir nähmen unseren Teil der Verantwortung wahr, aber wir brauchten angepasste Rahmenbedingungen.

Die Frage, wer denn eigentlich für die Versorgungssicherheit verantwortlich sei, wurde in den letzten Wochen breit diskutiert. Aktuell läuft die Diskussion in die falsche Richtung, denn es gibt nicht «den» Verantwortlichen für die Versorgungssicherheit. Mit dem Unbundling von Netz und Vertrieb haben wir in der Schweiz eine individualistische Haltung geprägt: Wir betrachten die einzelnen Elemente der Wertschöpfungskette – von der Produktion über den Handel, den Vertrieb bis zum Verbrauch – viel zu isoliert. Doch die Stromversorgungssicherheit ist ein Gesamtsystem, das nur funktioniert, wenn alle involvierten Akteure auf der gesamten Wertschöpfungskette zusammenspielen. Die Verantwortung für das Gesamtsystem Versorgungssicherheit ist geteilt und muss zwingend gemeinsam getragen werden – als Branche zusammen mit den Behörden und der Politik. Es geht nicht anders.

Präsident des VSE und Head of Generation Switzerland bei Alpiq

Michael Wider

Entlang der ganzen Wirtschaftskette Strom hat Michael Wider führende Positionen besetzt in verschiedenen Firmen wie Group-E, EOS Holding und ist seit 2013 als Head Generation für den Geschäftsbereich Energieproduktion bei der Alpiq verantwortlich. Seit Mai 2017 ist Michael Wider Präsident des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Michael Wider hat einen Master in Law und einen Master in Business Administration und ist zudem Absolvent des Stanford Executive Program. Er präsidiert mehrere Verwaltungsräte und verfügt über eine sehr breite Erfahrung im Energiebereich in der Schweiz und im Ausland.

Die zukünftige sichere Versorgung der Schweiz mit erneuerbarer Energie fällt nicht vom Himmel. Sie ist machbar, aber sie funktioniert nicht mit dem Verfolgen von Partikularinteressen und individuellen Sichtweisen, sondern sie bedarf eines kollektiven Kraftakts: weniger Ideologie und Abgrenzung, mehr Gesamtbetrachtung, mehr gemeinsame Anstrengungen von Gesellschaft, Politik und Branche. Besondere Situationen bedingen besondere Massnahmen und Strukturen. So wie es zur Bekämpfung der Pandemie eine kollektive Verantwortung und eine Art Gesellschaftsvertrag braucht, braucht es ihn auch für den Umbau des Energiesystems. Es ist höchste Zeit, zusammenzuspannen, um die übergreifenden Ziele zu erreichen – Energiewirtschaft, Bund, Kantone, BFE, ElCom, Swiss-grid und eine Koordinationsstelle, die den Takt vorgibt.

Das Takten wird entscheidend sein: Wir müssen Entscheide nach Kurz- und Langfristigkeit treffen, müssen Projekte priorisieren. Am dringendsten sind die Schaffung einer Energiereserve im Winter und die Reform des Systemdienstleistungsmarktes. Aber auch mittelfristige Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette dulden keinen Aufschub, weil deren Umsetzung Zeit brauchen wird. Die im Rahmen des Mantelerlasses geplanten Massnahmen müssen rasch zur Umsetzung kommen, und es wird weitere brauchen: zusätzliche Winterenergie, beschleunigte Planungs- und Bewilligungsverfahren sowie eine Klärung der Zielkonflikte, tragfähige Vereinbarungen mit der EU und Massnahmen für den Um- und Ausbau der Netz­infrastruktur.

Lösungen wird es nur im Dreieck Klima, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit geben. Die Versorgungssicherheit wird nicht umsonst zu haben sein, man kann es drehen und wenden, wie man will. Und die Branche wird nur Investitionsentscheide treffen, die unternehmerisch sinnvoll sind. Um politische Ziele wie Klimaneutralität und Versorgungssicherheit zu erreichen, wird es mehr brauchen als den Markt. Das zeigt auch der Blick über die Grenze in Länder, die seit Jahrzehnten liberalisierte Märkte haben. So existieren beispielsweise in der Europäischen Union rund hundertzwanzig zugelassene Steuerungs- und Regulierungsmechanismen. Der Markt, wie er heute ist, wird auch in der Schweiz nicht alles regeln.

Für die Versorgungssicherheit und den Umbau des Energiesystems in der Schweiz wird es keine Patentlösung geben. Es braucht ein Puzzle von Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, Rückhalt und Akzeptanz in Politik und Gesellschaft sowie ein Commitment zum Wert, den die Versorgungssicherheit für unsere Wirtschaft und unser Land hat. Das Gute ist: Ist der Druck gross, öffnet sich immer auch ein Fenster, um zu gestalten. Dieses Fenster steht jetzt so weit offen wie noch selten.

Gesamtsicht auf die Versorgungssicherheit
VSE Roadmap
Gesamtübersicht über die für die Stromversorgungssicherheit der Schweiz notwendigen Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette.