«Man muss alle gerne haben»

Ralph Kienle darf immer mal wieder «hoch hinaus». Als Fachspezialist Aufsicht Talsperren beim BFE muss er das auch – von Berufs wegen.
09.02.2021
Bild: Daniel Kellenberger

Rund zwei Drittel des in der Schweiz gelieferten Stroms stammen aus der Wasserkraft. Das bedeutet für die Schweiz einerseits einen absoluten Spitzenplatz in Europa. Anderseits verdeutlicht diese Tatsache auch, welche grosse Rolle der Wasserkraft beim Umbau des Energiesystems zuteil wird. Mit über 670 Gross- und über 1000 Kleinwasserkraftanlagen wird in der Schweiz Strom aus Wasserkraft produziert. Und diese Anlagen verrichten ihren Dienst teilweise seit Jahrzehnten zuverlässig und sicher. Dass sie das tun, ist keineswegs selbstverständlich, sondern das Resultat regelmässiger Überwachungs-, Wartungs- und Instand­haltungsarbeiten durch die Anlagenbetreiber. Diese sind dazu verpflichtet, und sie müssen die Arbeiten gegenüber dem Bundesamt für Energie (BFE) jedes Jahr in einem Zustands- und Verhaltensbericht dokumentieren und darin eine Beurteilung vornehmen. Obwohl sich Kraftwerke aus vielen Komponenten zusammensetzen, ist das BFE als Aufsichtsbehörde über die Sicherheit der Stauanlagen ausschliesslich für die eigentlichen Stauanlagen zuständig. So will es das Stauanlagengesetz. Druckleitungen, Turbinen, Kraftwerksgebäude und andere nicht sicherheitsrelevante Nebenanlagen müssen das BFE daher nicht interessieren.

Diese jährlichen Berichte – oft über hundert Seiten dick, voller Diagramme, Situationsfotos und Tabellen – landen auf den Tischen der aktuell sieben Talsperren-Inspektorinnen und -Inspektoren beim BFE. Diese «Fachspezialistinnen und Fachspezialisten Aufsicht Talsperren» – so lautet ihre offizielle Funktionsbezeichnung – lesen die Berichte, beurteilen sie auf ihre Plausibilität hin, rechnen nach, ob dokumentierte Messungen stimmen, und fordern bei Bedarf zusätzliche Auskünfte ein. «Wir können uns nicht erlauben, unsorgfältig zu arbeiten», erklärt Ralph Kienle. «Das kann sich eigentlich ja niemand, aber wenn wir nicht exakt und gründlich arbeiten, kann das katastrophale Auswirkungen haben.»

Ralph Kienle ist einer der oben erwähnten Fachspezialisten Aufsicht Talsperren beim BFE, und er weiss um seine grosse Verantwortung. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen ist er die letzte Instanz, welche diese Berichte aufmerksam studiert – und so beispielsweise ein Bauwerk wie die bestehende Spitallamm-Mauer am Grimsel für (noch) sicher erklärt. Die Inspektorinnen und Inspektoren des BFE arbeiten dabei eng mit den Talsperrenwärtern vor Ort, den involvierten Ingenieuren und – bei ganz gros­sen Anlagen – den unabhängigen Experten der Betreiber zusammen. Zum grossen Verantwortungsbewusstsein gehört auch ein ausgeprägter Sinn für Akribie. Jedes Detail und jede kleine Veränderung sind wichtig, nicht isoliert, sondern in der Gesamtbetrachtung. «Wir sind keine Erbsenzähler, aber für die Einordnung im Gesamtrahmen sind eine saubere, korrekte, vollständige und nachvollziehbare Datengrundlage und -aufbereitung notwendig.» Entdeckt Ralph Kienle eine Auffälligkeit, geht er ihr nach, und zwar, bis er eine plausible und zufriedenstellende Antwort darauf erhält. Das Ziel ist, sich allfällig anbahnende Probleme frühzeitig zu erkennen und anzusprechen, um sie nach Möglichkeit bereits im Kleinen zu lösen.

Betreiber und Aufsichtsbehörde als Partner

Zwar versteht er das Verhältnis zu den Stauanlagenbetreibern, welche dem BFE Rechenschaft ablegen, durchaus als partnerschaftlich, dennoch lautet seine Maxime «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser». Die Dokumente müssten klar in der Aussage sein. Falls nötig, empfehle der Betreiber darüber hinaus Massnahmen, oder er erarbeite diese zusammen mit ihm, erklärt Ralph Kienle. «Als abschliessende Stufe in der Überwachung der Sicherheit oder auch bei Projektüberprüfungen wollen wir als Aufsichtsbehörde nichts übersehen, keine Ungereimtheiten zulassen und auch eigene Fehler unbedingt vermeiden.»

Als Bauingenieur ETH war Ralph Kienle Ende der 1990er-Jahre unter anderem an der Projektierung des Lötschberg-Basistunnels beteiligt gewesen. Ausserdem arbeitete er bei einem weiteren Tunnelprojekt mit, bei dem er die Bauleitung einer Baustelle mit einem Tunnelbohrmaschinenvortrieb innehatte. «Tunnelbohrmaschinen hatten mich schon während meines Studiums fasziniert», sagt der Vater zweier Teenager. Allein die Grös­se einer solchen Maschine sei zutiefst beeindruckend. «Und es imponiert mir immer noch, wie fein eine Tunnelbohrmaschine gelenkt werden kann und wie sie dank Vermessungstechnik am Ende genau dort aus dem Berg kommt, wo man geplant hat.» Anfang der Nuller-Jahre wechselte er zum Bundesamt für Verkehr, um fortan in der Sektion Alptransit zu arbeiten. «Dort kam ich im Rahmen der Arbeiten für den Gotthard-Basistunnel bald mit Stauanlagen in Berührung.» Der geplante Tunnel sollte im Raum Sedrun die Staumauern Nalps, Curnera und Santa Maria unterqueren. Aufgrund der Ereignisse beim Sondierstollen Rawil – der 1978 zu einer übermässigen Gebirgsentwässerung in der Region und unzulässigen Verformungen der Staumauer des Lac de Tseuzier geführt hatte – sei man daher auf solche Themen sensibilisiert gewesen, erklärt Ralph Kienle. Aufgrund dieses Ereignisses war auch bekannt, dass die entsprechenden Risiken mit vorsorglichen Massnahmen und intensiver Überwachung beherrschbar sind. Über die Neat-Bauwerke kam er nach ersten Berufserfahrungen im Untertagebau erstmals seit dem Studium wieder in Kontakt mit dem Wasserbau und fand sozusagen über eine Tunnelröhre von der einen zur anderen Fachrichtung.

Vom BAV zum BFE

Schon fast folgerichtig wechselte der Berner 2007 daher quasi eine Tür weiter zum BFE (die Gebäude von BAV und BFE liegen in unmittelbarer Nachbarschaft in Ittigen im Ortsteil Papiermühle), als sich ihm die Möglichkeit dazu bot. «Damals waren wir vier Talsperren-Inspektoren. Jeder hatte über 50 Talsperren in seiner Verantwortung», erzählt der bald 50-Jährige. Aktuell hat das BFE die Aufsicht über 202 Anlagen, sodass Ralph Kienle und seine heute sechs Kolleginnen und Kollegen für jeweils rund 30 Anlagen verantwortlich zeichnen. Er ist froh, dass die Arbeit seit ein paar Jahren auf mehr Schultern verteilt wird. «Als ich beim BFE startete, war ich erst einmal erstaunt, dass es in der Schweiz so viele Stauanlagen gibt.» Höre man diesen Begriff, denke man wahrscheinlich zuerst an Bauwerke wie Grande Dixence oder die Grimsel-Mauern. «Aber die Schweiz ist nicht nur ein Land der Tunnel, sondern auch eines mit vielen Wasserspeichern.»

Ralph Kienle ist für die grossen Stauanlagen in den Kantonen Aargau, Bern, Nidwalden, Obwalden, Schwyz und Zürich zuständig. Diese Anlagen regelmässig zu besuchen und zu inspizieren, ist ein Teil seiner Aufgaben. An 15 bis 20 Tagen im Jahr trifft man ihn daher nicht in seinem Büro beim BFE, sondern auf und in Stauanlagen in «seinen» Kantonen. «Wir inspizieren eine Anlage mindestens alle zwei bis drei Jahre.» Messungen verfolgt er bei diesen Gelegenheiten aber nur, wenn sich seine Wege während einer Inspektion mit jenen eines Talsperrenwärters kreuzen – oder wenn besonderer Bedarf besteht. «Um Messungen vorzunehmen, sind die Talsperrenwärter vor Ort die absoluten Spezialisten», erklärt Ralph Kienle. «Wir sind froh, wenn auf den Anlagen die Messungen über lange Zeit von den gleichen Personen durchgeführt werden. Das erhöht die Resultatqualität. Absehbare Personalwechsel sollten daher immer gut geplant werden.»

Gesunde Physis und keine Angst vor engen Räumen und grossen Höhen

Normalerweise macht sich Ralph Kienle bei diesen Besuchen vor allem ein eigenes Bild des Gesamtzustandes der Anlage. Dabei komme ihm auch zugute, dass er in der Freizeit gerne Ausdauersport betreibe. «Nicht jede Anlage verfügt über einen Lift. Manchmal führt der Weg über lange Treppen oder Böschungen, um ans Ziel zu kommen. Eine gute Kondition ist da ein angenehmer Vorteil.» Fachspezialistinnen und Fachspezialisten Aufsicht Talsperren dürfen auch nicht unter Klaustrophobie oder Höhenangst leiden, sind die Tunnel und Gänge in den Anlagen doch eher niedrig und eng angelegt und Zugänge bisweilen auch noch sehr steil. Das sei vor allem bei den älteren Anlagen der Fall. Stauanlagen neueren Datums verfügten aber über grosszügiger dimensionierte Kontrollgänge. Die «Inspektions-Saison» dauert hauptsächlich von August bis Oktober, weil die alpinen Anlagen dann in der Regel voll sind und sich das Sickerwasser so besser zeigt. Ausserdem seien diese Anlagen zu dieser Jahreszeit auch einfacher – also ohne Touren­ski, Seilbahn oder Helikopter – zu erreichen. Zwar würde Ralph Kienle die Anlagen schon gerne öfter besuchen, «aber dann hätte ich weniger Zeit, um meine Arbeit im Büro zu erledigen. Und besondere Vorkommnisse mal ausgenommen, ist dieser Rhythmus in Ordnung.» Ausserdem gehörten zu jeder Begehung eine sorgfältige Vorbereitung sowie die Nachbearbeitung.

Als eine der interessantesten und spannendsten Anlagen in «seinem» Gebiet bezeichnet Ralph Kienle das Gesamt­ensemble der KWO im Grimselgebiet. «Diese Betonbauten mit den grossen Anlagen aus verschiedenen Epochen haben es mir angetan. Das ist optisch spannend, aber auch bezüglich der Instandhaltung eine Herausforderung.» Nicht, dass er sich je in einer Staumauer verlaufen hätte, aber weil die Anlagen auf der Grimsel im Laufe der Zeit mehrfach erweitert worden sind, ist das Stollennetz für sporadische Besucher etwas unübersichtlich. Er sei daher jeweils dankbar, auf einer Inspektion eine anlagenkundige Begleit- und Auskunftsperson dabeizuhaben, welche ihn nicht nur begleite, sondern ihm überhaupt erst den Zutritt in die Anlagen gewähre. Das BFE ist zwar Aufsichtsbehörde, aber nicht Hausherrin der Anlagen und verfügt entsprechend über keine Schlüssel. Seit 2016 ist Ralph Kienle vermehrt im Oberhasli anzutreffen, da er die Planung und Umsetzung des komplexen Neubaus der Spital­lamm-Mauer eng begleiten kann. «Diese Baustelle direkt vor dem voll funktionstüchtigen Grimselsee ist für alle Beteiligten eine schöne und ganz schön anspruchsvolle Aufgabe.» Natürlich hatten für ihn auch hier Fragen zur Sicherheit oberste Priorität, und zwar nicht nur im Baubewilligungsprozess, sondern auch während des Baus: Die KWO erheben rund um die Uhr, während des ganzen Jahres Überwachungsdaten, werten diese aus, beurteilen das Verhalten der Anlagen und berichten in diesem Fall deutlich fleissiger an die Papiermühle. «Und wenn alles in Ordnung ist, wird planmässig weitergebaut.»

Trotz landschaftlicher Schönheit inklusive exklusiver Baustelle: Eine eigentliche Lieblingsanlage sei «der Grimsel» aber trotzdem nicht, erklärt Ralph Kienle. «Ich besuche jede einzelne Stauanlage gerne, um in diese einzigartigen Welten einzutauchen. Um meine Arbeit gut zu machen, muss ich einfach alle ‹meine› Anlagen gern haben.»


Bildergalerie

Die Bilder zu diesem Artikel entstanden rund um die Stauanlage Wägitalersee und in der Staumauer Schräh im Kanton Schwyz. Wir danken der AG Kraftwerk Wägital für ihre Unterstützung.