Wo bleibt der Ruck?

19.06.2023
Im zweiten Anlauf hat die Bevölkerung letzten Sonntag die Klimapolitik der Schweiz unterstützt. Doch Zeit, um uns nach diesem Erfolg zurückzulehnen, haben wir nicht.

Diesmal hat es gereicht. Die Bevölkerung liess sich vom Netto-Null-Ziel überzeugen. Dazu beigetragen haben dürfte, dass das Reizthema Lenkungsabgabe beiseitegelassen wurde – obwohl ein Lenkungssystem mit gut sichtbarer Abgaberückerstattung ökonomisch und ordnungspolitisch eigentlich der richtige Mechanismus wäre, um die CO2-Emissionen zu reduzieren.

Ende gut, alles gut? Nicht wirklich, denn die Umsetzung dieses Ziels steht noch in den Kinderschuhen. Vor bald 3 Jahren hatten wir an dieser Stelle hervorgehoben, dass wir für die Dekarbonisierung jede Kilowattstunde erneuerbaren Stroms brauchen werden. Und dafür müsse nun ein Ruck durch Bundesrat und Parlament gehen. Unsere Studie Energiezukunft 2050 hat in der Zwischenzeit untermauert, dass das Netto-null-Ziel nur mit massiv mehr Akzeptanz der Bevölkerung für grössere Erneuerbare-Energien-Anlagen, sowie mit einer optimalen energiepolitischen Einbindung in Europa realisierbar ist.

Wo stehen wir heute? Der energiepolitische Ruck ist in der Politik durchaus angekommen. Zahlreiche Massnahmen wurden bereits beschlossen, mit der Finalisierung des Mantelerlasses sind weitere in der Pipeline. Durch die Bevölkerung hingegen scheint dieser Ruck trotz der drohenden Strommangellage noch nicht gegangen zu sein. Jedenfalls widerspiegeln die bescheidenen Resultate der aufwändigen Stromsparkampagne und die Erkenntnisse unserer kürzlich veröffentlichten Umfrage zur Versorgungssicherheit keinen «sense of urgency». Auch konkret auf dem Terrain werden immer noch zu viele wichtige Projekte blockiert. Europapolitisch sieht es auch nicht viel besser aus. Es wird nach wie vor auf Zeit gespielt, und die Allianz von links bis mitte-rechts, die traditionellerweise notwendig ist, um europapolitische Geschäfte ins Trockene zu bringen, ist noch nicht ersichtlich.

Um den Tatbeweis der Dekarbonisierung ausschliesslich mit erneuerbaren Energien und im Kontext einer europapolitischen Einbindung zu erbringen, bleibt der Schweiz nur noch wenig Zeit.

Um den Tatbeweis der Dekarbonisierung ausschliesslich mit erneuerbaren Energien und im Kontext einer europapolitischen Einbindung zu erbringen, bleibt der Schweiz nur noch wenig Zeit. Sollte dies innert nützlicher Frist nicht gelingen, ist davon auszugehen, dass sich auch andere Technologien in die energiepolitische Diskussion einladen werden. Im Ausland wird z.B. im Nuklearbereich intensiv geforscht, entwickelt und umgesetzt. Allein – auch das eine Erkenntnis unserer Umfrage – fehlt auch hier die Mehrheitsfähigkeit in der Bevölkerung.

So oder so, der Weg zu Klimaneutralität bei gleichzeitiger Versorgungssicherheit mit Energie ist noch weit. Wir wollen ihn mit erneuerbaren Energien gehen, doch langsam aber sicher rennt uns die Zeit davon, um konkrete Erfolge erzielen zu können... Also, wo bleibt nun dieser Ruck?

Bereichsleiter Public Affairs des VSE

Dominique Martin

Unter der Rubrik «Die politische Feder» veröffentlicht Dominique Martin regelmässig Kommentare und Einschätzungen zu energiepolitischen Themen.

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