Wer haftet bei einem Blackout?

23.05.2023
Um von den Kraftwerken zu den Verbrauchern zu gelangen, fliesst der Strom durch das Übertragungsnetz. Dessen Eigentümerin und Betreiberin ist Swissgrid – eine privatrechtliche Aktiengesellschaft. Sie ist von Gesetzes wegen dafür verantwortlich, dass schweizweit jederzeit die benötigte Menge Strom verfügbar ist. Doch was geschieht, wenn Swissgrid dies einmal nicht gewährleisten könnte?
Gastautor
Robert Baumann
Dr. iur, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der ZHAW
Disclaimer
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Das Übertragungsnetz bildet das Rückgrat der Schweizer Stromversorgung. Ein Blackout hätte drastische Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung und die gesamte Wirtschaft: Der dadurch verursachte Schaden wird auf bis zu vier Milliarden Franken pro Tag geschätzt. Für diesen Schaden würde in erster Linie die privatrechtliche Swissgrid AG haften. Sie ist für das Übertragungsnetz verantwortlich. Doch den Bund trifft stets die Letztverantwortung, denn ohne Stromversorgung geht nichts. Die Swissgrid ist «too big to fail». Dieser Beitrag geht deshalb nicht nur dem Haftungsregime für das Übertragungsnetz nach, sondern auch der Frage, ob es klug ist, die sichere Stromversorgung der Schweiz in die Hände einer privatrechtlichen AG zu legen.

Das Elektrizitätsnetz

Das Elektrizitätsnetz besteht aus sieben Ebenen. Das Übertragungsnetz bildet die erste Ebene. Es ist das Rückgrat des ganzen Systems. Ohne ein sicheres und leistungsfähiges Elektrizitätsnetz drohen Energieausfälle mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Wirtschaft. Swissgrid betreibt das Übertragungsnetz deshalb nach dem sogenannten N-1-Prinzip, wonach bei einem Ausfall eines Netzelements kein anderes überlastet sein darf.

Swissgrid muss die Verfügbarkeit des Übertragungsnetzes durch regelmässigen Unterhalt, durch Erneuerungen und einen bedarfsgerechten Ausbau sicherstellen. Bis ins Jahr 2025 will Swissgrid dafür 2,5 Milliarden Franken investieren. 40’000 Messpunkte bilden das Elektrizitätsnetz ab und erfassen innert Sekunden rund 10’000 Messwerte, mit deren Hilfe Swissgrid die Netzstabilität überwacht. Bei Störungen muss Swissgrid Massnahmen ergreifen, um das Netz wieder zu stabilisieren.

Das Elektrizitätsnetz besteht aus sieben Ebenen, aber zum Glück gibt es (anders als beim Mobilfunk) nur ein einziges Netz. Wohl jeder hat sich schon an Freileitungen gestört, wenn er an einem Waldrand picknicken und die Aussicht geniessen wollte. Ein Netzwirrwarr wäre aber nicht nur in ästhetischer, sondern auch in ökologischer Hinsicht verheerend, besonders für den Vogelbestand. Und ökonomisch gesehen wäre Vielfalt ein Verlustgeschäft: Mehrere Elektrizitätsnetze wären mit viel zu hohen Kosten verbunden. Dieser Grund war entscheidend dafür, dass es nur ein einziges Elektrizitätsnetz gibt und dass das Stromversorgungsgesetz bestimmt, dass es nur eine einzige, nationale Netzgesellschaft gibt, die das Übertragungsnetz betreibt. Und das ist die Swissgrid AG. Das Übertragungsnetz ist also ein Monopol.

Die Ausgestaltung des Elektrizitätsnetztes mit sieben Netzebenen. Das Übertragungsnetz entspricht der ersten Netzebene (Grafik: Robert Baumann).

Die nationale Netzgesellschaft Swissgrid AG ist für den Betrieb, den Unterhalt und die Planung des Übertragungsnetzes verantwortlich – eine äusserst bedeutende, sicherheitsrelevante öffentliche Aufgabe. Es mag deshalb überraschen, dass diese Aufgabe von einer privatrechtlichen Aktiengesellschaft wahrgenommen wird. Dies hat indes historische Gründe: 1958 schlossen Frankreich, Deutschland und die Schweiz ihre Elektrizitätsnetze in Laufenburg zusammen. Sie wurden fortan von der Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG (EGL) koordiniert. Im Jahr 2000 übernahm die ETRANS AG diese Aufgabe. Sie war von den damaligen Eigentümergesellschaften des Übertragungsnetzes zu diesem Zweck gegründet worden: den schweizerischen Überlandwerken – damals die Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel), die BKW FMB Energie AG, die Centralschweizerischen Kraftwerke AG, die Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz), die Energie Ouest Suisse (EOS) SA und die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK).

Als aber im Jahre 2003 eine wichtige Nord-Süd-Transitleitung der Atel, die Lukmanier-Leitung, nach einem Lichtbogen zwischen einem Leiterseil und einem Baum ausfiel und es in ganz Italien, dem Tessin, dem Oberengadin sowie in Teilen des Wallis und von Genf zu einem Blackout kam, empfahl das Bundesamt für Energie den Überlandwerken, auf freiwilliger Basis eine schweizerische Netzgesellschaft zu schaffen, die das Übertragungsnetz unabhängig betreiben kann. Denn als Ursache für den Blackout ortete das Amt unter anderem den Konflikt zwischen den kommerziellen Interessen der beteiligten Länder und Unternehmen sowie den technischen und rechtlichen Voraussetzungen des sicheren Netzbetriebes. Dem Risiko eines neuerlichen Blackouts könne nur durch verbindliche, europaweite Regeln begegnet werden, wie sie mit der EG-Verordnung 1228/2003 vom 26. Juni 2003 zum grenzüberschreitenden Stromhandel vorlägen. Die Schweiz brauche rasch einen starken Regulator, der als gleichberechtigter Partner zusammen mit den benachbarten Ländern sowie der EU-Kommission den Markt regeln und kontrollieren könne.

Bereits ein Jahr darauf gründeten die Überlandwerke eine entsprechende Netzgesellschaft. Nach einigen juristischen Hindernissen nahm die Swissgrid AG am 15. Dezember 2006 ihre Tätigkeit auf. Als dann das Stromversorgungsgesetz am 15. Juli 2007 in Kraft trat und festlegte, dass das Übertragungsnetz auf gesamtschweizerischer Ebene «von der nationalen Netzgesellschaft betrieben» wird, hatte die Swissgrid AG diese Aufgabe also bereits seit anderthalb Jahren wahrgenommen. Die Elektrizitätsunternehmen wurden mit dem Inkrafttreten des Stromversorgungsgesetzes gesetzlich verpflichtet, ihre Anlagen des Übertragungsnetzes auf die Swissgrid AG zu übertragen. Diese Eigentumsübertragungen wurden Ende 2021 abgeschlossen.

Heute gehört die Swissgrid sechs Hauptaktionären: der BKW Netzbeteiligung AG (35,63 %), die mehrheitlich dem Kanton Bern gehört; der Axpo Power AG (22,37 %) und der Axpo Solutions AG (9 %), die Tochtergesellschaften der Axpo Holding AG sind und die die Ostschweiz repräsentiert, denn sie gehört den Kantonen Zürich, Aargau, St. Gallen, Schaffhausen, Glarus, Zug, und Thurgau; der Stadt Zürich (8,37 %); der SIRESO Société d’Investissement de Suisse occidentale SA (5,2 %), die die Westschweizer Kantone bei Swissgrid vertritt; und der Centralschweizerischen Kraftwerke AG (4,54 %), die der Axpo Holding AG sowie dem Kanton Luzern gehört, wobei 9 % der Aktien in Streubesitz verbleiben. Den Rest der Anteile an Swissgrid (14,9 %) halten 27 weitere Unternehmen der Strombranche.

Die Aktien der Swissgrid AG sind somit grösstenteils in den Händen von gemischtwirtschaftlichen Unternehmen, die den Kantonen gehören; teilweise – wie im Falle der Stadt Zürich – sind sie im Eigentum von Gemeinden. Dies ist gesetzlich vorgeschrieben. Swissgrid muss von Gesetzes wegen sicherstellen, dass ihr Kapital und die damit verbundenen Stimmrechte direkt oder indirekt mehrheitlich Kantonen und Gemeinden gehören.

Die Haftung

Swissgrid ist als Aktiengesellschaft eine juristische Person und haftet mit dem eigenen Vermögen, wenn sie ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt oder Dritten widerrechtlich Schaden zufügt. Mit der Übertragung einer öffentlichen Aufgabe an die Swissgrid AG, nämlich dem Betrieb des Übertragungsnetzes, und mit einer Beteiligung an dieser AG geht aber auch der Staat Haftungsrisiken ein.

Swissgrid haftet für die Erfüllung der Verträge, die sie abschliesst. Solche bestehen zwischen Swissgrid und den Bilanzgruppenverantwortlichen, den Kraftwerkbetreibern, den Verteilnetzbetreibern, den Netzanschlussnehmern und den Endverbrauchern. Sie haftet für die Schlecht- oder Nichterfüllung dieser Verträge, etwa wenn sie das Übertragungsnetz nicht wie im Netznutzungsvertrag vereinbart zur Verfügung stellt oder die Systemdienstleistung nicht zum vertraglich vereinbarten Preis entgeltet.

Swissgrid haftet auch, wenn sie Dritten, mit denen sie keine vertraglichen Beziehungen hat, einen Sachschaden, einen Personenschaden oder einen Vermögensschaden zufügt. Als Schaden gilt dabei die Differenz zwischen dem effektiven Vermögensstand des Dritten und dem Stand, den sein Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte. Der Schaden kann also eine Vermehrung der Passiven oder einer Verminderung der Aktiven des Dritten sein oder ein diesem entgangener Gewinn.

Den Schaden kann Swissgrid durch eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung verursachen. Widerrechtlichkeit liegt vor, wenn das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum des Dritten beeinträchtigt wird, ohne dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Eine Unterlassung ist zudem nur widerrechtlich, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht.

Als beim Blackout von 2003 ganz Italien ohne Strom war, stellte sich die Frage, ob nun Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe auf die Schweiz zukämen. Der Bundesrat beruhigte damals, es sei nicht damit zu rechnen, dass die Eidgenossenschaft haftbar gemacht werde. Der Betrieb der Netze liege in der alleinigen Verantwortung der Betreiber. Die Eidgenossenschaft hafte nicht für allfällige Schäden, welche aus dem Bestand oder Betrieb eines Elektrizitätsnetzes entstünden; dies wäre nur der Fall, wenn ein Bundesangestellter oder eine unmittelbar mit öffentlichen Aufgaben des Bundes betraute Person Dritten in Ausübung einer amtlichen Tätigkeit widerrechtlich einen Schaden zugefügt hätte. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Doch heute wäre genau dies der Fall: Swissgrid ist eine unmittelbar mit öffentlichen Aufgaben des Bundes betraute Person.

Swissgrid haftet deshalb bei einer Schädigung nach dem Verantwortungsgesetz des Bundes. Und wenn Swissgrid für den Schaden nicht aufkommen kann, haftet der Bund gemäss Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe b des Verantwortlichkeitsgesetzes. Man spricht hier von einer Ausfallhaftung. Das bedeutet, dass der Bund belangt werden kann, wenn die Zahlungsunfähigkeit der Swissgrid AG feststeht, weil sie in Konkurs oder in Nachlassstundung ist oder zugunsten der Gläubiger ein definitiver Konkursverlustschein ausgestellt worden ist.

Die Ausfallhaftung des Bundes gemäss dem Verantwortlichkeitsgesetz erfüllt also eine eigentliche Versicherungsfunktion. Wegen der grossen Zahl von Organisationen, die mit öffentlichen Aufgaben betraut sind, und angesichts der meist nur geringen Steuerungsmöglichkeiten des Bundes auf deren Tätigkeiten ist das Risiko für den Bund praktisch nicht abzuschätzen. Auf Bundesebene bestehen deshalb Bestrebungen, diese Ausfallhaftung abzuschaffen. Verschiedene Spezialgesetze schliessen sie bereits aus, so etwa das Telekommunikationsunternehmungsgesetz und das SBB-Gesetz.

Eine öffentliche Aufgabe in privatem Gewand

Eingangs wurde erwähnt, dass das Übertragungsnetz ein Monopol ist. In einer Monopolsituation ist es am Staat, die entsprechenden Güter bereitzustellen. Soll dabei nach wirtschaftlichen Prinzipien produziert oder eine gewisse Autonomie und Flexibilität geschaffen werden, ohne indes die Kontrolle zu verlieren, lagert der Staat die Aufgabe an einen Monopolisten aus. Er muss dabei diejenige Form wählen, welche optimal der Erfüllung des öffentlichen Interesses dient und erlaubt, die Aufgabe bedarfsgerecht und wirtschaftlich zu erfüllen, sowie die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft wahren. Dies ergibt sich aus der Bundesverfassung (Artikel 5 Absatz 2, Artikel 43a Absatz 5 und Artikel 94 Absatz 2).

Die juristische Lehre geht davon aus, dass die Wahl einer privatrechtlichen Rechtsform nur zulässig ist, wenn eine privatrechtliche Organisationsform erforderlich ist. In Monopolsituationen werden deshalb normalerweise öffentlich-rechtliche Gesellschaftsformen wie etwa eine Anstalt gewählt. Eine privatrechtliche Organisationsform hat zur Folge, dass die Regierung an Handlungsfreiheit und Einfluss gewinnt. Im Falle einer Aktiengesellschaft werden die Aktionärsrechte durch die Exekutive wahrgenommen. Das Parlament hat hingegen keinen Einfluss und keine Kontrolle über die Unternehmen. Die Mehrheit von National- und Ständerat befürwortete für die nationale Netzgesellschaft trotzdem eine privatrechtliche AG, weil sie flexibler und dynamischer als eine Anstalt sei. Als Folge dieses Entscheids wird eine öffentliche, für das Land lebenswichtige Aufgabe in privatem Kleid wahrgenommen.

Doch unabhängig von der Verkleidung der juristischen Person, die für das Übertragungsnetz verantwortlich ist, steht der Bund immer in der Verantwortung. Das Übertragungsnetz ist das Rückgrat der Stromversorgung der Schweiz, sein Betrieb ist von nationalem Interesse. Nicht ohne Grund untersteht das Personal von Swissgrid einer Sicherheitsprüfung gemäss dem Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit.

Ein «Grounding» der Swissgrid ist undenkbar

Selbst wenn für den Betrieb des Übertragungsnetzes primär die Swissgrid AG verantwortlich ist und haftet – ein «Grounding» des Übertragungsnetzes kann der Bund nicht zulassen, selbst wenn seine Ausfallhaftung abgeschafft würde. Und auch die Kantone stehen in der Verantwortung – denn ihnen gehört die Swissgrid indirekt zum allergrössten Teil. Wenn man also genauer hinsieht, sieht man unter dem privaten Gewand von Swissgrid überall den Staat: Swissgrid hat einen öffentlichen Zweck, sie erfüllt eine öffentliche Aufgabe von grösstem nationalem Interesse. Statt Swissgrid ein privatrechtliches Gewand umzuhängen, hätte der Betrieb des Übertragungsnetzes mit der dazugehörigen Verantwortung als nationale Aufgabe direkt dem Bund übertragen werden sollen, wie sich das im Übrigen auch aus den Grundsätzen des Corporate-Governance-Berichts des Bundesrates ergibt.

Ein mögliches Modell wäre der ETH-Bereich gewesen. Dies hätte eine direkte Kontrolle durch die zuständigen Behörden, eine grössere Transparenz sowie klare Zuständigkeiten und Verfahren beim Unterhalt und der weiteren Entwicklung des Übertragungsnetzes ermöglicht. Dass das Schweizer Übertragungsnetz von einer privatrechtlichen Aktiengesellschaft, der Swissgrid AG, betrieben wird, entspricht somit nicht dem Lehrbuch. Wenn die Versorgungssicherheit der Schweiz mit elektrischer Energie, für die der Betrieb des Übertragungsnetzes notwendig ist, optimal gewährleistet werden soll, ist eine öffentlich-rechtliche Lösung angezeigt, konkret eine selbständige Anstalt.

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