Dunkle Wolken ziehen auf

Die Schweiz hat klare, diskriminierungsfreie und EU-kompatible rechtliche Rahmenbedingungen für Ausstellung und Handel von HKN für Strom geschaffen. Sie ist dabei eines der führenden Länder Europas und nimmt aktiv am Handel teil – noch. Denn mit Inkraftsetzung des Clean Energy Package droht der Marktausschluss der Schweizer Herkunftsnachweise in der EU.
04.05.2020
Wolken

Der Herkunftsnachweis (HKN) – er ist das Transparenzinstrument schlechthin. Bei der Stromproduktion wird für jede kWh, die erzeugt wird, ein HKN ausgestellt. Dieser wird später gegenüber dem Endverbraucher in der Stromkennzeichnung verwendet. Denn mindestens einmal im Jahr müssen Endverbraucher in der Schweiz von ihren Stromlieferanten darüber informiert werden, aus welchen Energiequellen der von ihnen konsumierte Strom stammt und ob besagter Strom ursprünglich in der Schweiz oder im Ausland produziert wurde. Dies vor dem Hintergrund, dass die Herkunft des Stroms aus der Steckdose den unterschiedlichen Energieträgern nicht zugeordnet werden, sondern aus einer Vielzahl von Quellen stammen kann.

Über ein vollelektronisches Bilanzierungssystem – das sogenannte Schweizerische Herkunftsnachweissystem (SHKN), betrieben von der Swiss­grid-Tochtergesellschaft Pronovo AG – gelangen die HKN vom Betreiber einer Produktionsanlage via Händler (oder auch direkt) zu einem Stromlieferanten, der die HKN im Anschluss entwertet. Erst mit dieser Entwertung dürfen die Mengen und Energieträger, die sich in Form von HKN auf dem Konto eines Stromlieferanten im Herkunftsnachweissystem befinden, in der Stromkennzeichnung gegenüber dem Endverbraucher ausgewiesen werden. Ist ein HKN im Herkunftsnachweissystem als entwertet gekennzeichnet, darf dieser HKN nicht für weitere Zwecke verwendet werden. Kurz: Bei der Stromproduktion werden HKN ins System ein- und beim Stromverbrauch wieder aus dem System ausgebucht. So wird sichergestellt, dass dieselbe kWh nicht doppelt vermarktet werden kann.

Der HKN ist also vom physischen Stromfluss durchs Netz entkoppelt und  wird separat als eigenständiges Zertifikat gehandelt. Damit dient er als buchhalterische Grösse, die vor Augen führt, aus welchen Energieträgern sich der Stromverbrauch der Schweiz zusammensetzt. Darüber hinaus dient der HKN als Grundlage für die Zusammenstellung ökologisch hochwertiger, auf die Kundenwünsche zugeschnittener Stromprodukte. Der länderübergreifende Handel gewährleistet dabei eine marktliche Preisbildung sowie eine gewisse Angebotsvielfalt und -menge.

Rechtliche Grundlagen in der Schweiz

Seit Inkrafttreten der Uvek-Verordnung über den Herkunftsnachweis und die Stromkennzeichnung im Jahr  2006 sind alle Stromlieferanten gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Endkunden über die Herkunft des gelieferten Stroms zu informieren. Der Endkunde muss dabei den Beleg der Stromkennzeichnung physisch erhalten – zusammen mit der Stromrechnung oder separat. Zusätzlich sind die Stromlieferanten dazu verpflichtet, ihren jährlichen Lieferantenmix und die gesamthaft an ihre Endkunden gelieferte Menge Elektrizität auf der für jedermann zugänglichen Internetseite www.stromkennzeichnung.ch zu publizieren. Der VSE als Branchendachverband sowie die Pronovo AG als HKN-Ausstellerin und Vollzugsstelle betreiben diese Seite seit 2012 gemeinsam, wobei die Internet­adresse vom Bundesamt für Energie  (BFE) bereitgestellt wird.

Die neue Energieverordnung (EnV), welche seit 1. Januar 2018 in Kraft ist, regelt die Stromkennzeichnung im Rahmen der HKSV (Verordnung des Uvek über den Herkunftsnachweis und die Stromkennzeichnung) noch ausführlicher und verbindlicher: Stromlieferanten ist es insbesondere nicht mehr erlaubt, den Endverbrauchern Strom aus «nicht überprüfbaren Energieträgern» (Graustrom) auf der Stromkennzeichnung auszuweisen. Diese sogenannte «vollständige Deklarationspflicht» wurde 2019 erstmals umgesetzt im Rahmen der Stromkennzeichnung für das Jahr 2018 (die Stromkennzeichnung erfolgt immer erst im Folgejahr für das vorangegangene Jahr).

Schweizer HKN im internationalen Kontext

Das System der Herkunftsnachweise ist inzwischen beinahe flächendeckend in ganz Europa umgesetzt und gehört zum Einmaleins der Schweizer Elektrizitätswirtschaft. Mehr noch: Die Schweiz ist punkto HKN eine Pionierin und eines der führenden Länder Europas: Sie handelt seit 2002 mit Zertifikaten, welche die Herkunft des Stroms ausweisen, kennt die Stromkennzeichnungspflicht seit 2006, verfügt über ein vollelektronisches HKN-Abwicklungssystem (SHKN), seit Anfang 2018 gilt die vollständige Deklarationspflicht, und die nationale HKN-Ausstellerin (die heutige Pronovo AG) ist seit ihrer Gründung im Jahr  2002 Vollmitglied im internationalen HKN-Verband AIB (Association of Issuing Bodies, Zusammenschluss der nationalen europä­ischen HKN-Ausstellinstanzen). Auch werden in der Schweiz für alle Stromproduktionsarten HKN erstellt, während viele Länder Europas HKN nur für die erneuerbare Stromproduktion kennen. Doch wie eingangs erwähnt, ziehen trotz all dieser Anstrengungen und Errungenschaften dunkle Wolken auf.

Rechtliche Entwicklung in der EU

Zwar anerkennt auch die EU die Herkunftsnachweise als ein zentrales Transparenzinstrument für die Endkunden, was aus dem Text der entsprechenden Richtlinie im Clean Energy Package klar hervorgeht: «Herkunftsnachweise […] dienen […] dazu, einem Endkunden gegenüber zu zeigen, dass ein bestimmter Anteil oder eine bestimmte Menge an Energie aus erneuerbaren Quellen produziert wurde» (EU-Richtlinie 2018/2001 vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, Renewable Energy Directive, in Kraft seit 24. Dezember 2018). Allerdings werden die EU-Mitgliedstaaten mit Inkraftsetzung ebendieser Richtlinie auch dazu verpflichtet, HKN für Strom aus Drittstaaten nur noch dann anzuerkennen, wenn besagter Drittstaat ein Abkommen mit der EU über die gegenseitige Anerkennung abgeschlossen hat. Die EU-Mitgliedstaaten haben bis am 30. Juni 2021 Zeit, die Vorgaben aus der Richtlinie in natio­nales Recht umzusetzen. Da die Schweiz nicht über ein solches Abkommen verfügt, werden folglich – ceteris paribus – ab 1. Juli 2021 Schweizer HKN für die Stromkennzeichnung in der EU nicht mehr akzeptiert und damit vom Markt ausgeschlossen. Derselbe Marktausschluss droht der Schweiz auch in Norwegen, da das Land im Rahmen seiner Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ebenfalls dazu verpflichtet ist, die Vorgaben des Clean Energy Package in nationales Recht umzusetzen. Wie sich die Lage schliesslich in Bezug auf das Vereinigte Königreich entwickeln wird, ist vor dem Hintergrund der laufenden Verhandlungen mit der EU ungewiss.

Der «Grenzübertritt» der Schweizer HKN in die EU könnte in absehbarer Zeit ausgeschlossen sein.
Der «Grenzübertritt» der Schweizer HKN in die EU könnte in absehbarer Zeit ausgeschlossen sein.

Entgegen getroffenen Anstrengungen verschiedener Schweizer Akteure und ersten anderslautenden Signalen aus der EU war es bislang nicht möglich, die Thematik der gegenseitigen HKN-Anerkennung in einem technischen Abkommen zu regeln. Die Tatsache, dass die Verknüpfung des Schweizer Emissionshandelssystems (EHS) mit jenem der EU (ETS) per 1. Januar 2020 auf technischer Ebene vereinbart werden konnte, könnte ein Präjudiz für eine Regelung auf technischer Ebene der inhaltlich wesentlich weniger komplizierten HKN-Anerkennung sein. Doch die EU pocht als Voraussetzung weiterhin auf einen Abschluss des in­­stitutionellen Abkommens (InstA beziehungsweise Rahmenabkommen).

Auswirkungen

Falls es nicht möglich sein sollte, bis zum 30.  Juni 2021 eine Einigung mit der EU bezüglich der gegenseitigen HKN-Anerkennung auf Basis der neuen EU-Richtlinie zu finden, wären von einer Nichtanerkennung der Schweizer HKN im EU-Raum verschiedene Akteure betroffen.

Stausee Moiry
Einigen sich die Schweiz und die EU nicht, können Schweizer Stromproduzenten (im Bild der Stausee Moiry) nicht mehr am europäischen Stromkennzeichnungsmarkt teilnehmen.

In erster Linie wären die Exporte von Schweizer HKN zwecks Stromkennzeichnung in der EU nicht mehr möglich, was namentlich Betreiber von Produktionsanlagen erneuerbarer Energien – insbesondere aus Quellen der Wasserkraft – und/oder HKN-Händler betrifft, die am europäischen Stromkennzeichnungsmarkt teilnehmen und weiter teilnehmen möchten. Denn es ist davon auszugehen, dass mit Inkraftsetzung der erwähnten EU-Richtlinie zur Förderung erneuerbarer Energien ebendieser europäische Stromkennzeichnungsmarkt weiter stark wachsen wird.

Zumindest theoretisch sollte es trotz fehlenden HKN-Anerkennungsabkommens mit der EU weiterhin möglich sein, die Märkte ausserhalb der Stromkennzeichnung zu bedienen. Dazu gehören insbesondere HKN-Bezüge durch grosse multinationale Firmen im Zusammenhang mit Unternehmens-Umweltreportings und Unternehmens-CO2-Fussabdrücken. Hier wird aber entscheidend sein, ob die Akzeptanz der Schweizer HKN im Gesamtmarkt auch nach einem Ausschluss vom Teilmarkt der europä­ischen Stromkennzeichnung weiterhin gegeben sein wird und dass die Abwicklung wie bis anhin über das internationale Abwicklungssystem der AIB läuft. Die Abwicklung über die AIB ist per se zwar keine Voraussetzung für die Bedienung dieser Absatzmärkte, jedoch erleichtert und beschleunigt deren AIB Central Hub als elektronischer Abwicklungskanal mit gemeinsamen HKN-Standards den Marktzugang massgeblich.

Ferner würden durch die Aberkennung der Schweizer HKN in der EU die Preise der Schweizer HKN im Inland unter Druck geraten, da durch die wegfallenden Export- und unveränderten Importmöglichkeiten deren Angebot vergrössert würde. Dadurch würden insbesondere jene Erträge leiden, die für den ökologischen Mehrwert der einheimischen erneuerbaren Energien hätten erzielt werden können. Damit würde ein an und für sich funktionierendes Marktinstrument beschnitten. Dies ausgerechnet in einer Zeit, in der zwecks Gewährleistung der langfristigen Versorgungssicherheit die Rahmenbedingungen für die einheimischen erneuerbaren Energien eigentlich verbessert und Investitionen wieder vermehrt in der Schweiz und nicht im Ausland getätigt werden sollten.

Windturbine
Fällt die Anerkennung der Schweizer HKN durch die EU weg, würden jene Erträge vermindert, die für den ökologischen Mehrwert der einheimischen erneuerbaren Energien hätten erzielt werden können.

Durch eine Privilegierung einheimischer erneuerbarer Energien könnte diesen Umständen teilweise Rechnung getragen werden. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist der im Rahmen der Vernehmlassung zur Revision des StromVG im Oktober  2018 durch den Bundesrat erstmals vorgeschlagene Ansatz des erneuerbaren Standardprodukts für die Grundversorgung: Endkunden, die trotz vollständiger Strommarktöffnung (freie Stromlieferantenwahl) in der geschützten Grundversorgung bleiben möchten, sollten demnach künftig standardmässig ausschliesslich Strom aus der Schweiz erhalten, der zu einem Mindestanteil aus erneuerbaren Energien stammen muss.

Am 3. April 2020 schliesslich hat der Bundesrat im Rahmen seiner Publikation der Eckpunkte zur Revision des StromVG diesen Ansatz bestätigt und den oben erwähnten Mindestanteil erneuerbarer Energien auf 100% erhöht. Würde diese Regelung nach der parlamentarischen Debatte tatsächlich eingeführt, ermöglichte dies für die im Rahmen der Grundversorgung abgesetzte HKN-Menge einen in einem gewissen Mass gesicherten Absatz. Hier muss allerdings bemerkt werden, dass aus Sicht des VSE diese Absatzmenge bei einer Marktöffnung dennoch zu klein und zu unsicher wäre, um tatsächlich Wirkung zu zeigen und die erhofften Signale für die nötigen Investitionen auszulösen. Eine Produktvorgabe würde zudem in die unternehmerische Freiheit einzelner Marktakteure eingreifen.

Um dem drohenden Marktausschluss der Schweizer HKN in der EU entgegenzuwirken, wäre in Anwendung von Symmetrie und Reziprozität – in Analogie zu dem punkto Börsenäquivalenz gewählten Vorgehen der Schweiz – die gleichzeitige Aberkennung der EU-HKN in der Schweiz theoretisch denkbar. Was die Importe von EU-HKN für die Schweizer Stromkennzeichnung angeht, so haben insbesondere die folgenden zwei Kundengruppen einen Bedarf: Stromproduzenten und -lieferanten, welche Investitionen in Produktionsanlagen erneuerbarer Energien im europäischen Ausland getätigt haben und die HKN aus diesen Anlagen beziehen können und wollen, sowie Stromlieferanten, die zur Erfüllung der erwähnten vollständigen Deklarationspflicht neben Schweizer HKN auch auf HKN aus der EU angewiesen sind. Eine Aberkennung der EU-HKN in der Schweiz hätte folglich auf verschiedenen Ebenen gewichtige Auswirkungen. Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens gälte es daher gut abzuwägen.

Es braucht einen gemeinsamen Plan

Der VSE weist bereits seit geraumer Zeit darauf hin, dass sich die Rahmenbedingungen für die Schweizer Stromkonsumenten und Stromunternehmen aufgrund des fehlenden Stromabkommens mit der EU zusehends verschlechtern. In Europa werden Stromgrenzen abgebaut und der Strombinnenmarkt gestärkt, aber die Schweiz steht abseits – obwohl sie wie kein anderes Land physisch in das europäische Verbundnetz integriert ist. Die Folgen: Die Schweiz wird aus Märkten und Gremien ausgeschlossen, durch den steigenden grenz­überschreitenden Stromaustausch in Europa belasten ungeplante Stromflüsse zunehmend das Schweizer Übertragungsnetz, und um die Netzstabilität aufrechterhalten zu können, muss Swissgrid immer stärker und zu immer höheren Kosten in den Netzbetrieb eingreifen. Die drohende einseitige Aberkennung der Schweizer HKN im EU-Markt ist ein weiteres Beispiel, das diese deutlichen Veränderungen der Rahmenbedingungen veranschaulicht. Es ist an der Zeit, dass sich Bundesverwaltung, Politik und Branche mit der sich verschärfenden Situation vertieft auseinandersetzen und Lösungen erarbeiten, wie mit dieser Entwicklung umzugehen ist. Der VSE ist daran, diese Themen aufzuarbeiten. Denn mit der Weiterentwicklung des Rechtsrahmens in der EU wird sich die Situation weiter zuspitzen. Diesen Unwägbarkeiten, inklusive dem drohenden Marktausschluss im Bereich der Schweizer HKN, ist entgegenzutreten. Es eilt – die dunklen Wolken kommen immer näher.

Raphael Zwahlen, Experte Energiewirtschaft VSE

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