«Bereit sein, die Energiewende stattfinden zu lassen»

1879 nahm das Hotel Engadiner Kulm in St. Moritz die erste elektrische Beleuchtungsanlage in Betrieb. 16  Jahre später gründeten 16 Stromwerke in Aarau den VSE. Nun, weitere 125 Jahre später, ist der Zeitpunkt gekommen, um mit Direktor Michael Frank einen Blick in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Verbands sowie der ganzen Branche zu werfen.
11.08.2020

Michael Frank, der Strom hat sich in den letzten 125 Jahren nicht verändert, im Gegensatz zum VSE. Was bedeutet ein solches Jubiläum für den Verband?

Michael Frank: 125 Jahre sind eine lange Zeit, welche für die ganze Branche mehr bedeutet als für den Verband als solchen. Dass der Verband ein solches Jubiläum feiern kann, zeigt, dass es eine solche Organisation braucht und dass sich ihr Einsatz in der Politik und in der Öffentlichkeit für die Branchenanliegen lohnt. Gleichzeitig bedeutet es aber auch eine Verpflichtung, dass der Verband die Interessen seiner Mitglieder auch in den kommenden 125  Jahren bei Politik, Öffentlichkeit und Verwaltung vertritt.

Welche Aufgaben des Verbandes erachten Sie neben der Interessensvertretung der Branche als zentral?

Der VSE hat drei Standbeine: Neben der Vertretung der Anliegen der Branche, wozu auch die Kommissionsarbeit und die Erarbeitung von Branchendokumenten gehören, sind dies die Berufsbildung sowie der Weiterbildungsbereich. In diesem bieten wir Dienstleistungen für die ganze Branche an.

Seit Mitte März, als das Coronavirus die Schweiz erreichte und der Bundesrat Abstandsregeln und ein Versammlungsverbot erliess, entfiel das dritte Standbein quasi komplett. Wie schaffte es der Verband, auch auf zwei Beinen stabil zu stehen?

Das Versammlungsverbot des Bundesrats hatte zur Folge, dass wir sämtliche Weiterbildungsveranstaltungen, Seminare und Branchenanlässe auf unbestimmte Zeit absagen mussten. Es hat sich aber erfreulicherweise gezeigt, dass der Verband punkto Digitalisierung und IT-Infrastruktur gewappnet war und sehr schnell und flexibel alternative Angebote entwickelt hat, um diese Dienstleistungen auch online anbieten zu können, beispielsweise als Webinar. Daneben hat der Verband gleich zu Beginn der Krise ein «Corona-Forum für EVUs» eingerichtet, das als digitale Austauschplattform für die Branche diente und von deren Exponenten rege genutzt wurde. Eindeutig bewährt hat sich, dass wir seit geraumer Zeit alle unsere Anwendungen cloud-basiert nutzen; das hat Home-Office massiv erleichtert.

Welche mittel- und langfristigen Folgen wird die Corona-Pandemie auf Verband und Branche haben?

Die Pandemie hat gezeigt, wie sich die Digitalisierung auf unsere Arbeitswelt auswirkt. Besonders gefreut hat mich, dass der Verband in der Lage war, auch virtuell einwandfrei zu funktionieren und nahtlos seine Dienstleistungen zu erbringen. Vernehmlassungsprozesse wurden einfach in den digitalen Raum verlegt, funktionierten ansonsten aber genau gleich wie zuvor. Auch zahlreiche Kommissionen und Arbeitsgruppen tagten auf unseren digitalen Plattformen. Die guten Erfahrungen zeigen, dass hier Potenzial schlummert, dass wir mitnehmen müssen.

1995 feierte der VSE sein 100-Jahr-Jubiläum. Seither ist auch viel anderes geschehen. Welche Ereignisse hatten den grössten Einfluss auf die Branche?

Da kommen mir die geplatzte Dot-Com-Blase oder der 11. September in den Sinn. Smartphones traten ihren Siegeszug an und 2008 ereilte uns eine globale Finanzkrise, welche massive Auswirkungen auf die Branche hatte.

Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch technologisch hat sich seit 1995 viel verändert. Welches ist in Ihren Augen die wichtigste Entwicklung in diesem Bereich?

In den letzten 20 bis 30 Jahren ist das eindeutig das Internet. Diese Technologie war und ist nach wie vor die treibende Kraft. Sie ist in jeden einzelnen Lebensbereich vorgedrungen und hat so Gesellschaft und Wirtschaft durchdrungen und stark verändert. Sie hat neue Geschäftsmodelle ermöglicht und die Digitalisierung angestossen.

Die Rahmenbedingungen für die Energiebranche sind auch nicht mehr die gleichen. Stichwort: Teilliberalisierung.

Der Wechsel aus dem Monopol in einen teilliberalisierten Markt, der zudem noch stärker technologiegetrieben ist, prägte den Verband und hat ihn gegenüber früher sicher dynamischer werden lassen. Wir müssen uns heute anders, schneller bewegen als noch im Monopol. Gesetzesrevisionen kommen in immer schnellerer Abfolge und die Sektoren Strom, Gas, Wärme und Verkehr wachsen zusammen. Um diesen neuen Anforderungen nachzukommen, brauchen wir ganz viel zusätzliches Know-how und neue Fähigkeiten.

Heute müssen Unternehmen junge Menschen aus den Generationen Y und Z rekrutieren. Die Arbeitsauffassung und Ansprüche dieser Generationen unterscheiden sich massiv von jenen der Baby Boomer oder der Generation X. Ist die Branche, ist der Verband bereit dafür?

Die Branche ist abhängig von der Gesellschaft, von den Personen, die zur Verfügung stehen und von deren Wissen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ein Generationenwechsel stattfindet. Die nächste Generation mag in der Tat klima- und shared-economy-getrieben sein und als Digital Natives einen selbstverständlicheren Umgang mit neuen Technologien haben. Dass diese Generationen neue Ideen haben, ist nichts Neues, sondern bringt uns als Verband und als Branche weiter. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass die Generationen Y und Z – überspitzt formuliert – das ausbaden müssen, was die Politik und die Gesellschaft heute bestimmen. Sie werden die künftigen Entscheidträger sein und ihre Spuren in der Energiepolitik und der Energiebranche hinterlassen. Das ist keine Revolution, sondern Evolution; eigentlich ein ganz normaler Prozess.

Sie haben Ihren Posten an der Verbandsspitze am 1. März 2011 angetreten. Neun Tage später waren die Welt im Allgemeinen und die Energiebranche im Speziellen nicht mehr die Gleichen.

Fukushima war eine Zäsur. Die Auswirkungen dieser Katastrophe sind bekannt. Wo wir heute als Branche stehen, wie wir uns präsentieren, ist das Resultat aus diesem Ereignis. Die andere grosse Zäsur, die sich wie Fukushima auf allen Ebenen der Gesellschaft auswirkt, ist die Klimadiskussion, die seit dem letzten Jahr viel intensiver geführt wird.

Nach Fukushima haben die Schweiz, Deutschland und diverse andere Länder den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen. Ketzerisch gefragt: Brauchte es Fukushima?

Nein. Ein Kernkraftwerk sollte niemals explodieren müssen. Als Folge dieses Unfalls wurde aber die Rolle der verschiedenen Energieträger diskutiert. Die Versorgungssicherheit wurde zum Thema, und generell wurde die Energiepolitik bewusster betrieben. Das schlimme Ereignis hat so die Behandlung zuvor wenig oder gar unbeachteter Themen angestossen. Man darf daher sicher sagen, dass uns ohne Fukushima die Klimapolitik heute wesentlich schwerer fiele.

In diese Klimadiskussion schalten sich sehr viele Stimmen ein. Wie schafft es der VSE, trotz der heterogenen Zusammensetzung seiner Mitglieder, mit einer geeinten Stimme für die ganze Branche zu sprechen?

Ausser in Diktaturen schafft man es nirgendwo, mit einer Stimme zu sprechen. Es ist eine Realität, dass man überall eine Vielfalt von Meinungen hat. Ist eine Branche so heterogen wie unsere, muss man halt bereit sein, Kompromisse einzugehen. Demokratie bedeutet letztlich auch Kompromissfähigkeit, das kennen wir in der Schweiz bestens. Das gilt auch für uns als Branche. Natürlich ist der Produzent primär um sein Kraftwerk besorgt, während dem Netzbetreiber das Netz wichtig ist und der Verkäufer vor allem seinen Umsatz sieht. In unserem Energiesystem funktioniert aber das eine nicht ohne das andere. Es beginnt bei der Produktion und endet an der Steckdose. Es ist ein End-to-End-System, und die Klammer über all dies ist die Versorgungssicherheit. Vor diesem Hintergrund müssen wir gemeinsame Haltungen finden und bündeln.

Dennoch: Es gibt andere Verbände wie beispielsweise Swissolar oder Suisse Éole, die innerhalb der Energiebranche sehr partikuläre Interessen verfolgen. Wie bringt der VSE diese alle unter einen Hut?

Die Versorgungssicherheit muss das Ziel aller Exponenten dieser Branche sein. Denn was nützen mir fünfzig Gigawatt Photovoltaik-Leistung, wenn ich kein adäquates Netz und keine Netzanschlüsse habe? Wasser-, Solar- und Windenergieproduzenten wissen, dass wir das Netz brauchen. Das ist der Backbone, das Skelett des ganzen Systems. Partikularinteressen sind normal. Deshalb reden wir miteinander und tauschen uns aus: im Vorstand sowie in den vielen Fachkommissionen, welche der VSE gemeinsam mit der Branche unterhält. So finden wir für alle tragbare Lösungen.

Welche Herausforderungen erwarten den VSE in Zukunft?

Wir haben aktuell einen teilliberalisierten Markt. Jeder kann also grundsätzlich überall tätig sein. Das bedeutet, dass wir in unserer Branche einerseits Wettbewerb haben, anderseits aber nach wie vor auf Kooperation mit Mitbewerbern angewiesen sind. Die Interessen einzelner Stakeholder werden dabei akzentuiert, und eine Position zu finden, wird zur Herausforderung, denn die beste Lösung für die Branche ist möglicherweise nicht die maximale Lösung für ein einzelnes EVU. Wenn wir aber andere Branchen, die keine Monopol-Vergangenheit haben, ansehen, ist das ja eine ganz normale Situation.

Das wird umso anspruchsvoller, da sich diese Heterogenität noch verstärken wird.

Diese Entwicklung ist technologiegetrieben und betrifft nicht nur die Energiebranche, sondern alle anderen auch. Soziale Medien verlangen nach jetzt und sofort. Damit müssen wir umgehen können, denn das Umfeld wird sich nie nach mir richten, sondern ich muss mich nach meinem Umfeld richten.

Die Energiestrategie 2050 wurde deutlich angenommen. Die konkreten Umsetzungen haben aber einen schweren Stand: Diverse Kantone haben die kantonalen Energiegesetze an der Urne versenkt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Eine Mehrheit will zwar die Energiewende. Viele sind aber erstaunt, wenn sie dann tatsächlich stattfindet. Es gibt Opposition gegen alles: Erhöhung von Staumauern, Windkraftanlagen, Netz­anpassungen. Das ist in der Tat ein Widerspruch, der nicht in Einklang zu bringen ist mit der Versorgungssicherheit und einem stabilen System. Man sagt ja zur Energiestrategie und scheitert dann an der operativen Umsetzung, die dazu notwendig ist.

Noch ist die Versorgungssicherheit in der Schweiz sehr hoch. Wir sind uns gewohnt, dass der Strom immer da ist.

Dass die Stromversorgung so reibungslos funktioniert, zeigt, dass die Branche seit über 100 Jahren einen hervorragenden Job macht. Strom ist für uns fast so selbstverständlich wie atmen.

Sind wir als Stromkonsumenten zu verwöhnt?

Als Konsumenten sind wir uns in der Schweiz in allen Belangen einen hohen Standard gewohnt. Den Strom vermissen wir erst, wenn er einmal nicht mehr so zuverlässig vorhanden ist. Daher müssen wir selbst die Verantwortung für unsere Versorgungssicherheit übernehmen. Denn die Alternativen sind Stromimporte und Kraftwerke im Ausland, auf die wir nur beschränkt Einfluss hätten.

Wie überzeugen Sie die Gesellschaft davon?

Alleine als Verband stossen wir hier an Grenzen. Aber ein Verband ist auch Teil der Gesellschaft. Und als solcher müssen wir transparent machen, welche Probleme bestehen und welche Lösungen dafür in Frage kommen. Ich kann nicht sagen: «Ich will nur noch Strom aus Erneuerbaren» und gleichzeitig jegliche Ausbauprojekte für erneuerbare Energien bekämpfen. Dieser Ambivalenz der Gesellschaft zu begegnen, ist eine grosse Herausforderung für uns als Verband.

Megatrends wie der Klimawandel oder die Digitalisierung betreffen alle, nicht nur einzelne Branchen. Wo aber haben diese Entwicklungen konkreten Einfluss auf die Energiebranche?

Erst die Digitalisierung macht den Umbau des Energiesystems überhaupt möglich. Dezentrale Energieerzeugung lässt sich ohne digitale Technologien nicht bewältigen. Und punkto Klimawandel ist die Branche sogar in einer ausgezeichneten Position. Es ist unbestritten, dass es griffige Massnahmen gegen den Klimawandel braucht. Und eine der wichtigsten Massnahmen ist die Elektrifizierung von Abläufen, die bisher auf fossilen Energien basierten, wie Verkehr oder Heizung. Vergessen wir nicht: Elektrifizierung ist unser Kerngeschäft!

Wird die vollständige Marktöffnung Tatsache, ist eine eigentliche Flurbereinigung und damit eine Konzentration der Branche auf wenige grosse Unternehmen ein denkbares Szenario. Bräuchte es dann noch einen Verband? Oder anders gefragt: Warum feiert der VSE 2045 sein 150-Jahr-Jubiläum?

Auch bei einer vollständigen Marktöffnung wird es keine Remonopolisierung der Energiebranche geben. Zusammenarbeit und Kooperation werden sich ändern, weil Märkte und Technologie letztlich immer zu Veränderungen führen, und diese Veränderungen haben auch Einfluss auf den Verband, doch es wird ihn weiterhin brauchen. Einzelne Unternehmen finden in der Politik immer weniger Gehör als ein Verband, der eine ganze Branche vertritt. Und wir werden dannzumal ein Jubiläum feiern, weil unsere Branche den anstehenden Wandel mit Erfolg vollziehen wird. Die Technologie wird uns dorthin führen, denn die Versorgungssicherheit wird auch in 25 Jahren sichergestellt werden müssen. Das ist unsere wichtigste Aufgabe und unsere Daseinsberechtigung. Wir steuern auf eine massive Elektrifizierung zu. Wer, wenn nicht wir, weiss, wie das geht?