Gamification statt sozialer Kontrolle

Die Pandemiemassnahmen stellten den VSE vor einem Jahr vor grosse Herausforderungen: Wie sollten Weiterbildungs- und Networking-Anlässe regelkonform durchgeführt werden? Innert kürzester Zeit etablierte der Verband deshalb hybride Veranstaltungsformen, welche sowohl Präsenz- als auch Online-Teilnahme erlauben – mit grossem Erfolg.
06.04.2021

«Bleiben Sie zu Hause!» Nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, seit Bundesrat Alain Berset sein Mantra anstimmte. Die Pandemie hatte die Schweiz erreicht. Das öffentliche Leben im Land wurde heruntergefahren und die Schweizer Bevölkerung war angehalten, ihre Mobilität sowie direkte Kontakte mit Mitmenschen massiv einzuschränken. Wo möglich, wurde die Arbeit von zu Hause aus zur Pflicht, um nicht miteinander in vollgepferchten Zügen durchs Land zu pendeln.

Grosse Anlässe mit Tausenden Besuchern wie etwa die Basler Fasnacht, Meisterschaftsspiele im Eishockey und Fussball, Publikumsmessen oder Konzerte mussten allesamt abgesagt werden. Aber auch kleinere Anlässe waren betroffen: keine Frühlingskonzerte von Musikgesellschaften, keine Abendunterhaltungen von Turnvereinen und auch keine Aufführungen von Laientheatergruppen. Darüber hinaus wurden auch Schülerinnen und Schüler aus den Klassenzimmern verbannt. Sie mussten dem Unterricht von zu Hause aus folgen, und sie wurden in virtuellen Klassenzimmern unterrichtet.

Von einem Tag auf den anderen auf Online-Anlässe umgestellt

Weil sich die Menschen nicht mehr treffen durften, konnten im letzten Frühling auch geplante Veranstaltungen des VSE nicht wie vorgesehen stattfinden. Nadja Germann, Leiterin des Bereichs «Weiterbildung Energie» und Mitglied der Geschäftsleitung des VSE, sowie ihr Team beschlossen daher, quasi von einem Tag auf den anderen auf eine Online-Durchführung dieser Anlässe zu wechseln. Später, als die strengsten und einschneidendsten Massnahmen langsam aufgehoben wurden, startete der VSE zusätzlich mit Hybrid-Veranstaltungen. Diese richten sich gleichzeitig an Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort sowie an solche, die via Videoübertragung zugeschaltet sind.

«In der Energiebranche hat niemand so schnell reagiert wie der VSE», sagt Nadja Germann begeistert. Dass der VSE vor einem Jahr so schnell alternative Lösungen anbieten konnte, ist zum Teil auch dem Umstand zu verdanken, dass er im Herbst 2020 sowieso einen Testlauf mit solchen Hybrid-Veranstaltungen hatte lancieren wollen. Die Vorbereitungen dazu waren schon so weit fortgeschritten, dass geplante analoge Veranstaltungen innert kürzester Zeit online adaptiert werden konnten. Dass der Wechsel auf Online-Veranstaltungen und deren kontinuierlicher Ausbau so schnell und erfolgreich möglich war, sei aber ganz klar das Verdienst des ganzen Weiterbildungs-Teams beim VSE, windet Nadja Germann ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Kränzchen: «Solche Veranstaltungen gelingen nur mit einem fähigen und gut eingespielten Team, und das haben wir.»

Schnell habe sich gezeigt, dass nicht nur die Technologie auf die neuen Herausforderungen angepasst werden müsse, sondern dass auch die Referenten miteinbezogen und trainiert werden müssten, ergänzt Susan Mühlemeier, Leiterin Weiterbildung West­schweiz beim VSE. «Einen Kurs online oder gar hybrid zu leiten, ist etwas ganz anderes als eine reine Präsenzveranstaltung. Das verlangt den Referenten ganz neue Fähigkeiten ab, die sie erst erlernen müssen.» Als Veranstalter sei es denn auch die Verantwortung des VSE, seine Referenten für diese Form der Präsentation fit zu machen. «Das ist uns bisher gut gelungen, und es ist sicher auch ein Teil des Erfolgs.»

Der Schweizerische Stromkongress wurde in diesem Jahr als Hybrid-Veranstaltung durchgeführt.

Ohne Risiko, aus der Peripherie oder aus dem Ausland

Der grosse Vorteil von solchen Hybrid-Veranstaltungen ist die damit einhergehende Flexibilität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Vor allem Personen aus peripher gelegenen Landesteilen, die eine lange Anreise nach Zürich oder ins Mittelland haben und daher bislang vielleicht auf die eine oder andere Veranstaltung verzichtet hatten, können so an VSE-Veranstaltungen teilnehmen, ohne reisen zu müssen. «So kann beispielsweise jemand aus dem Puschlav oder aus dem Wallis am Morgen ganz normal im Büro anwesend sein und am Nachmittag online einen Kurs beim VSE absolvieren», erklärt Nadja Germann. «Er spart nicht nur Zeit und Reisekosten, sondern auch noch die Ausgaben für Kost und Logis.» Auch Angehörige von Risikogruppen, deren Bewegungsfreiheit momentan stark eingeschränkt ist, haben so die Möglichkeit, an Kursen und Veranstaltungen teilzunehmen, ohne dafür ein gesundheitliches Risiko eingehen zu müssen.

Auch auf der anderen Seite des Rednerpults vereinfachen solche Anlässe vieles. «Einen Anlass online oder hybrid stattfinden zu lassen, eröffnet ganz neue Möglichkeiten, um auch an hochklassige Referenten aus dem Ausland zu kommen», erklärt Susan Mühlemeier. «Kann ein Referent seine Präsentation bequem aus seinem Büro halten, ist er oft eher bereit, an einem VSE-Anlass aufzutreten, als wenn er zwei Tage mit Reisen und Transfers verliert, um eine Stunde lang live in der Schweiz vor Publikum aufzutreten.»

Online ist ein höheres Tempo nötig als beim Präsenzanlass

Allerdings ist der Aufwand für eine Hybrid-Veranstaltung deutlich höher als für eine Präsenzveranstaltung. «Man muss bei diesem Format ständig beide Publika bedienen: jene zu Hause am Bildschirm und jene vor Ort», so Nadja Germann. Online müsse ein höheres Tempo als beim Präsenzpublikum angeschlagen werden, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht zu verlieren. «Und gleichzeitig muss man beide Gruppen so einbeziehen, dass sie eine Klasse bilden.» Das sei nicht einfach nur etwas mehr Aufwand, sondern verlange umfangreiche Planung und Vorbereitung, erklärt Susan Mühlemeier: «Wir müssen uns ganz genau überlegen, wie die Situation vor Ort aussieht, wer wo sitzt, welche Kamera wie ausgerichtet ist, wie die Online-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer etwas angezeigt erhalten. Das braucht erst enormes Vorstellungsvermögen und dann ein genaues Drehbuch und Regieverantwortung.»

Vorstellungsvermögen allein reicht jedoch nicht. Zwar sollten längere Pausen auch bei Präsenzveranstaltungen vermieden werden, aber trotzdem kommen sie immer wieder vor. Während zwanzig Sekunden, in denen ein Referent in seiner Tasche kramt, auf seinem Notebook eine Datei sucht oder seinen Laserpointer einzuschalten versucht, für Anwesende schon quälend lang sein können, nehmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Hause am Bildschirm einen solchen Unterbruch schon als beinahe absurd lang wahr. Im schlechtesten Fall «verliert» man dann sein Online-Publikum. Schliesslich besteht zu Hause vor dem Bildschirm ein deutlich höheres Ablenkungspotenzial als in einem Schulungsraum, zumal auch die soziale Kontrolle durch andere Anwesende wegfällt.

Wie aber kann die Aufmerksamkeit vor dem Bildschirm aufrechterhalten werden? «Gamification», nennt Nadja Germann das Stichwort: «Wir setzen spielerische Elemente, wie beispielsweise ein Quizz, ein, um herauszufinden, ob das Wissen angekommen ist.» Eine andere Möglichkeit seien Umfragen, ergänzt Susan Mühlemeier: «Eine Umfrage zur Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer generiert sofort Interaktion und Diskussionen, weil man sich erklären will, warum man so oder anders abgestimmt hat.»

Die Vorteile überwiegen, ausser bei Networking-Anlässen

Und was bleibt von dieser Entwicklung, wenn sich die Gesellschaft wieder freier bewegen kann als im Moment und wenn auch wieder viele Menschen zusammenkommen dürfen? Trotz anhaltender Einschränkungen ist die mittelfristige Rückkehr zur alten Normalität oder wenigstens zu einem ihr ähnlichen Zustand kein völlig abwegiges Szenario. «Es wird vieles von dieser Entwicklung bleiben, und die beiden Formen werden koexistieren», sagt Nadja Germann. «Der Wechsel von physisch zu virtuell wird fliessend. Es wird sogar zu einem Anspruch werden, dass ein nahtloser Wechsel von einer Form zur anderen möglich ist, um maximal flexibel zu bleiben.» Die Konzeption von Veranstaltungen wird nicht nur komplexer, sondern auch kurzfristiger. «Das vergangene Jahr hat alles beschleunigt. Webinare werden kurzfristiger ausgeschrieben als Präsenzveranstaltungen, und die Anmeldungen treffen oft erst kurz vor Veranstaltungsbeginn ein. Mit einem Klick auf den Link ist man ja schon dabei – ganz ohne Anreisezeiten.»

Die Ergebnisse der letzten VSE-Mitgliederumfrage belegen ebenfalls, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von diesen neuen Möglichkeiten sehr angetan sind. Sie zeigen aber auch, dass der Wunsch nach reinen Präsenzveranstaltungen nach wie vor vorhanden ist. «Dabei geht es primär um Networking-Anlässe. Die lassen sich schlicht nicht in den digitalen Raum verschieben», erklärt Susan Mühlemeier. Die Herausforderung, Gäste für solche Anlässe zu begeistern, werde aber nicht kleiner: «Wir müssen künftig noch viel deutlicher aufzeigen, warum es sich lohnt, zu einer Veranstaltung zu kommen.» Als Branchendachverband, der über eine Unmenge von Kontakten verfüge und so die Menschen aus der Branche zusammenbringen könne, habe der VSE sicher einen unschätzbaren Vorteil. «Wir bringen Menschen zusammen, die die gleichen Interessen haben und die sich mit ihresgleichen austauschen möchten.» Und die nicht mehr zu Hause bleiben müssen.

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