Versorgungssicherheit und Biodiversität

Die Stromversorgungssicherheit in der Schweiz steht vor vielen Herausforderungen. Die Ziele sind klar, nicht so der Weg dorthin. Eine Inte­ressenabwägung ist unerlässlich, doch scheinen nicht alle Akteure an einem Strick zu ziehen. Der Branche ist der Naturschutz seit Jahren ein Anliegen – viele Projekte zeugen davon.
04.12.2020

Die verschiedenen Covid-19-Wellen seit dem Frühling haben die Stromversorgung in der Schweiz nicht in die Knie gezwungen. Sie ist immer noch gewährleistet, dank Stromproduzenten und Netzbetreibern, die ihren Auftrag mit Herzblut wahrnehmen. Nun steht der Winter vor der Tür, und es ist schwierig, die Warnungen der ElCom und der anderen Akteure der Branche einfach auszublenden. Wird uns künftig noch genügend Strom zur Verfügung stehen? Das steht in den Sternen. Unsere stromexportierenden Nachbarländer sehen der kalten Jahreszeit mit gemischten Gefühlen entgegen.

Beim Ausstieg aus Kernkraft und Kohle stehen drei Punkte fest: Jeder Einzelne ist bereit, «besser» zu verbrauchen, aber nicht weniger; die Gesellschaft digitalisiert sich, die Covid-19-Krise beschleunigt diesen Prozess sogar; und die Dekarbonisierung erfolgt über die Elektrifizierung. Ohne eine umgehende Weiterentwicklung aller erneuerbaren einheimischen Energiequellen können die Ziele der Energiestrategie 2050 nicht erreicht werden. Aber wie soll das gehen – im Wissen, dass die Versorgung auch auf der Basis von sauberen Energien Eingriffe in die Natur und in die Landschaft bedingt?

Die Energiebranche anerkennt nicht nur die Notwendigkeit, die Biodiversität zu erhalten, sondern beweist anhand zahlloser Beispiele, dass sie auch etwas dafür tut. Dass diese Beispiele bislang häufig unbemerkt geblieben sind, liegt daran, dass sie in einem verantwortungsbewussten Ansatz für die Stromversorgung und die Ressourcenschonung selbstverständlich sind.

Nun gilt es, die Schweiz – Land der Innovation, des Tourismus und des Know-hows – als Landschaft mit Infrastrukturen, die Freizeitbeschäftigungen und Wohlbefinden fördern, genauer unter die Lupe zu nehmen. Und welch besseres Beispiel gäbe es als den wunderbaren Greyerzersee? Diese Touristenhochburg im Kanton Freiburg verdankt ihr Bestehen dem Bau der Bogenstaumauer Rossens im Jahr 1948. Es handelt sich bei diesem See hinsichtlich des Speichervolumens um das drittgrösste Reservoir der Schweiz, und die reiche Biodiversität lockt dank geführter Touren viele Neugierige an. Zudem strömen viele Besucherinnen und Besucher unter dem Jahr an die Ufer des Sees, um einen idyllischen Spaziergang im Einklang mit der Natur zu geniessen.

Heute ist der Zeitpunkt gekommen, da die Entwicklung erneuerbarer Energien als Chance und nicht als Risiko zu betrachten ist. Aber auch, um alle erneuerbaren Energien vor dem Hintergrund einer saisonalen Komplementarität einzubeziehen. Für den Erfolg gilt es, einen Kompromiss zu meistern. Daher werden beim Bau oder bei der Erneuerung unserer Staudämme grosse Sanierungs- und Renaturierungsanstrengungen unternommen. Die Windenergie ist eine der sinnvollsten Lösungen, um die Versorgungssicherheit im Winter zu gewährleisten. Alle Projekte für Windpärke erfüllen hohe Schutzanforderungen für die umgebende Flora und Fauna. Die Liste der Beispiele ist lang. Dieser Artikel zeigt auf, welche Anstrengungen bei den beiden Windparkprojekten am Gotthard und «Sur Grati» unternommen wurden.

Ein Rotorblatt wird auf den Gotthard transportiert.

Windkraft am Gotthard: Die Arbeit hinter den Kulissen

Viel Wind, Strassenzufahrten, vorhandene Leitungen: Die mythischen Höhen des Gotthards bieten beste Voraussetzungen, damit seit November 2020 fünf stolze Rotoren mit 100 m Nabenhöhe ihre Stromproduktion einspeisen können. Zusammen haben sie dann eine installierte Leistung von 11,75 MW – was einem kleinen Wasserkraftwerk entspricht – und liefern 16 bis 20 GWh Strom. «Wir brauchen nur fünf Standorte von wenigen Quadratmetern und produzieren so viel Strom, wie sämtliche rund 4000 Haushalte in der Leventina und im Bleniotal im Jahr verbrauchen», sagt Roberto Pronini, Direktor der Azienda Elettrica Ticinese. Nicht allen Windkraftprojekten der Schweiz ist solcher Erfolg beschieden – zumal viele davon erbittert bekämpft werden. Der «Parco eolico del San Gottardo» zeigt, wie Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes in die Realisierung der Schweizer Windkraftwerke einfliessen können.

Sanierung, Renaturierung und Prävention

Ein Massnahmenpaket von zehn verschiedenen Arbeiten wurde am Gotthard parallel zum Bau der Windkraftanlagen in die Wege geleitet. Saniert wurden etwa die Materialdeponie «Lac Bench» und der Schiessstand, was auch die Renaturierung des Umlandes nach sich zog. Verschiedene alte Fundamente der früheren Bauten mussten entfernt werden. Rückgebaut und renaturiert wurde zudem der alte Platz beim Werk San Carlo (Tremolastrasse).

Moderne Verteilnetzleitungen werden zunehmend im Boden verlegt – so auch die bisherige 8-kV-Freileitung für die Stromversorgung der Staumauer Lucendro, die nun unterirdisch verläuft. Die Massnahme beugt Vogelunfällen vor – und entlastet auch das Landschaftsbild. Der Gotthard ist zwar kein prioritärer Durchflugsort für Zugvögel und Fledermäuse, trotzdem hat das Projektteam zusätzlich ein Radar und zwei «Bat Recorder» installiert. So lassen sich die Durchflüge verfolgen – und unter gewissen Konditionen kann die Windanlage ausgeschaltet werden, um die Tiere zu schützen.

Auch dem Schutz der Frösche wird Rechnung getragen: Um deren Sicherheit zu gewährleisten, wurde eine Amphibien-Unterführung gebaut, wie sie an anderen gefährdeten Orten wie bei Autobahnen ebenfalls üblich ist.

«Entscheidend ist immer eine sorgfältige, sachliche Abwägung zwischen den Schutzinteressen und der Energiegewinnung», so Pronini. Das Tessin wolle sich in Zukunft möglichst ganz mit erneuerbarem Strom versorgen. «Der Windpark Gotthard ist der konkrete Beitrag zur Energiewende – und ein Musterfall für den Spagat zwischen Schutz und Nutzung.»

So soll der Windpark «Sur Grati» dereinst aussehen.

«Sur Grati»: Lokale Partner für ein regionales Projekt

Das Windparkprojekt «Sur Grati» soll dereinst 75 % des Strombedarfs der von VO Énergies versorgten Gemeinden erzeugen. Einmal genehmigt, wird das Projekt zum Ziel «100 % erneuerbare Energieproduktion» beitragen. Die umliegende Flora und Fauna werde dabei besonders geschont.

Im Dezember 2007 stimmte der Gemeinderat von Vallorbe einem Antrag zu, der vorsah, dass die Gemeinde alles Mögliche unternimmt, um die Nutzung der Windenergie auf dem Gebiet zu fördern. Seitdem hat eine Partnerschaft zwischen den Gemeinden Premier und Vaulion sowie VO Énergies ermöglicht, die Entwicklung eines interkommunalen Allokationsplans und ein Windparkprojekt zu finanzieren. Die Gemeinden engagieren sich somit stark für die Produktion von erneuerbarer Energie.

Das Projekt «Sur Grati» will mit ­seinen sechs Windturbinen von je 3 MW ­ die Jahresproduktion von rund 49 GWh sicherstellen, also den Jahresverbrauch von fast 11'000 Haushalten (bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 4500 kWh eines Vier-Personen-Haushalts). Dieser Windpark soll 75 % des Stromverbrauchs der von VO Énergies versorgten Gemeinden erzeugen. Das Projekt erstreckt sich über das Gebiet dreier Gemeinden und liegt ausserhalb der kantonalen und eidgenössischen Inventare. Laut einer Studie, die zwischen 2008 und 2011 durchgeführt wurde, profitiert Sur Grati von günstigen Windbedingungen.

Umwelt

Da es sich um ein bewaldetes Gebiet handelt, betrifft das vom Projekt geplante Gelände in Wirklichkeit nur einige Hundert m2 Waldfläche. Der grösste Teil der Fläche ist Weideland – und es werden kaum Bäume gefällt. Die Rodung unterliegt einem Kompensationsplan, der auf die ökologische und forstliche Revitalisierung der Waldweiden und die Erhaltung der Landschaft abzielt. Die Massnahmen zur Begrenzung und Verringerung der Auswirkungen auf die Vegetation sind zahlreich; sie betreffen sowohl die Projektgestaltung als auch die Standort- oder Zugangsgebiete. Insbesondere ist geplant, die Topografie des Geländes auszunutzen, um den Aushub oder die Verfüllung zu begrenzen, eine ökologische Landschaftsgestaltung (Murgiers) durchzuführen, Plattformflächen zu begrünen oder die Kiesoberfläche nach der Baustelle bei der Durchführung der Begrünung zu limitieren (Rolling).

Fauna

Die Hauptgruppen, welche das Windprojekt betrifft, sind Vögel (Avifauna) und Fledermäuse (Chiroptera). Andere Arten sind wenig (Schmetterlinge) oder gar nicht (kleine und grosse Landfauna) betroffen. Um die Auswirkungen auf die Avifauna zu bestimmen, führten Spezialisten eine Zählung der am Standort vorhandenen Brutvögel durch und ermittelten die Bedeutung des Zugvogelstroms.

Die Bewertung zeigte, dass die Gesamtauswirkungen auf die brütende und wandernde Avifauna aufgrund des Abstands der Windturbinen und der Positionierung der sechs Maschinen in einer Linie – parallel zur Migrationsachse – gering sind, wodurch Falleneffekte vermieden werden.

Die Studien zeigten auch, dass die Fledermausaktivität auf dem Gelände mittel bis gering ist. Ausserdem ist in der Nähe des Standorts keine grosse Brutkolonie bekannt. Die Auswirkungen auf diese Arten werden daher als akzeptabel empfunden, vorbehältlich von Massnahmen zur Begrenzung der Nutzung sowie einer Auswahl an gros­sen Windturbinen (Naben auf 149 m).

Lärmbelästigung

Besondere Aufmerksamkeit wurde der Lärmbelästigung gewidmet, einer Hauptsorge der Öffentlichkeit. Die Beurteilung der Bedeutung dieser Belästigungen wird auf der Grundlage des Schallleistungspegels der Windkraftanlagen bestimmt. Die berechneten Werte zeigen, dass die gesetzlichen Anforderungen für alle betrachteten exponierten Fassaden (sowohl für die analysierten Wohngebäude als auch für die anderen Betriebsgebäude) erfüllt werden. Die akustische Überwachung der einzelnen exponierten Fassaden wird nach dem Bau des Windparks durchgeführt – und es werden gegebenenfalls Korrekturmassnahmen ergriffen.

Entschädigungskonzept

Die Auswirkungen eines Windparks auf die Fauna und Flora hängen weitgehend von den Standorten ab, an denen das Projekt durchgeführt wird. Die kantonale Windparkplanung hat es ermöglicht, die günstigsten Standorte zu wählen – also jene, die insgesamt die geringsten Schäden an Umwelt und Landschaft verursachen – und gleichzeitig eine ausreichende Windmenge und Windgeschwindigkeit zu gewährleisten.

Die Höhe der Kompensationsleistungen wurde in einer vom Kanton erarbeiteten Richtlinie definiert. Sie zielt darauf ab, die Auswirkungen auf den Wald, die Landschaft und die biologische Vielfalt auszugleichen. Konkret hängt der Umfang der Kompensation davon ab, inwieweit das Projekt die Waldproduktionsfunktion, die Schutzfunktion des Waldes gegen Naturgefahren, die biologische Funktion (Biodiversität) und die Landschaftsfunktion beeinflusst. Jedes Projekt muss ein «Entschädigungskonzept» erstellen. Die Betreibergesellschaft richtet auch einen Fonds für die Durchführung von Kompensationsmassnahmen ein. Diese Massnahmen zielen primär auf die oben erwähnten Ziele ab und zeichnen sich durch eine hohe Bedeutung (im Verhältnis zur Grösse des Projekts) aus. Es muss auf dem Gelände oder in seiner Umgebung kompensiert werden, in Gebieten, die der Aufwertung von Landschaft und Natur dienen. Zudem müssen die Massnahmen eine zumindest nachhaltige, wenn nicht gar dauerhafte Wirkung haben. Überdies sind rechtliche Garantien hinsichtlich der Verfügbarkeit von Land für die Umsetzung der Massnahmen vorzulegen (Vereinbarung, Vertrag, im Grundbuch eingetragene Dienstbarkeit usw.).

Das Projekt «Sur Grati» ist das Ergebnis des lokalen politischen Willens, im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung zur regionalen Energie­autonomie beizutragen. Es wurde mit dem Ziel entwickelt, den Respekt vor der biologischen Vielfalt in den Mittelpunkt unseres Denkens zu stellen – indem eine pragmatische Interessenabwägung zwischen Naturschutz und nachhaltiger Energieversorgung vorgenommen wird.