Wie das Engadin zur Modellregion wurde

Wenn grosse Vogelarten wie beispielsweise Uhus auf Strommasten rasten oder zur Jagd ansitzen, setzen sie sich der Gefahr eines Stromschlags aus. Um das zu verhindern, haben die beiden Netzbetreiber Repower und EKW gemeinsam mit der Schweizerischen Vogelwarte begonnen, gefährliche Masten im Engadin zu inventarisieren und, wo nötig, zu sanieren. Mit grossem Erfolg.
14.12.2020
Ein Strommast vor La Punt Chamues-ch mit roter Isolation an den stromführenden Teilen. (Bild: Ralph Möll)

Wie überdimensionierte Wäscheleinen prägten die Freileitungen und mit ihnen auch Masten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Erscheinungsbild der Schweiz. Aufgrund zunehmender Nachfrage nach Strom, welche ungefähr in der Mitte des letzten Jahrhunderts einsetzte, wurden nicht nur grosse, leistungsstarke Kraftwerke gebaut, sondern eben auch die entsprechende Netz­infrastruktur erstellt.

In den letzten Jahrzehnten sind viele dieser Leitungen in den Boden verlegt worden. So wurden zwischen 2010 und 2015 im Mittelspannungsbereich (NE5) nur gerade 2,2% der abgebrochenen Freileitungen wieder durch Freileitungen ersetzt. Netzbetreiber werden seit dem 1. Juni 2020 durch Artikel 15c des Elektrizitätsgesetzes sogar verpflichtet, ein Bauvorhaben unter gewissen Voraussetzungen als Erdkabel auszuführen.

Neben ihrer eigentlichen Funktion werden die verbliebenen Strommasten immer wieder «zweckentfremdet»: Verschiedene Vogelarten nutzen die hochaufragenden Gestelle als Rastplatz und auch als Ansitz für die Jagd auf kleine Beutetiere am Boden. Für grössere Vogelarten wie Uhus oder Weissstörche ist der Aufenthalt auf ungesicherten Strommasten nicht ungefährlich. Wenn sie ihre langen Flügel ausbreiten, um wegzufliegen, können diese grossen Arten damit stromführende Teile touchieren und von einem Stromschlag getötet werden.

Richtlinien wurden gemeinsam erarbeitet

Dass das möglichst verhindert werden muss, ist den Netzbetreibern bewusst. Daher regeln seit über 20  Jahren gemeinsam von den Netzbetreibern, dem Bund und den Vogelschutzorganisationen subsidiär erarbeitete Richtlinien die Anforderungen an den Vogelschutz bei Stromleitungen. Neue Leitungen werden unter Berücksichtigung der geltenden Richtlinie gebaut und bestehende Leitungen, wo sinnvoll und technisch möglich, nachgerüstet. Die Koordination zwischen Netzbetreibern, Vogelschutz und Behörden ist etabliert.

Es bestehen also bereits Vorgaben, wie Freileitungen und Masten vogelsicher zu machen sind. Dennoch hat das Uvek eine Revision der Leitungsverordnung angestossen. Künftig sollen Netzbetreiber unter anderem verpflichtet werden, ihre Infrastruktur bis Ende 2030 vogelsicher zu machen. In der in diesem Sommer zu Ende gegangenen Vernehmlassung waren sich der VSE und seine Mitglieder einig, dass die Revision nicht nötig sei, weil die bestehenden Richtlinien, angepasst an den aktuellen Stand der Technik, ausreichten.

Michael Paulus, Bereichsleiter Netze und Berufsbildung beim VSE, sagt denn auch: «Das Anliegen ist uns bekannt, und wir nehmen es ernst. Der zunehmende Ersatz bisheriger Freileitungen durch Kabel hat schon viel zur Entschärfung der Situation beigetragen. Es hat sich ausserdem gezeigt, dass ein gezieltes Vorgehen viel effizienter ist als eine flächendeckende Sanierungspflicht.» Sollte die Revision trotzdem umgesetzt werden, wären aus Sicht des VSE in vier zentralen Punkten Änderungen gegenüber dem Vorschlag zwingend notwendig (vgl. unten «Das sagt der VSE»).

Mehr Verbindlichkeit gefordert

Anders sehen das die Vertreter des Vogelschutzes in der Schweiz. David Jenny, Regionalkoordinator Engadin/Graubünden bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, begrüsst, dass Massnahmen zum Vogelschutz für Netzbetreiber verbindlich werden sollen: «Die bestehende Richtlinie ist mit ‹sofern es die örtlichen Gegebenheiten erlauben› sehr unverbindlich und daher ungenügend formuliert.» In der revidierten Leitungsverordnung werde dies behoben, weshalb die Vogelwarte diese unterstütze. «Bei den Netzbetreibern ist zwar Goodwill vorhanden, aber nicht überall. Daher braucht es aus unserer Sicht klare gesetzliche Regeln.»

Dass tatsächlich Goodwill vorhanden ist und gehandelt wird, belegen Beispiele wie jenes von Anfang Juni im zürcherischen Schwerzenbach: Storchenfamilien hatten drei Nester auf den Masten von Übertragungsleitungen der SBB gebaut. Ein Nest war zu nah an den Abspannisolatoren gebaut und damit stromschlaggefährdet. Mit Unterstützung des Storchenexperten Max Zumbühl und fachlicher Expertise von Storch Schweiz, der Fischerei- und Jagdverwaltung des Kantons Zürich sowie der Greifensee-Stiftung organisierten die SBB als Anlageneigentümerin und die Axpo als Anlagenbetreuerin den Umzug der Storcheneltern und Jungstörche auf den sicheren Mastkopf.

Intensives Monitoring

Grosse Anstrengungen bezüglich Vogelschutz wurden und werden auch im Engadin unternommen. David Jenny spricht sogar von einer veritablen «Modellregion». Exemplarisch sei dafür die Entwicklung der Uhu-Population im Engadin: «Von den rund 30 bekannten Uhu-Revieren im Kanton Graubünden liegt über ein Drittel im Engadin. Seit 2005 besteht dort ein Monitoring für den Uhu, mit dem beispielsweise auch Bruterfolg nachgewiesen werden kann.»

Neben diesem Monitoring wurde im Engadin auch ein Inventar sämtlicher für Grossvögel gefährlicher Strommasten erstellt. Dieses Inventar erstellte die Vogelwarte Sempach gemeinsam mit den beiden Netzbetreibern Repower und EKW (Engadiner Kraftwerke), welche auch die Kosten übernahmen. Die so erfassten über 250 Masten wurden anschliessend nach verschiedenen Kriterien mit einem Gefahrenindex von 1 bis 9 versehen. Berücksichtigt wurden dabei Faktoren wie die Art der Masten (Masten mit Mastschalter oder Endmasten sind besonders gefährlich) oder auch die Entfernung zu bekannten Brutplätzen.

Aus dem indexierten Inventar liess sich schliesslich ableiten, welche Masten für Uhus besonders gefährlich sind und daher prioritär saniert werden müssen. «Dieses Inventar ermöglichte, die Sanierung der Masten systematisch nach Dringlichkeit anzugehen», sagt David Jenny. Zur Sanierung der Masten werden die stromführenden Teile mit Kunststoffschläuchen isoliert, sodass Vögel sie nicht mehr touchieren können, wenn sie die Schwingen ausbreiten. «Eine einfache, aber sehr effiziente Massnahme», sagt David Jenny.

Freileitungsmonteure von Axpo errichten ein neues, stromschlagsicheres Nest für die jungen Weissstörche. Rechts daneben befindet sich das später entfernte Nest in gefährlicher Lage bei den Abspannisolatoren. (Bild: Axpo)

Netzbetreiber im Engadin bieten Hand

Jachen Gaudenz, Leiter Betrieb und Instandhaltung bei EKW, kam erstmals 2008 mit dem Thema in Berührung: «Unter dem Endmast bei einem Landwirt fanden sich in regelmässigen Abständen tote Jung-Uhus. Die machten wohl ihre ersten Flugversuche aus ihrem Nest auf den Masten, wo sie dann wohl stromführende Teile berührten. Das hat mich beeindruckt, und mir war klar, dass wir da etwas tun müssen.» Also wurde der Mast saniert und die gefährlichen Teile isoliert. «Im Jahr darauf flogen die Jung-Uhus unbeschadet aus. Das zeigte uns, dass es wirklich nützt und machbar ist.»

Auch bei Repower hatte man offene Ohren für die Anliegen David Jennys. «Das Inventar weist für das Oberengadin zirka fünfzig dringend zu sanierende Masten aus. Zwei Drittel davon werden in den kommenden fünf Jahren verkabelt oder abgebrochen. Die restlichen fünfzehn Masten werden wir isolieren, sobald sich die Möglichkeit ergibt», sagt Fabio Luzio, Standortverantwortlicher Netzplanung Engadin bei Repower. In der Regel werden die Masten dann isoliert, wenn gleichzeitig andere Wartungsarbeiten vorgenommen werden müssen. Der Aufwand und vor allem die Auswirkungen auf die Stromkunden wegen der nötigen Abschaltung wären sonst zu gross.

Im Engadin werden im nächsten Jahr rund 70% aller Masten verkabelt (unabhängig vom Vogelschutz) oder saniert sein, im Unterengadin sollen ab März 2021 sogar sämtliche Leitungen auf NE3 und NE5 verkabelt sein. Dass diese Massnahmen bezüglich Vogelschutz Wirkung zeigen, lässt sich belegen. Bis 2012 seien Masten saniert worden, wenn in der Nähe durch Stromschlag getötete Uhus aufgefunden worden seien, erklärt David Jenny: «Das waren jeweils ein bis zwei Fälle pro Jahr. Seit Beginn der systematischen Sanierung der als gefährlich indexierten Masten haben wir keinen einzigen Totfund mehr gemacht, der in einem Zusammenhang mit Mittelspannung steht.» Auch wenn das eine eher kleine Stichprobe ist, wertet David Jenny die Massnahme und vor allem die Bereitschaft von Repower und EKW zur Unterstützung als grossen Erfolg.

Die Netzbetreiber zeigen mit solchen Massnahmen ihr Engagement für Themen wie Biodiversität und Artenschutz, die in der Gesellschaft breit diskutiert und ernst genommen werden.

Die Dringlichkeit und die Möglichkeiten

Ob der Erfolg aus dem Engadin aber eins zu eins auf andere Regionen der Schweiz übertragen werden kann, ist zumindest fraglich. Zu spezifisch ist die topografische Situation, zu eingeschränkt das Monitoring-Gebiet, und es gibt neben dem Uhu viele andere Grossvögel wie den Weissstorch oder den Rotmilan, für die der Aufenthalt auf Strommasten ebenfalls gefährlich ist. Das weiss auch David Jenny: «Dieses Modell kann man nicht einfach übertragen. So gute Kenntnisse über Reviere, Brutplätze und Jungvögel haben wir nicht für alle Vögel und schon gar nicht schweizweit. Aber das hier Erreichte zeigt die Dringlichkeit – und dass mit einfachen Massnahmen viel erreicht werden kann.»

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Das sagt der VSE

Der VSE unterstützt die Bestrebung, die Biodiversität zu erhalten und bedrohte Arten zu schützen. Die Branche nimmt ihre Verantwortung für den Vogelschutz seit Jahren wahr. Der Vogelschutz steht beim Bau von neuen Leitungen und im Rahmen von Wartungszyklen im Vordergrund. In besonders gefährdeten Gebieten wird der Vogelschutz mit gezielten Massnahmen wirksam verbessert.

In der Praxis hat sich der subsidiäre Ansatz mit einer Richtlinie und einer guten Koordination zwischen Netzbetreibern, Vogelschutzorganisationen und Behörden bewährt. Der VSE beantragt daher, auf die vom Bund beabsichtigte Änderung der Leitungsverordnung zu verzichten. Das Subsidiaritätsprinzip ist beizubehalten, indem die bestehende Vogelschutzrichtlinie weiterentwickelt und gestützt darauf eine gezielte Sanierung gefährlicher Masten vorangetrieben wird.

Wird dennoch an einer Änderung festgehalten, beantragt der VSE verschiedene Anpassungen. Insbesondere bedarf es einer Interessenabwägung zwischen Schutz (von Fauna und Flora) und Stromversorgung (Ziele der Energiestrategie 2050 und der Klimapolitik sowie Versorgungssicherheit). Dazu braucht es eine differenzierte Beurteilung mit Augenmass. Aus Sicht des VSE ist eine flächendeckende Sanierungspflicht auf Mittel- und Hochspannungsleitungen nicht verhältnismässig. Die beabsichtigte Verschärfung und Generalisierung der Vogelschutzvorgaben bringen grosse Unsicherheiten, die eine Umsetzung bis Ende 2030 verunmöglichen und massive, noch nicht abschätzbare Kosten zur Folge haben können. In diesem Zusammenhang weist der VSE insbesondere darauf hin, dass es keine zugelassenen Isolationsmöglichkeiten für die Hochspannungsebene (Netz­ebene 3) gibt und einfache technische Lösungen für die Mittelspannungsebene (Netzebene 5) nur teilweise vorhanden sind. Ausserdem ist sicherzustellen, dass allein aufgrund von Vogelschutzmassnahmen kein Plangenehmigungsverfahren durchlaufen werden muss. Dies würde andernfalls zu Planungsunsicherheit, hohen Zusatzkosten und Verzögerungen führen. Bei der Überarbeitung der Richtlinie ist darüber hinaus in jedem Fall die Branche einzubeziehen. Unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit einfacher technischer Lösungen und der vorgängig notwendigen Anpassung der Richtlinie ist eine angemessene Umsetzungsfrist bis Ende 2050 anzusetzen.