Versorgungssicherheit: Selbstverständlich, oder?

Der Strom in der Schweiz ist immer da. Das ist das Resultat weitsichtiger Konzepte und seriöser Arbeit. Und in Zeiten einer Pandemie ist es eine umso grössere Herausforderung. Eines ist es aber nicht: selbstverständlich.
12.05.2020
Bild: distelAPPArath/pixabay

Es ist für Stromkunden in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit, dass der Strom zur Verfügung steht, wenn sie ihn brauchen (wollen). Dieser Umstand ist sogar so selbstverständlich, dass er nicht einmal mehr als selbstverständlich wahrgenommen wird. Dass der Strom fliesst, ist wie atmen; immer; ohne Unterbruch. Sogar während einer Pandemie.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, wie schnell sich sicher geglaubte Lebensumstände einschneidend verändern können. Am 16. März 2020 hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage für die Schweiz ausgerufen, mit weitreichenden Konsequenzen: Ganze Branchen mussten ihre Tätigkeit einstellen. Schulen wurden geschlossen. Statt in der S-Bahn dicht an dicht gedrängt zur Arbeit zu pendeln, war plötzlich für viele Home Office angesagt – Kinderbetreuung und -schulung inklusive. Diese neuen Umstände stellten viele Menschen in der Schweiz vor neue Herausforderungen, für die sie quasi über Nacht Lösungen finden mussten.

Obwohl die Einwohner anderer Länder teilweise viel einschneidendere Massnahmen erdulden müssen, scheint die heile Welt von Herrn und Frau Schweizer seit Anfang März aus den Fugen geraten. Ein Stück Normalität stellt daher in dieser Zeit der Umstand dar, dass die Stromversorgung auch in einer solchen Ausnahmesituation funktioniert – selbstverständlich eben.

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Stillstand - Während einer Pandemie nimmt der Verkehr markant ab (Symbolbild).

Anlagen betreiben sich nicht von alleine

Es zeigt sich jedoch, dass diese Tatsache vielleicht doch nicht ganz so selbstverständlich ist, wie man meinen möchte. Zwar werden in der Schweiz zur Stromproduktion primär grosse Anlagen wie Wasser- oder Kernkraftwerke benötigt. Diese betreiben sich aber nicht von alleine. Diese Anlagen müssen bedient, unterhalten und regelmässig gewartet werden, damit sie rund um die Uhr reibungslos funktionieren können. Und dazu braucht es Menschen: ausgebildete Fachkräfte, welche diese Anlagen kennen und bedienen können. Und es versteht sich, dass mit der Stromproduktion alleine noch niemandem geholfen ist. Der Strom muss von den Produktionsstandorten in Haushalte, Unternehmen und die öffentliche Infrastruktur gelangen. Es braucht also ein Netz, das ebenso wie die Produktionsanlagen instandgehalten werden muss. Auch hierfür werden Menschen benötigt, die sich mit dem Bau und dem Betrieb dieser zentralen Infrastruktur auskennen, welche das Rückgrat der Stromversorgung in der Schweiz bildet.

Die Schweizer Energiebranche wird nicht müde, die exzellente Versorgungssicherheit in der Schweiz zu betonen und zu rühmen, und das natürlich völlig zu Recht. Ganze 23 Minuten – so lange war 2018 jeder Schweizer Stromkunde im Schnitt ohne Strom. Diese komfortable Situation, in der sich die Schweiz in dieser Hinsicht befindet, beruht auf der innovativen, umsichtigen und vorausschauenden Arbeit der Schweizer Energieversorgungsunternehmen. Diese haben das Land während der letzten 100 Jahre mit einem Netz ausgerüstet, das derart ausgelegt wurde, dass auch ein – der fortgeschrittenen Elektrifizierung des Schweizer Alltags geschuldeter – stark angestiegener Hunger nach Strom (noch) mühelos bewältigt werden kann.

Damit die Schweiz auch in Zukunft in dieser komfortablen Situation verbleibt, wird einerseits auf nationalem und internationalem Parkett politisiert und verhandelt. Gleichzeitig leisten unzählige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den wichtigen Knotenpunkten unseres Stromnetzes ihren Dienst. In den Leitstellen überwachen Dispatcher – speziell dafür ausgebildete Personen – das Geschehen in den verschiedenen Netzen: Strom, Wasser, Gas und Wärme. Im Störfall leiten diese Dispatcher entsprechende Massnahmen zur Behebung der Störung ein. Sogar ganze Kraftwerke können aus diesen Leitstellen heraus überwacht und betrieben werden. Und natürlich haben auch Kernkraftwerke eigene Leitstellen, aus denen die Anlage mit den Argusaugen von Pikett-Ingenieuren sowie Reaktor- und KKW-Anlagen-Operateuren überwacht wird. Muss irgendwo im Netz eine Komponente ersetzt werden, rücken Netzelektrikerinnen und Netzelektriker aus, um diese Arbeiten vorzunehmen.

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Leerstand - Trotz intakter Nachschubketten ver­halten sich die Konsumenten irrational und kaufen die Regale leer.

Und wenn mal nichts so ist wie immer?

Doch was geschieht in Extremsituationen, wenn diese gut ausgebildeten Spezialisten nicht ausrücken oder eingreifen können, beispielsweise weil sie krank sind? Während dieser Artikel Form annimmt (Anfang April 2020), steigt die Anzahl mit dem Corona-Virus Infizierter in der Schweiz noch kontinuierlich um Hunderte neue Fälle täglich an. Eine Entspannung der Lage in der Schweiz ist noch in weiter Ferne. Und am 8. April hat der Bundesrat die Massnahmen zur sozialen Distanzierung nochmals um eine Woche bis am 26. April 2020 verlängert. Es geht schon lange nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu verhindern, sondern um deren Verlangsamung, weil sonst die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen kollabierten.

Zwar hat eine nicht repräsentative Umfrage bei Schweizer Energieversorgern ergeben, dass der Stromverbrauch seit Ausrufung der ausserordentlichen Lage bisweilen deutlich abgenommen hat. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat die Umfrage Ende März durchgeführt und berichtet in seinem Energeia-Blog darüber. Gemeinsam mit den Einschränkungen aufgrund der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie dürften aber auch die im Frühling steigenden Temperaturen und der damit sinkende Heiz-Bedarf für einen geringeren Stromverbrauch gesorgt haben. Während der Rückgang in städtischen Gebieten rund 10 bis 20% betrage, summiere er sich in Tourismusregionen auf 30 bis 50%, dies wohl primär wegen der am 13. März abrupt beendeten Skisaison.

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Abstand - Die Schweizer EVUs legen grossen Wert auf die vom BAG proklamierten Verhaltensregeln und Hygienemassnahmen, um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen.

Stromversorgung muss stets gewährleistet sein

Obwohl also insgesamt etwas weniger Strom verbraucht wird, muss die Stromversorgung dennoch gewährleistet bleiben. Benzinpumpen an Tankstellen müssen ihren Dienst ebenso zuverlässig tun wie die Rolltreppe oder der Lift im Supermarkt. Kühlketten müssen aufrechterhalten bleiben und in unzähligen Haushalten wird gekocht, Wäsche gewaschen und ferngesehen. Dass all dies weiterhin möglich ist wie bisher, dafür sorgen auch die weiter oben erwähnten Fachleute mit ihrem Engagement und ihrer Expertise. Doch was geschieht, wenn diese Fachleute erkranken, respektive was unternehmen die EVUs, um eben dies zu verhindern? Eine kleine Umfrage bei einigen EVUs in der Schweiz zeigt, dass die Unternehmen ihre Hausaufgaben gemacht haben, damit diese «unsung Heroes» ihrer Arbeit auch unter erschwerten Bedingungen nachgehen und die Stromversorgung in der Schweiz aufrechterhalten können.

Eine spezielle Situation herrscht bei der Repower AG, deren Hauptsitz sich in Poschiavo und damit in unmittelbarer Nähe zu Italien, welches in Europa besonders stark betroffen ist und von wo auch zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Repower stammen, befindet. Jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unverzichtbare Funk­tionen im Unternehmen ausüben, wurden daher im Pusch­lav untergebracht, damit sie nicht wieder nach Italien reisen müssen. Repower hat auch schon früh eine Task Force eingesetzt, welche sämtliche Massnahmen im Zusammenhang mit den Vorgaben des Bundes koordiniert. Eine der ersten Massnahmen war, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht zwingend vor Ort sein müssen, ins Home Office zu schicken. Ausserdem wurden die bisher zweiköpfigen Schichtteams in der Leitstelle in Robbia halbiert, so dass im Augenblick nur ein Mitarbeiter pro Schicht die Leitstelle besetzt. Dank dieser Massnahme konnte der Personal-Pool für diese Schichten verdoppelt werden, was mehr Optionen geschaffen hat für den Fall, dass ein Mitarbeiter erkrankt. Auch die Übergabe von der einen zur nächsten Schicht erfolgt unter Wahrung der Abstandsregeln und in der gebotenen Kürze.

Ähnlich tönt es bei IWB in Basel: Sie verfügt über eine professionelle Organisation zur Ereignisbewältigung und ist auf eine Pandemie vorbereitet. Der sogenannte IWB-Ereignisstab ist bereits Ende Februar zusammengekommen und arbeitet in Abstimmung mit der kantonalen Krisenorganisation. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten wenn möglich im Home Office. Den physischen Kundenkontakt hat IWB drastisch reduziert. Der Hauptsitz und das Kundenzentrum bleiben für Besucher geschlossen. Erreichbar bleiben sie für Kunden via Telefon oder andere digitale Kanäle. In der Leitstelle gelten besondere Schutzmassnahmen. Dank der grosszügigen Platzverhältnisse sei das Abstandhalten problemlos möglich, erklärt Mediensprecher Reto Müller. Schon Ende Februar war die Anzahl Reinigungsteams im ganzen Unternehmen erhöht worden, damit «Viren-Hot-Spots» wie Türfallen, Knöpfe im Lift oder gemeinsam genutzte Bereiche mehrmals täglich desinfiziert werden können. Analog zu Repower beschäftigt auch die IWB zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche auf der anderen Seite der Landesgrenze leben und diese täglich passieren. Bisher sei es jedoch nicht nötig gewesen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem benachbarten Ausland in Hotels in Basel unterzubringen.

Swissgrid, die in der Schweiz das Höchstspannungsnetz betreibt, greift – wie die anderen EVUs auch – auf ihre vorhandene Pandemieplanung zurück, um den Betrieb des Übertragungsnetzes auch in dieser Situation sicherzustellen. Keine Probleme bereiten die räumlichen Verhältnisse in der Leitstelle. Swissgrid hatte diese bei der Konzeptionierung ihres neuen, erst vor knapp zwei Jahren in Betrieb genommenen Hauptsitzes sehr grosszügig ausgestaltet, was sich nun bezahlt macht. Dies erlaubt Swissgrid, in der Leitstelle mit dem gleichen Personalbestand wie bis anhin zu operieren. Aber auch bei der Schweizer Übertragungsnetzbetreiberin arbeiten sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht zwingend im Büro anwesend sein müssen, im Home Office oder auf Baustellen.

Bild: musicflife/pixabay
Im Stand - Auch in einer ausserordentlichen Lage gewährleisten die EVUs die Versorgungssicherheit in der Schweiz.

«Unsung Heroes» halten das System am Laufen

Es zeigt sich, dass die Schweizer EVUs gut auf die Situation vorbereitet und in der Lage sind, auch in dieser ausserordentlichen Lage, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Angst um die Stromversorgung muss in der Schweiz niemand haben. Eine Selbstverständlichkeit ist sie aber keineswegs. Oder anders ausgedrückt: Wenn ein englischer Prinz, ein ehemaliger italienischer Fussballnationalspieler oder ein monegassischer Fürst positiv auf das Virus getestet werden, steht das am nächsten Tag in allen Zeitungen. Da­rüber hinaus haben diese Fälle weiter keinen markanten Einfluss auf das Leben der Bevölkerung in der Schweiz. Fallen die Fachleute in Leitstellen oder an anderen neuralgischen Punkten im Schweizer Stromnetz aus, erscheint keine Zeitung mehr, die darüber berichten könnte.