Bald schon Energie bis zum Abwinken?

Eine Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts polarisiert: Wird Energie das Überfluss-Gut der Zukunft – obwohl doch vielerorts Mangelszenarien diskutiert werden? Wir haben mit Stefan Breit vom GDI gesprochen.
23.11.2020

«Vom Mangel zum Überfluss» heisst die Studie, die das Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon im Auftrag des Bundesamtes für Energie verfasst hat. Sie geht von einer sprunghaften Weiterentwicklung des Energiesystems im 21. Jahrhundert aus – und analysiert 30 mögliche Veränderungen. Eine Trendlandschaft bietet einen Überblick über die wichtigsten Einflussfaktoren auf das Schweizer Energiesystem. Doch ist die Überflussthese realistisch, während nicht nur der VSE und die Elcom, sondern auch Stakeholder aus Politik und Wirtschaft eindringlich vor drohenden Winterengpässen und unsicheren Importen warnen? Stefan Breit, Researcher am GDI und Co-Autor der Studie, stand uns Rede und Antwort.

Herr Breit, was ist die zentrale Aussage ihrer Studie zur Energiezukunft?

Im 21. Jahrhundert wird sich das globale Energiesystem  von  einem  System  der  Knappheit  in  ein  System  des  Überflusses  transformieren:  Energie  wird erstens immer und überall in der benötigten  Menge  zur  Verfügung  stehen,  zweitens wird sie auch zu 100 Prozent aus nicht fossilen Quellen  gewonnen.  Die alte industrielle Welt des Öls wird von der neuen digitalen Welt der Elektrizität abgelöst.

Das klingt nach einer rosaroten Utopie. Wie soll sie Realität werden?

Die Kräfte, die dazu führen, entspringen dabei nicht nur dem technologischen Fortschritt, sondern auch der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Veränderung. Mit dem grundlegenden Wandel des Energiesystems geht auch ein grundlegender Wandel der globalen Gesellschaft einher. Dieser Übergang geschieht nicht auf einen Schlag – aber auch nicht gleitend, stufenlos und unmerklich. Er wird in Schritten, Sprüngen, Brüchen vor sich gehen, die für alle Beteiligten spürbar sind. Diese Entwicklungen sind als «Shifts» zu verstehen: Wenn sie eintreten, verändert sich die Art und Weise, wie wir Energie produzieren oder konsumieren.

Können Sie einige der zentralen und wahrscheinlichen «Shifts» erläutern?

In der Dimension «Technologie» ist das die «Autonome Schwarmenergie». Immer mehr dezentrale Energieressourcen finden Anschluss ans Netz, die Komplexität des Systems steigt dadurch an. Doch die Problemlösung dafür wird   zunehmend an Softwareprogramme ausgelagert. Einer dieser neuen Ansätze sind auf Machine Learning basierende Vorhersagemodelle.  Sie können mit beinahe absoluter Gewissheit die Wetterbedingungen in einer bestimmten Region vorhersagen. Wird voraussichtlich eher wenig Energie produziert, kann die automatische Abschaltung von gewissen Geräten programmiert werden, die   zu   diesem Zeitpunkt nicht unbedingt nötig sind. Es folgt eine Priorisierung von Nutzungen, wobei vitale Anwendungen natürlich ganz oben stehen.

Nicht alle Energie kann dezentral produziert werden...

Nein. Zentrale und dezentrale Produktion müssen sich aber nicht mehr, wie bislang, auf dem Markt als Konkurrenten gegenüberstehen, vielmehr ist es denkbar, dass beide Ansätze miteinander verschmelzen. Dies kann durch den Einsatz einer künstlichen Intelligenz (KI) erreicht werden – oder besser gesagt: eines Netzes von künstlichen Intelligenzen, die Produktion, Verbrauch und Netzsteuerung koordinieren. Dieses Netz aus verteilten Intelligenzen breitet sich über alle Schichten der Energielandschaft aus, von den smarten Geräten in den Wohnungen bis hin zu kontinentalen Hochspannungsleitungen.  Zentral ist dabei die Frage, wie diese algorithmischen Systeme miteinander kommunizieren.

In Deutschland betreibt der norwegische Energiekonzern Statkraft ein virtuelles Kraftwerk – grösser als die grössten Kern- und Kohlekraftwerke.

Dereinst. Irgendwann. Wenn die Zukunftsmusik spielt...

Es existieren bereits Projekte, die in diese Richtung deuten. In Deutschland betreibt der norwegische Energiekonzern Statkraft ein virtuelles Kraftwerk mit über 10’000 MW Kapazität – grösser als die grössten Kern- und Kohlekraftwerke in Deutschland. Es bündelt und vermarktet den Strom vieler kleiner Produzenten von erneuerbarer Energie und kann damit Energie effizienter verteilen und speichern. In der Endstufe können sogar alle Produzenten eines Kontinents ein grosses virtuelles Kraftwerk bilden, dem dann auch alle Konsumenten des Kontinents als grosser virtueller Nutzer gebündelt gegenüberstehen.

Was geschieht mit den Energieversorgern, wenn die Grenzkosten erneuerbarer Energie gegen Null tendieren, wie sie vorwegnehmen?

Eine Antwort dafür sucht das deutsche Unternehmen FreshEnergy. Es strebt an, den Strompreis in Zukunft auf 0 Cent pro kWh zu senken.  Den Kunden schenkt es einen Smart Meter, einen intelligenten Stromzähler, der Daten wie Tarifänderungen oder Stromverbrauch empfangen und senden kann. Dann wird der Verbrauch gezielt optimiert. Vorbild für den Switch weg von einem früheren Kernprodukt ist ja die Telekombranche: Den langjährigen  Hauptumsatzträger Festnetztelefonat gibt sie inzwischen fast  kostenlos ab  –  und  verzeichnet dennoch, oder gerade deswegen, robuste Umsätze  und  Gewinne  mit anderen Produkten, insbesondere im Mobilfunk. Und dass Daten pures Gold sein können, beweisen Firmen wie Google oder Facebook schon seit Jahren.

Trotz aller eindrücklichen Beispiele liefert Ihre Studie aber Ideen und Ausblicke, keine konkreten Lösungen.

Ja, es ist eine qualitative Studie, die ihre Fühler in alle möglichen Richtungen ausstreckt und viele Trends wie Gefahren erwähnt. Zukunft entsteht nun mal nicht auf geraden Wegen. Ökonomische und ökologische Interessen treten miteinander in Konflikt, technische Neuerungen können den politischen Akteuren die Arbeit erleichtern oder erschweren – und was in bester Absicht neugestaltet wurde, kann komplett nach hinten losgehen. Wichtig ist, dass wir uns endlich vom alten Knappheitsnarrativ lösen und die Gegenwart nicht länger in die Zukunft strapazieren. Können wir uns das Energiesystem vom Zielzustand her denken, vom sauberen Überfluss? Wie könnten dann Produkte und Services aussehen? Denn die Entwicklung ist unausweichlich.

Sie nennen das Kind beim Namen. Welche Rolle werden die politischen Akteure mit ihren Energiestrategien spielen?

Eine zentrale Rolle. Erstens, weil in einer elektrifizierten Welt die Wichtigkeit der Staaten zunimmt, da sie fast überall in der Welt über die Stromnetze gebieten. Zweitens, weil bei Investitionen für eine Überflussgesellschaft der volkswirtschaftliche Nutzen wichtiger ist als der betriebswirtschaftliche Gewinn. Und drittens, weil die Weiterentwicklung hin zur Überflussgesellschaft vor allem über Krisen- oder Umbruchsituationen geschieht. In solchen Situationen wird meist nach dem Staat als Helfer gerufen. Jeder Shift in der Branche – ob vom Menschen oder der Natur verursacht, ob technische Disruption, soziale Revolution oder ökologische Katastrophe – eröffnet indes einen Gestaltungsraum für alle zentrale Akteure. Alle, inklusive die Energiekunden, haben die Chance, das Energiesystem insgesamt zukunftsfähiger zu machen.

- Zum Download der GDI-Studie "Die neue Energiewelt – Vom Mangel zum Überfluss"


Stefan Breit

Zur Person

Stefan Breit ist Researcher und Speaker am GDI Gottlieb Duttweiler Institut und analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Wohnen, Infrastruktur und Umwelt.