«Die Krise macht deutlich, wie fundamental wichtig die Versorgungssicherheit ist»

Am 19. Mai 1895 haben in Aarau die 16 bedeutendsten Werke der Schweiz den Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen gegründet. Doch statt Jubiläumsfestivitäten sind im Mai 2020 Homeoffice und Krisenregime angesagt. Wir haben Michael Wider, Präsident VSE, und Michael Frank, Direktor VSE, gefragt, was der Verband aus der Krise lernt – und was ihn sonst herausfordert.
18.05.2020

Michael Wider, im Mai wollte der VSE sein 125-jähriges Bestehen feiern – doch es kam alles ganz anders. Was nimmt der Verbandspräsident aus der Corona-Krise mit?

Zunächst einmal stelle ich fest, dass die Branche sehr gut vorbereitet war auf diese Krisensituation – und sie bis jetzt gut gemeistert hat. Das ist ein grosser Verdienst unserer Mitgliedsunternehmen, der Produzenten, Verteilnetzbetreiber usw. und all ihrer Mitarbeitenden. Denn: Es ist kaum auszudenken, wie verheerend die Situation in der Schweiz hätte werden können, wenn es aufgrund der Krise zu einem grösseren Stromausfall gekommen wäre. Die Versorgungssicherheit ist in der Schweiz zur Selbstverständlichkeit geworden, doch das ist sie nicht – vor allem nicht in einer solchen Situation. Wir haben auch in der Vergangenheit immer wieder betont, dass der Versorgungssicherheit mehr Rechnung getragen werden muss – und ich hoffe, die Corona-Krise wird allen deutlich machen, wie fundamental wichtig für uns als Gesellschaft die Verfügbarkeit dieser kritischen Infrastruktur ist.

In der Energiepolitik ist ja jetzt mit der Revision des Energie- und des Stromversorgungsgesetzes ein guter Moment, die richtigen Entscheide dazu zu treffen.

So wie ich das jetzt sehe, steht die Robustheit der Versorgungssicherheit der Schweiz noch zu wenig im Zentrum. Paradoxerweise kann ja diese Versorgungssicherheit trotz ihres enormen Wertes für die Wirtschaft und Gesellschaft in der Schweiz keinen entsprechenden Preis erzielen. Der Strommarkt muss so gestaltet sein, dass der Wertbeitrag erneuerbarer Produktionsformen – dazu gehört auch die Wasserkraft – zur Versorgungssicherheit angemessen honoriert wird; haben wir doch in der Schweiz eine fast vollständig CO2-freie Stromversorgung. Es fehlen aber die Rahmenbedingungen für ausreichend inländische Produktion von erneuerbarer Energie, und es fehlen weiterhin Investitionsanreize. Das muss in diesen Gesetzgebungen korrigiert werden. Förderinstrumente für erneuerbare Energien müssen der ökonomischen Realität bezüglich der Investitionsanreize besser Rechnung tragen. Und noch etwas: Die Pandemie hat uns auch deutlich gezeigt, dass nationale Interessen in der Krise immer vor der internationalen Solidarität stehen. Wir tun also gut daran, eine Zukunft zu gestalten, in der wir eine starke inländische, erneuerbare Produktion haben.

Was muss sich der Verband aus Sicht des Präsidenten für die nächsten 125 Jahre noch zu Herzen nehmen?

Die kommenden Jahre stehen im Zeichen der Dekarbonisierung. Und Dekarbonisierung heisst Elektrifzierung. Der Branche bieten sich jetzt unzählige Chancen, vor allem im Zusammenhang mit Digitalisierung und Dezentralisierung. Dazu muss sie aber beweisen, dass sie sich weiterentwickeln und innovativ sein kann. Denn die Branche kann die Energiezukunft nur mit Innovationswille und Mut mitgestalten. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, öfters ein, zwei Schritte zurückzustehen, damit wir gesamtheitliche, übergeordnete Lösungen finden, die für Kunden, die Gesellschaft, die Schweiz nachhaltig und zukunftsgerichtet sind. Mit andern Worten, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht aus den Augen verlieren. Die anstehenden Herausforderungen sind gross, komplex und interdisziplinär. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, diese Herausforderungen faktenbasierter und weniger dogmatisch anzugehen. Auch im Verband müssen wir fähig sein, uns weiterzuentwickeln und zusammenzurücken. Sonst stehen wir still. Einen Konsens zu finden, ist oft ein schwieriger Prozess. Wir müssen darin mutig sein und zukunftsorientiert handeln.

Michael Frank, welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die VSE-Geschäftsstelle?

Den grössten Impact spüren wir natürlich im Weiterbildungs- und Veranstaltungsbereich, der für den Verband sehr wichtig ist. Nicht nur Generalversammlung und Jubiläum fallen ins Wasser, auch zahlreiche Tagungen und Kurse. Wo immer möglich, führen wir unsere Weiterbildungsangebote online durch. Hier bieten sich auch eine gute Spielwiese und viele Chancen für zukünftige Unterrichtsformen. Mit dem Corona-Forum für EVUs haben wir zudem gleich zu Beginn der Krise eine digitale Austauschplattform für die Branche geschaffen. Gefreut hat mich, dass der Verband in Sachen Digitalisierung und IT-Infrastruktur gewappnet war, um auch virtuell einwandfrei funktionieren zu können – so laufen die Vernehmlassungsprozesse usw. zwar digital, aber mit dem gleichen Tempo weiter. Auch die Kommissionen tagen und arbeiten weiterhin über unsere digitalen Plattformen. Und die Erfahrungen sind bis jetzt gut.

Was wird den VSE den Rest des Jahres – nebst Corona – beschäftigen?

Aktuell beschäftigt uns vor allem die Stellungnahme zur Revision des EnGs. Da der Markt, wie der Präsident  bereits erwähnt hat, nicht genügend Investitionsanreize schaffen wird, braucht es für die Umsetzung der Energiestrategie eine weitere Förderung. Aber auch die Themen Klima, Dekarbonisierung und Biodiversität werden uns weiterhin stark beschäftigen. Wir sehen, dass sich der Konflikt zwischen Schutz und Nutzen zunehmend akzentuiert. Wer aber die Energiewende will, muss auch ertragen, dass sie stattfindet. Das heisst, wir haben die Verantwortung, das Potenzial der Erneuerbaren in der Schweiz zu nutzen.