«Der Systemstress nimmt zu»

Mit dem «Stern von Laufenburg» schlug 1958 die Geburtsstunde des europäischen Verbundnetzes. Physisch ist die Schweiz in diesem Stromnetz nach wie vor mittendrin. Politisch hingegen stehen Swissgrid und damit die ganze Strom-Schweiz immer stärker im Abseits. Jörg Spicker, Senior Strategic Advisor bei Swissgrid, erklärt, was dagegen getan werden sollte.
22.04.2021

Jörg Spicker, Texas hat gezeigt: Ein abgeschottetes Stromnetz kann zusammenbrechen. Europa hat aber ein Verbundnetz. Was macht ein solches Konstrukt resilient?

Jörg Spicker: Ein Verbundnetz wie in Europa hat erhebliche Vorteile: Die grosse Anzahl Kraftwerke im vermaschten Verbundnetz bewirkt, dass der Ausfall eines einzelnen Kraftwerks leichter bewältigt werden kann. Dank der engen Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern können Kraftwerksausfälle – aber auch Überproduktionen – kompensiert werden. Es besteht also ein grösserer Puffer, um Schwankungen im Netz auszugleichen.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Das System hat durch die rotierenden Massen all der Generatoren und Turbinen der konventionellen Stromerzeuger eine gewisse Trägheit. Kurzfristig erzeugt schon dies – ohne gezielte Eingriffe – eine gewisse Stabilisierung der Netzfrequenz. Weiter steht im Ver­bundnetz genügend flexible Erzeugung zur Verfügung. Flexible Gas- oder Wasserkraftwerke sowie zunehmend auch technische Massnahmen wie beispielsweise Lastmanagement gleichen die Schwankungen im Netz aus. Für die Systemstabilität im gesamten europä­ischen Verbundnetz sind sie von zentraler Bedeutung. Aus diesen Gründen kann in einem grossen Verbundnetz eine höhere Versorgungssicherheit zu geringeren Kosten erzielt werden. Es müssen allerdings geeignete Massnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass technische Störungen in einem Teil des Netzes durch Kaskaden­effekte auf andere Regionen übergreifen. Die Netz- und Versorgungssicherheit der verbundenen Länder hängt gegenseitig voneinander ab. Der Stromaustausch mit den europäischen Nachbarn ist systemrelevant und spielt eine zentrale Rolle für die Versorgungssicherheit der Schweiz. Und: Ein resilientes Stromsystem braucht auch genügend inländische Produktion – vor allem in den Wintermonaten –, eine moderne Netzinfrastruktur sowie verlässliche Speicher.

Wie sehen Sie das Stromland Schweiz? Ist es eine Stromdrehscheibe oder eine politische Strominsel?

Das Schweizer Stromnetz verbindet als zentraler Teil des europäischen Ver­bundnetzes den Norden mit dem Süden und den Westen mit dem Osten Europas. Die Alpen agieren dabei als wichtiger Energiespeicher für ganz Europa: In den Schweizer Speicherseen sind grosse Mengen an Energie gespeichert, die bei Bedarf genutzt werden können. Physisch ist die Schweiz so stark wie kein anderes Land in das europäische Ver­bundnetz integriert. Sie ist mit 41 Grenzleitungen eng mit ihren Nachbarländern vernetzt. Als Stromdrehscheibe leistet sie einen Beitrag zur Sicherheit der europäischen Stromversorgung. Im Auftrag von Entso-E, dem Verband europäischer Übertragungsnetzbetreiber, übernimmt Swissgrid als Koordinationszentrum für Süd­europa eine zentrale Rolle, um das europäische Netz im Gleichgewicht zu halten. Dazu werden verfügbare Transportkapazitäten an die Partnernetzbetreiber vergeben – und drohende Überlastungen verhindert. Höchstes Ziel ist stets die Sicherstellung der Stromversorgung – und dies nicht nur für die Schweiz.

Die Schweiz ist so gesehen also mittendrin. Und doch ist sie irgendwie nicht richtig dabei. Warum?

Während die EU mit der Implementierung des dritten Binnenmarktpakets fortschreitet, entfernen sich die dort festgelegten Regeln für den Netz- und Marktbetrieb immer weiter von den entsprechenden Schweizer Regularien. Diese Schere wird sich – ohne Strom­abkommen – angesichts der bereits begonnenen Implementierung des «Clean Energy Packages» weiter öffnen. Die Schweiz wird zunehmend aus wichtigen Prozessen ausgeschlossen und steht entsprechend isoliert da. Eine politische Strominsel muss aber unbedingt vermieden werden. Denn eine losgelöste Schweiz, selbst wenn die Abnabelung schrittweise und geordnet geschähe, wäre viel fragiler und verletzlicher in Bezug auf die Versorgungssicherheit. Es ist daher absolut zentral, dass die Schweiz nicht zum reinen Transitland verkommt, sondern der Zugang zum europäischen Strombinnenmarkt sichergestellt ist. Dafür braucht es aber ein Stromabkommen mit der EU.

Die Umsetzung der Energiewende bedeutet in ganz Europa weniger konventionelle Kraftwerke, fossile Kraftwerke und KKWs. Warum ist das aus Sicht des Netzes problematisch?

Durch den Abbau konventioneller Kraftwerksleistung reduziert sich die im Netz befindliche Trägheit des Systems. Das heisst, dass weniger der erwähnten «rotierenden Massen» in den Generatoren und Turbinen zur Stabilisierung der Netzfrequenz zur Verfügung stehen. Je weniger Kraftwerke synchron am Netz sind, desto empfindlicher reagiert das System auf Störungen. Dies umso mehr, je weniger steuerbar diese Kraftwerke sind. Es müssen frühzeitig Massnahmen ergriffen und Alternativen entwickelt werden, um das Sicherheitsniveau des Gesamtsystems der Stromversorgung bei einem weiteren Ausbau nicht steuerbarer Erzeugung im gewohnt hohen Mass zu gewährleisten. Hierzu gibt es verschiedene Ansätze, welche die Übertragungsnetzbetreiber in Europa verfolgen. Auch die 2020 von Swiss­grid in einem Konsortium mit Übertragungsnetzbetreibern aus den Niederlanden und Deutschland sowie aus Italien lancierte Crowd-Balancing-Plattform «Equigy», mit der flexible kleine Erzeugungs- und Lastquellen dem Markt für Systemdienstleistungen verfügbar gemacht werden, gehört dazu.

Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Versorgungssicherheit in der Schweiz?

Der Abbau an gesicherter Kapazität im europäischen Umfeld wird sich insgesamt negativ auf die Importfähigkeit der Schweiz auswirken. Die stark vernetzte Schweiz hängt von den Gegebenheiten in den Nachbarstaaten ab. Die EU verfolgt weiterhin das Ziel der Vollendung des Binnenmarktes für Strom. Einzige Einschränkung ist die Transportkapazität der Leitungen. Jedes Land kann bei Netzproblemen die Import- oder Exportkapazität einschränken. Es ist davon auszugehen, dass im Fall von Engpässen die Solidarität zuerst unter den EU-Mitgliedstaaten spielt und die Schweiz erst danach beliefert würde. Ohne Stromabkommen mit der EU sind die Importfähigkeit aus der EU und die Exportwilligkeit der EU infrage gestellt.

Mindestens 70 Prozent der grenz­überschreitenden Kapazitäten müssen künftig für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reserviert werden. Warum ist das für die Schweiz ein Problem?

Neu müssen unsere Nachbarländer seit dem 1. Januar 2020 respektive nach einer Übergangsfrist bis spätestens 31. Dezember 2025 mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reservieren. Flüsse mit Drittstaaten wie der Schweiz zählen grundsätzlich nicht zu diesen 70 Prozent. Hieraus resultieren für die Schweiz mehrere Herausforderungen: Zum einen ist eine Zunahme des Handels innerhalb der EU zu erwarten. Solange die Schweiz nicht adäquat in die dazu notwendigen Kapazitätsberechnungsprozesse einbezogen wird, erwarten wir in Folge eine Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz. Ohne Stromabkommen drohen demnach häufiger als auch schon Situationen, in denen Netzelemente von Swissgrid überlastet werden. Swissgrid muss dann in den Systembetrieb eingreifen, um das Netz stabil zu halten. Das ist mit Aufwand und Kosten verbunden, und zunehmend stellen sich Fragen der Verfügbarkeit dieser sogenannten «Remedial Actions», da sie in der Schweiz im Wesentlichen aus Wasserkraft bedient werden. Wasserkraft wird aber auch für die Versorgung, für Regelenergie und zukünftig allenfalls auch für eine Speicherreserve benötigt. Man kann Wasser aber nur einmal turbinieren, so dass diese Ressourcen insbesondere im Winter definitiv begrenzt sind. Eine weitere Heraus­forderung betrifft unsere Nachbarländer: Sollten diese Probleme haben, die 70-Prozent-Regel zu erfüllen, besteht ohne Stromabkommen die Gefahr, dass sie die Grenzkapazität zur Schweiz einseitig limitieren, um das Kriterium für den Handel innerhalb der EU zu erfüllen. Sie werden also ihre internen Netzengpässe zeitweise auf Kosten der Exportkapazitäten für die Schweiz entlasten müssen. Dies, um einen vermehrten Einsatz von Redispatch auf eigene Kosten zu vermeiden. Damit werden die Importkapazitäten der Schweiz potenziell massiv beschnitten, ohne dass wir etwas dagegen tun können.

Ohne Stromabkommen mit der EU sind die Importfähigkeit aus der EU und die Exportwilligkeit der EU infrage gestellt

«Ungeplante Stromflüsse» klingt nach einem organisatorischen Unfall. Swissgrid plant doch auf Stunden genau. Können Sie das Phänomen und seine Konsequenzen erklären?

Strom sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstands. Wenn Strom an einem Ort erzeugt wird, um einen Endverbraucher an einem anderen Ort zu versorgen, sollte er hauptsächlich über jene Stromleitungen zwischen den beiden Orten fliessen, die den kürzesten Weg darstellen. Ist der Weg jedoch «verstopft» (zum Beispiel wegen unzureichender Netzinfrastruktur) oder bestehen Engpässe, nimmt er einen Umweg, um die Blockade zu umgehen. Dies kann dazu führen, dass Strom durch die Netze von Nachbarländern fliesst. Solche «ungeplanten Flüsse» sind somit primär ein technisches und/oder infrastrukturelles Problem. Die Einführung der flussbasierten Marktkopplung in allen Nachbarländern der Schweiz sowie die Umsetzung des «Clean Energy Package» und der 70-Prozent-Regel führen aufgrund der starken Vernetzung der Schweiz mit dem benachbarten Ausland voraussichtlich zu einer Zunahme der bereits heute erheblichen ungeplanten Flüsse durch die Schweiz. Diese Stromflüsse «verstopfen» unsere grenzüberschreitenden Leitungen und führen so zu einer potenziellen Verringerung der Importfähigkeit der Schweiz. Der fehlende Einbezug in die europäischen Koordinationsprozesse wirkt sich also negativ auf den Netzbetrieb und die Versorgungssicherheit aus.

Was unternimmt Swissgrid, um diese negativen Auswirkungen abzumildern? Und was tun die europäischen Übertragungsnetzbetreiber? Ein gesicherter Netzbetrieb in der «Stromdrehscheibe» ist ja auch im Interesse der EU.

Swissgrid arbeitet mit den europä­ischen Übertragungsnetzbetreibern an einer möglichst weitgehenden Inklusion der Schweiz in netzsicherheitsrelevante Prozesse, die in der EU gesetzlich vorgeschrieben sind. Hierzu verhandelt sie privatrechtliche Verträge. Mit solchen vertraglichen Regelungen der Grenzbewirtschaftung unter den Übertragungsnetzbetreibern sowie einer Harmonisierung der Sicherheits- und Betriebsstandards wird die Sicherheit im Stromnetz verbessert. Davon profitieren sowohl die Schweiz, deren Nachbarstaaten als auch die EU. Nur in gemeinsamer Abstimmung funktioniert das System reibungslos. Zum heutigen Zeitpunkt ist allerdings offen, ob der Abschluss dieser Verträge gelingen wird. Denn diese unterliegen der Genehmigung aller Regulatoren der EU. Bei Nichteinstimmigkeit entscheidet Acer, die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden.

Zusammengefasst: Wie gravierend ist die Situation für die Schweiz aus Sicht der mittelfristigen Versorgungssicherheit?

Der Systemstress nimmt angesichts der beschriebenen Herausforderungen zu. Es kann erwartet werden, dass sich die Intensität dieser Herausforderungen bis Ende 2025 stark steigern wird, da die 70-Prozent-Regel bis dann voll umgesetzt sein muss. Diese Herausforderungen können ohne politische Unterstützung nicht vollumfänglich gemeistert werden, denn seit 2014 macht die EU den Abschluss eines institutionellen Abkommens zur Bedingung für den Abschluss eines Stromabkommens. Die Schweiz ist also zunehmend aus wichtigen Prozessen ausgeschlossen und steht isoliert da. Angesichts der zögernden Haltung der Schweizer Aussenpolitik verschärft die EU den Druck auf den Abschluss eines Rahmen- und Stromabkommens; so ist die Teilnahme von Swissgrid an den Regelenergieplattformen und den ab nächstem Jahr etablierten «Regional Coordination Centres» (RCC) stark gefährdet. Durch diese Entwicklungen stösst Swissgrid zunehmend an Hürden, die ausschliesslich durch politische Veränderungen überwunden werden können. Mit einem Strom­abkommen wären diese aufwendigen vertraglichen Regelungen alle nicht mehr notwendig. Die Situation ist ernst, denn mittelfristig sind die Versorgungssicherheit und die Umsetzung der Energiestrategie 2050 gefährdet.

Wie könnte eine nachhaltige Lösung aus politischer, wirtschaftlicher und technischer Sicht denn aussehen?

Auf technischer Ebene tut Swissgrid alles, was nötig ist, um den sicheren Systembetrieb aufrechtzuerhalten. Privatrechtliche Vereinbarungen unter Übertragungsnetzbetreibern stellen aber langfristig keinen adäquaten Ersatz für ein Stromabkommen dar. Swissgrid stösst mit den Lösungen auf technischer Ebene an die Grenze ihrer Handlungsmöglichkeiten.

Zur Person

Jörg Spicker ist seit 2017 Senior Strategic Advisor bei Swissgrid. Zuvor war er während vier Jahren als Leiter Market Mitglied der Geschäftsführung von Swissgrid gewesen. Jörg Spicker verfügt über einen Doktortitel in Physik und ist seit über 30 Jahren in der Energiebranche tätig.

Interviews mit Protagonisten aus der Branche: "Und wie halten Sie's mit dem Stromabkommen?"