Die unterschätzte gesellschaftliche Verwundbarkeit

14.02.2023
Seit Jahrzehnten sind die Menschen in Europa eine sehr verlässliche Stromversorgung gewohnt und verlassen sich völlig darauf. Auch bei vielen anderen lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen kennen sie so gut wie nur eine sehr hohe Versorgungssicherheit. Aber was geschähe, käme es eines Tages eben doch zu einer Strommangellage oder sogar zu einem überregionalen Stromunterbruch?
Gastautor
Herbert Saurugg
Internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte
Disclaimer
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Während sich der Winter 2022/23 energietechnisch noch im Spätsommer 2022 als sehr problematisch dargestellt hatte, sieht die Lage nun, im Februar 2023, schon deutlich entspannter aus. Die europäischen Gasspeicher konnten bis zum Beginn der Heizperiode gefüllt werden, und dank des milden Herbstes verschob sich der übliche Beginn auch noch um mehrere Wochen. Der Gaspreis brach aufgrund der nunmehr verfügbaren Überkapazitäten sogar deutlich ein. Im Dezember gab es dann durch eine unübliche Kälte eine Trendumkehr, die aber auch nur wenige Wochen andauerte. Bereits nach Weihnachten konnte wieder Gas eingespeichert werden. Auch die Strompreise fielen wieder bis Jahresende. Zum Teil wurde Strom sogar wieder verschenkt. Aber nur während kurzer Zeit. Eine im Herbst noch in vielen Ländern befürchtete Gas- oder Strommangellage war und ist daher nirgends erkennbar. Alles wieder nur Übertreibung und Angstmache also?

Kommt noch eine Kältewelle?

Für einen solchen Schluss ist es wohl noch deutlich zu früh, besteht doch noch immer die Möglichkeit einer überregionalen Kältewelle mit einem deutlich erhöhten Energiebedarf. Die Auswirkungen wären wohl nicht mehr so dramatisch, wie sie hätten sein können, wäre es bisher der Jahreszeit entsprechend kalt gewesen. Daher hat es wohl auch etwas mit Glück zu tun.

Winter 2023/24

Worüber sich aber bereits viele Experten einig sind, ist, dass die Grundprobleme noch immer nicht gelöst sind und im nächsten Winter noch viel problematischer werden können. Dies betrifft einerseits die europäische Gasversorgung, die durch den Wegfall des russischen Gases erheblich durcheinandergekommen ist, und zum anderen die Stromversorgung, die wiederum von der Gasversorgung abhängig ist. Die grosse Unsicherheit, ob Frankreich bis zu diesem Winter wieder genügend Kernkraftwerke ans Netz bringen kann, konnte zwar bewältigt werden. Auch hier halfen die milden Temperaturen zum Jahreswechsel. Zuvor waren die Importkapazitäten zum Teil bereits bis zum Maximum ausgereizt. Die Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke bleibt aber weiterhin ein Unsicherheitsfaktor, der etwa auch die Schweiz, die im Winter auf Stromimporte angewiesen ist, betrifft. Auch Österreich ist im Winter massiv importabhängig und bezieht diesen Strom hauptsächlich aus Deutschland und der Tschechischen Republik. In Deutschland sollen aber im April 2023 die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz gehen, womit auch die verlässlichen Überkapazitäten deutlich zurückgehen werden. Offen bleibt, ob die Kohlekraftwerke, welche nun kurzfristig für den Winter 2022/23 reaktiviert wurden, weiterhin am Netz bleiben. Ein Teil davon war eigentlich bereits für die Stilllegung vorgesehen. Kurz und knapp: Die Grundprobleme im europäischen Verbundsystem werden in den nächsten Jahren nicht weniger, sondern absehbar mehr.

Die Stromversorgung wird auch im nächsten Winter noch von der Gasversorgung abhängen.

Eine Vielzahl an Faktoren

Erschwerend hinzu kommen eine alternde Infrastruktur, ein Fachkräftemangel, ein steigender Stromverbrauch, unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Systemaus- und -umbau im Rahmen der Energiewende, zunehmende Extremwetterereignisse von Trockenheit über Sturm bis hin zu Starkregenfällen, welche ebenfalls eine Gefahr für die Energieversorgung darstellen. Ganz abgesehen von der Gefahr von Cyber-Angriffen oder -Anschlägen. Auch in diesem Bereich sind die Risiken durch den Ukrainekrieg nicht geringer geworden.

Nationale Risikoberichte des BABS

Grund genug also, um sich auch mit möglichen Ausfallszenarien zu beschäftigen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) rechnet eine Strommangellage oder einen grossflächigen Stromunterbruch bereits seit 2012 zu den Top-Risiken. Hinzu kommt, dass durch die steigende Vernetzung im Zuge der Digitalisierung und den damit verbundenen wechselseitigen Abhängigkeiten und Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Infrastruktursektoren auch ein erhöhtes Schadensrisiko besteht. Bislang neigt die Gesellschaft jedoch eher zur «Truthahn-Illusion».

Truthahn-Illusion

Ein Truthahn, der Tag für Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, geht aufgrund seiner täglich positiven Erfahrungen (Fütterung und Pflege) davon aus, dass es sein Besitzer nur gut mit ihm meinen kann. Dem Truthahn fehlt die wesentlichste Information, dass diese Fürsorge nur einem Zweck dient: dem Ende als Festmahl. Am Tag vor dem Erntedankfest, an dem die Truthähne traditionellerweise geschlachtet werden, erlebt das Tier daher eine fatale Überraschung. Diese Metapher beschreibt den häufigen Umgang mit seltenen Ereignissen, die aber enorme Auswirkungen haben. Dabei wird gerne die Abwesenheit von Beweisen mit dem Beweis der Abwesenheit von Ereignissen verwechselt, was – nicht nur beim Truthahn – zu fatalen Überra-schungen führen kann.

Strommangellage

Denn auch eine Strommangellage, während der es zu geplanten regionalen Stromabschaltungen kommen muss, weil etwa nicht mehr genügend Strom produziert oder in eine Region transportiert werden kann, hätte fatale Folgen. Gerade in der Schweiz sollte das weithin bekannt sein, drehte sich doch die Sicherheitsverbundübung 2014 um ein solches Szenario und die damit verbundene massive gesellschaftliche Verwundbarkeit. Leider scheint vieles davon bereits wieder in Vergessenheit geraten zu sein, weil es wohl auch für viele Akteure zu abstrakt war. Denn eine mögliche Strommangellage wurde für viele in der Gesellschaft erst im Herbst 2021 wirklich greifbar, als OSTRAL (Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen) viele Unternehmen in der Schweiz zu diesem Thema anschrieb. Als man sich 2022 im Zuge des Krieges in der Ukraine schliesslich umfassender damit auseinanderzusetzen begann, wurde vielen wohl erstmals bewusst, dass das nicht nur ein theoretisches Szenario ist.

Der Mensch weiss etwas häufig erst dann zu schätzen, wenn es nicht mehr verfügbar ist.

Die wirkliche Ernüchterung kommt aber meist erst, wenn man sich mit den vielschichtigen Abhängigkeiten und Folgen zu beschäftigen beginnt. Denn was zunächst relativ harmlos scheint, entpuppt sich rasch als schwerwiegende Versorgungskrise für alle Regionen. Auch das wurde bereits 2014 im Rahmen der Sicherheitsverbundübung festgestellt: 70 Prozent Stromversorgung beziehungsweise -verfügbarkeit bedeutet in vielen anderen Sektoren einen völligen Zusammenbruch der Versorgung oder Produktion. Denn sowohl die Telekommunikations- als auch etwa die Bahnversorgung sind hochgradig vom Funktionieren des Gesamtsystems abhängig. Eine temporäre regionale Abschaltung würde dazu führen, dass etwa die gesamte Bahn zum Stillstand käme oder dass auch die Telekommunikationsversorgung rasch grossräumig ausfiele. Und ohne Telekommunikationsversorgung geht heute wie bei der Stromversorgung rasch so gut wie gar nichts mehr. Ohne Synchronisation funktionieren weder Logistik noch Warentransport. Es drohte sehr rasch ein Versorgungschaos. Leider ist das nach wie vor zu wenigen Menschen und Verantwortungsträgern aber auch Unternehmern bewusst.

Fehlende Rückfallebenen

So überrascht es immer wieder, wie wenig Unternehmen, auch solche, die kritische Infrastrukturen betreiben, auf normale oder etwas länger als ein paar Minuten andauernde Stromunterbrüche vorbereitet sind. Warum auch? Wie der Truthahn haben sie alle die Erfahrung gemacht, dass das selten notwendig ist und daher eine Vorsorge nur unnötige Kosten verursacht. In den letzten Jahren wurde daher gerne auf früher durchaus vorhandene Rückfallebenen wie eine Notstromversorgung verzichtet. Zum anderen fehlt es häufig an organisatorischen Ablaufplänen, die auch ohne Mobiltelefon oder Internet funktionieren. Es fehlt also nicht nur an der infrastrukturellen Robustheit, sondern auch an der gesellschaftlichen Resilienz, also der Anpassungs- und Lernfähigkeit, um solch fatale Ereignisse vorwegzunehmen und das Schadenspotenzial zu minimieren.

Auch wenn einzelne Bereiche besser vorbereitet sind, macht das meist kaum einen Unterschied, wenn alle anderen praktisch nicht vorbereitet sind. Eine Kette ist so stark, wie ihr schwächstes Glied. Und dieses ist überwiegend das eigene Personal und auch Bürgerinnen und Bürger, die sich immer mehr darauf verlassen, dass sich schon «jemand» darum kümmern wird, wenn mal etwas schiefgehen sollte. Das mag bei einer Strommangellage im ersten Moment noch machbar sein. Sollte diese aber über einen längeren Zeitraum bestehen oder treten – erwartungsgemäss – erhebliche Schäden an der Infrastruktur auf, werden die üblichen Strukturen rasch überfordert sein. Denn die zentrale Basis für eine resiliente Gesellschaft ist die zumindest temporäre Eigenversorgungsfähigkeit der Bevölkerung. Hat das Personal zu Hause ein (Versorgungs-)Problem, wird es kaum an den Arbeitsplatz kommen, um die Systeme wieder hochzufahren. Die heutige hoch optimierte Versorgungslogistik ist davon abhängig, dass möglichst viele Schlüsselkräfte zur Arbeit kommen, ansonsten droht die Kette zu reissen.

Ein überregionaler Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall

Noch dramatischer könnte es kommen, käme es zu einem ungeplanten überregionalen Stromausfall, einem sogenannten Blackout. Ein solches Ereignis wird zwar von vielen Experten als sehr unwahrscheinlich eingestuft, ausgeschlossen wird es aber nicht. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich mangels vergangener Ereignisse nicht berechnen. Aussagen dazu sind daher irreführend und auch irrelevant. Denn entscheidend ist, ob ein solches Ereignis möglich ist und dass es mit katastrophalen Auswirkungen verbunden wäre.

Das europäische Verbundsystem – mit der Schweiz mittendrin – befindet sich in einem fundamentalen Umbruch. Gleichzeitig kumulieren seit Jahren an und für sich gut beherrschbare Einzelereignisse, was dazu führt, dass es in einem komplexen System durch kleine Ursachen zu verheerenden Auswirkungen kommen kann. Das europäische Verbundsystem ist längst nicht mehr das einfach beherrschbare elektrische System, wie das noch viele glauben, die es mitaufgebaut und erfolgreich betrieben haben. Mit der fortschreitenden Digitalisierung, der Ausweitung des internationalen Stromhandels, dem fehlenden Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU sowie den immer geringer werdenden Reserven wird auch dieses, bisher als sehr zuverlässig geltende, System verwundbarer. Und damit auch die Gesellschaft, denn deren Wohlstand und hoher Lebensstandard hängen wesentlich von einer verlässlichen Verfügbarkeit der Stromversorgung ab.

Der Mensch weiss etwas häufig erst dann zu schätzen, wenn es nicht mehr verfügbar ist. Davor verliert es zunehmend an wahrgenommenem Wert. Das erleben wohl viele, die im Alltag in der Stromwirtschaft tätig sind. Das hat sich bereits während der Covid-19-Pandemie gezeigt, während der die Gesellschaft realisiert hat, wer wirklich systemrelevant ist. Die richtigen Konsequenzen wurden daraus wohl noch nicht gezogen.

Vorsorge: Jeder und jede sollte sich während 14 Tagen mit den Nötigsten versorgen können, ohne einkaufen gehen zu müssen.

Eine schwerwiegende Versorgungskrise als Folge eines Blackouts

Daher werden auch die Folgen eines möglichen Blackouts massiv unterschätzt. Während in der Schweiz oder in Österreich die Wiederherstellung der Stromversorgung relativ rasch wieder gelingen sollte, könnte das in anderen Ländern deutlich länger dauern, beispielsweise in Deutschland. Und auch wenn der Strom nicht zu grossflächig ausfallen und eine Wiederherstellung der gesamten Stromversorgung binnen eines Tages gelingen sollte, ereigneten sich bereits nach wenigen Stunden viele katastrophale Auswirkungen in der Versorgungslogistik. So wird etwa erwartet, dass binnen Stunden Millionen Tiere in der industrialisierten Tierhaltung in Europa verenden würden. Ein grosser Unsicherheitsfaktor sind auch die potenziellen IT-Schäden ganz generell und im Speziellen in der Telekommunikationsinfrastruktur. Wenn IT-Netzwerke, Gebäudeleittechnik oder Produktionssysteme im grösseren Umfang ausfallen oder langwierige Störungen hervorrufen und nicht genug Fachpersonal oder Ersatzteile zur Verfügung stehen, ist mit sehr langen Wiederanlaufzeiten zu rechnen, auf die die Gesellschaft kaum vorbereitet ist.

Daher ist die Truthahn-Illusion wohl eine der grössten aktuellen Gefahren für die moderne Gesellschaft. Denn es geht nicht nur darum, etwas zu verhindern – was die europäischen Netzbetreiber in Zusammenarbeit mit allen involvierten Akteuren bislang notabene hervorragend machen –, sondern es geht auch um die gesellschaftliche Verantwortung, mit möglichen und nie völlig auszuschliessenden Störungen umgehen zu können. So wie sich die Elektrizitätswirtschaft auf eine mögliche Wiederherstellung vorbereitet, muss es auch der Rest der Gesellschaft tun. Ansonsten könnte es zu einem sehr dramatischen und auch traumatischen Erwachen kommen. Dazu ist erforderlich, dass die Elektrizitätswirtschaft die Probleme klarer anspricht und nicht herunterspielt. Auch eine Pandemie, ein neuerlicher Grosskrieg in Europa, eine schwere Energiekrise oder eine Inflation waren schliesslich bis vor Kurzem unwahrscheinlich. Ebenso entscheidet die Wortwahl, was zu diesem Thema in anderen Bereichen wie wahrgenommen wird.

Vorsorge geht ganz einfach

Die Vorsorge selbst geht recht einfach: Jede und jeder sollte sich während 14 Tagen mit dem Notwendigsten, ohne Einkaufen gehen zu müssen, selbst versorgen können. So wird ein wichtiger Puffer geschaffen, damit die Menschen wieder in die Arbeit kommen und die Systeme hochfahren können. In den Unternehmen und Organisationen geht es vor allem um einfache Handlungsabläufe, die auch ohne Mobiltelefon oder Internet funktionieren müssen, um unnötige Schäden abzuwenden und um in einen sichereren Betriebszustand zu gelangen. Der Wiederanlauf erfordert in der Regel eine funktionierende Telekommunikationsversorgung, deren Wiederherstellung deutlich länger als die Wiederherstellung der Stromversorgung dauern wird. In vielen Bereichen wird daher viel Zeit vergehen, bis wieder ein geordneter Betrieb möglich sein wird. Wichtig ist nur, dass die Grundversorgung der Bevölkerung möglichst rasch wiederhergestellt werden kann.

Wie die Erfahrung zeigt, sind viele der hier aufgezeigten Zusammenhänge auch in Elektrizitätsunternehmen nicht in der vollen Bandbreite bewusst, weshalb sie gerne unterschätzt werden. Der Sinn dieses Beitrags ist daher auch, das Bewusstsein zu schaffen, verstärkt über den Tellerrand hinaus zu blicken und sich besser mit anderen zu vernetzen, um die zunehmend kom-plexer werdenden Herausforderungen gemeinsam besser bewältigen zu können. Vor allem muss es der Branche gelingen, die ganze Gesellschaft auf das Undenkbare vorzubereiten, auch wenn dieses nur selten oder bestenfalls nie stattfinden wird. Aber es ist besser, darauf vorbereitet zu sein als böse überrascht zu werden.

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