Die nächste Dekade ist entscheidend, nicht jene danach

Der Gesetzesentwurf für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien liegt bei der betreffenden Ständeratskommission auf dem Tisch. Die Herausforderungen sind kolossal. Die Interessenabwägung steht im Mittelpunkt der Debatten und Kompromisse beim Landschaftsschutz und bei der Biodiversität scheinen möglich. Interview mit Ständerätin Adèle Thorens Goumaz.
22.02.2022

Welche Aspekte der Energie- und Klimastrategie sind Ihnen bei der Beratung des Mantelerlasses besonders wichtig?

Adèle Thorens Goumaz: Das Gesetz legt völlig unzureichende Ausbauziele für die erneuerbaren Energien fest, und das geplante Ausbautempo ist zu langsam. Wir brauchen einen drastischen und raschen Anstieg der Produktion, sowohl aus Sicht der Versorgungssicherheit als auch in Bezug auf die Erreichung unserer Klimaziele. Das kommende Jahrzehnt ist entscheidend, nicht das darauffolgende. Der Bundesrat hat für 2035 für die erneuerbaren Energien mit Ausnahme der Wasserkraft ein Ziel von 17 000  GWh festgelegt. Wir sind der Meinung, dass dieses Ziel doppelt so hoch sein müsste. Das Potenzial bei der Sonnenenergie ist beträchtlich und wird unterdurchschnittlich genutzt. Swissolar schätzt, dass ein allgemeines Ziel von mindestens 30 000  GWh bis 2035 sinnvoll wäre und dass davon mindestens 25 000  GWh auf die Photovoltaikenergie entfallen könnten.

Aber wie kommen wir konkret dahin?

Die Förderung muss verstärkt werden. Es liegen mehrere Vorschläge auf dem Tisch für eine Rückkaufregelung, die erlauben soll, die erforderlichen Investitionen auszulösen. Ich hoffe, dass wir uns auf eine Fassung einigen können, die konkrete Auswirkungen hat. Ich spreche mich auch für Vorschriften aus. Neubauten, deren Dächer eine geeignete Ausrichtung aufweisen, müssten systematisch mit Photovoltaikmodulen ausgestattet werden. Unnötige Hindernisse müssen beseitigt und die Verfahren vereinfacht werden; auch für Anlagen auf Fassaden und Flachdächern in unkritischen Bereichen. Ausserhalb der Wohnzonen müssten Photovoltaikmodule überall dort rasch installiert werden können, wo es Möglichkeiten zur Stromgewinnung gibt: Verkehrswege, Lärmschutzwände, Strassen- und Bahnanlagen usw. Des Weiteren ist es wichtig, Photovoltaikmodule in Höhenlagen anzubringen, oberhalb der Nebelgrenze, vor allem auf Stauseen und an Infrastrukturen.

Einige von uns wünschten sich, dass die Energieproduktion keine Beeinträchtigungen mit sich brächte, aber das ist ein Wunschtraum.

Sind erneuerbare Energien jetzt von der Retterin zur Gegnerin geworden?

Einige von uns wünschten sich, dass die Energieproduktion keine Beeinträchtigungen mit sich brächte, aber das ist ein Wunschtraum. Alle Produktionsformen führen zu bestimmten Beeinträchtigungen. Wir müssen das akzeptieren, auch wenn es äusserst unangenehm ist, im Wissen, dass sich die Klimakrise noch viel stärker auf Landschaft und Biodiversität auswirken wird, wenn wir die erneuerbaren Energien nicht rasch ausbauen. Allerdings gibt es eine Möglichkeit, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und das Klima zu schützen, die Anwohner wie Umwelt schont: Energieeffizienz und Energieeinsparung. Vielleicht gäbe es weniger Kontroversen bei den Grossanlagen, wenn wir anfingen, weniger Energie zu verschwenden. 

Planen Sie diesbezüglich konkrete Vorschläge einzureichen?

Ja, das haben wir während der Behandlung des Gesetzes vor. Gemäss Berechnungen der Industriellen Betriebe Genf (SIG) könnten bis zu 12 000  GWh Strom eingespart werden, wenn das Programm Eco21 auf die ganze Schweiz ausgedehnt würde – dieser Strom müsste dann nicht mehr produziert werden. Ausserdem bin ich der Meinung, dass die Entwicklung gewisser Projekte fehlerhaft ist. Nach der Einführung der KEV galt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Im Eilzugstempo wurden viele Projekte eingereicht, ohne ihrer Integration und ihrer Akzeptanz seitens der Anwohner viel Beachtung zu schenken. Das hat Spuren hinterlassen. In anderen europäischen Ländern gibt es Projekte, die von lokalen Akteuren mit und für die betroffene Bevölkerung entwickelt werden. Die Anwohner werden also voll und ganz in die Projekte eingebunden. Und genau so sollte es sein.

Wie lassen sich Biodiversität, Landschaft und Versorgungssicherheit miteinander vereinbaren?

Zunächst müssen wirksame Möglichkeiten geschaffen und Hindernisse beseitigt werden, um prioritär die Anlagen errichten zu können, die für die Landschaft und für die Artenvielfalt unproblematisch sind, insbesondere in den Bauzonen und auf Infrastrukturen. Es gibt ein enormes Potenzial, das nicht ausgeschöpft wird. Klar ist, dass es in Fällen, in denen viel Strom erzeugt werden kann und bei denen es sich lohnt, lokale Beeinträchtigungen zur Verhinderung viel grösserer globaler Schäden in Kauf zu nehmen, Kompromisse braucht. Die Landschaft wird subjektiv wahrgenommen und entwickelt sich weiter. Viele Landschaften, die wir schätzen, sind aus grösseren menschlichen Eingriffen in die Umwelt entstanden.

Der runde Tisch mit Behörden, Vertretern der Strombranche und NGOs aus dem Umweltschutzbereich zeigt, dass konstruktive Kompromisse möglich sind.

So ist das Lavaux etwa das Ergebnis einer intensiven Nutzung der Natur durch den Menschen. In den Diskussionen zum Windkraftprojekt im Vallée de Joux überraschte mich die Aussage einiger Personen, dass sich die Masten gut in die «industrielle Landschaft» der Region einfügten. Andere sagten, die Windräder machten die Kraft des Windes sichtbar, weshalb sie die Anlagen schön fänden. Hätten unsere Vorfahren damals, als die Staudämme errichtet wurden, nicht ähnlich gedacht, sondern sich dagegen gewehrt, wäre unser Land heute viel abhängiger von der Kernenergie und von fossilen Energieträgern. Heute ziehen die Staudämme – wie Monumente – viele Besucherinnen und Besucher an. Sie sind Bedeutungsträger für die Betrachter und fügen sich in deren Wahrnehmung der Landschaft positiv ein. 

Und Punkto Biodiversität: Sind Kompromisse möglich?

Punkto Biodiversität vertrete ich die Meinung, dass es Ausgleichsmassnahmen braucht, wenn lokale Beeinträchtigungen unumgänglich sind. Es sei nochmals betont, dass dies nur für Grossprojekte zu rechtfertigen ist, die bei der Stromerzeugung viel bewirken. Der runde Tisch mit Behörden, Vertretern der Strombranche und NGOs aus dem Umweltschutzbereich, der vor Kurzem stattgefunden hat und an dem eine Liste mit Grossprojekten erstellt wurde, zeigt, dass konstruktive Kompromisse möglich sind. Übrigens stammen die meisten Beschwerden nicht von Umwelt-NGOs, sondern von Anwohnerinnen und Anwohnern.

Ihre Partei setzt stark auf die Sonnenenergie, die alleine aber nicht ausreichen wird. Müssen wir uns letztlich doch mit anderen Lösungen wie beispielsweise Gaskraftwerken abfinden?

Die Grünen unterstützen nicht nur die Sonnenenergie. Auch Windkraft und Biomasse haben ihren Platz, und es besteht weiteres Potenzial bei der Wasserkraft, insbesondere bei der Speicherung. Diese Technologien ergänzen sich, und gute Projekte müssen umgesetzt werden. Die Grünen unterstützen unter diesem Blickwinkel die Vorschläge von Simonetta Sommaruga, um die Behandlung von Beschwerden zu vereinfachen und zu beschleunigen. Allerdings bin ich gegenüber Projekten wie Powerloop äusserst skeptisch. Einerseits bezweifle ich, dass dieses Projekt mit unseren klimatischen Verpflichtungen vereinbar ist. Es könnte – zumindest mit den heutigen Technologien – nicht nur auf klimaneutralem Gas, etwa aus Biomasse, basieren. Andererseits habe ich auch meine Zweifel, ob sich Investoren finden lassen, die bereit sind, sich für ein System einzusetzen, das grundsätzlich nur als «Versicherung» dienen sollte. Meiner Meinung nach ist die beste Antwort auf die heutigen Herausforderungen, auch kurzfristig, ein massiver und rascher Ausbau der Photovoltaik.

Wir benötigen beträchtliche Investitionen, aber es handelt sich um Investitionen, nicht um Kosten.

Wie wollen Sie die Energiewende finanzieren?

Wir benötigen beträchtliche Investitionen, aber es handelt sich um Investitionen, nicht um Kosten. Ganz im Gegensatz zu den enormen Beträgen, die wir für die Bewältigung der Klimakrise bereitstellen müssen. Der Privatsektor ist ein wichtiger Akteur, der sich an diesen Investitionen beteiligen muss. Allerdings müssen sich die Gemeinwesen in Anbetracht der Notlage, in der wir uns befinden, und des Umfangs der durchzuführenden Arbeiten weit mehr einbringen, als sie das bis jetzt getan haben. Die Obergrenze des Netzzuschlags, der momentan bei 2,3 Rp/kWh fixiert ist, muss auf jeden Fall angehoben werden. Aber der Bund müsste auch selbst Mittel zur Verfügung stellen oder einen Ad-hoc-Fonds schaffen, wie dies die von den Grünen und der SP lancierte Volksinitiative vorsieht. Der private und der öffentliche Sektor werden davon profitieren, da der Ausbau der erneuerbaren Energien in unserem Land eine grosse Wertschöpfung bewirken wird. Swissolar geht davon aus, dass es in der Solarbranche dreimal mehr Arbeitsplätze brauchen wird als heute, was über 20 000 zusätzliche Vollzeitstellen bedeutet. Die Elektrifizierung unserer Wirtschaft wird auch erlauben, die Milliarden an Franken, die wir jedes Jahr für die Beschaffung fossiler Energieträger im Ausland ausgeben, einzusparen. Die können wir bei uns besser investieren.

Adèle Thorens Goumaz

Die Waadtländer Ständerätin Adèle Thorens Goumaz setzt sich dafür ein, dass die Schweiz punkto nachhaltiger Bewirtschaftung von Ressourcen und grüner Wirtschaft eine führende Rolle übernimmt. Als Vizepräsidentin der Urek-S sind ihre Schwerpunkte insbesondere die Energiewende und das Klima, die Landwirtschaft und die Biodiversität.

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