«Vermutungen sind gut, nachschauen ist besser»

Zehn Länder Europas, darunter auch die Schweiz, sehen den Stromangebotsmarkt als kritisch, sagt VSE-Präsident Michael Wider in seiner Eröffnungsrede am Stromkongress 2019. Lesen Sie hier die vollständige Rede.
17.01.2019

Es gilt das gesprochene Wort.

«Sehr geehrte Damen und Herren

Letztes Jahr habe ich einen Rat von Goethe für die Strombranche übernommen. Der grosse Dichter riet: «Wenn wir bewahren wollen, was wir haben, müssen wir vieles ändern.» Ich werde nicht wieder bei der Belletristik einhaken, aber die Prädispositionen für eine gute Zukunftsgestaltung der Schweizer Stromindustrie werden auch heuer wieder mein Einführungsreferat prägen.

Kurz bevor wir in die Entspannung der Festtage eingetaucht sind, hat mir ein Arbeitskollege ein tiefsinniges, amüsantes Kurzvideo von Vince Ebert geschickt, von dem ich kurz sprechen will. Ebert ist unter anderem Physiker, Autor und Kabarettist in Deutschland – und er spricht gerne über die Ungewissheiten der Zukunft.

Im erwähnten Video erörtert er, wie sich eine wissenschaftliche Methode zur Prüfung von Vermutungen und Einschätzungen einordnen lässt. Und er erklärt das folgendermassen: «Nehmen wir an, ich vermute, im Kühlschrank könne noch Bier sein...ich gucke nach....so betreibe ich im Prinzip schon eine Vorform von Wissenschaft. Das ist ein grosser Unterschied zur Theologie. In der Theologie werden in der Regel Vermutungen nicht überprüft. Wenn ich sage, im Kühlschrank ist Bier, ohne nachzuschauen, bin ich Theologe. Wenn ich nachgucke, bin ich Wissenschaftler. Wenn ich nachgucke, nichts finde und trotzdem behaupte, es ist Bier drin, dann bin ich Esoteriker...».

Ich will nun nicht behaupten, die Energiestrategie 2050 sei bloss eine Vermutung über die Zukunft. Doch wir haben effektiv über vielerlei Annahmen und Szenarien abgestimmt. Die ES2050 ist naturgemäss ein anspruchsvolles, ungewisses und weit in die Zukunft reichendes Projekt. Machbar ist dieses Projekt nur, wenn wir... eben genügend oft in den Kühlschrank schauen und uns versichern, ob etwas drin ist – und wenn ja, was genau, in welchen Mengen und zu welchem Preis.

Im Herbst wurde ich in meiner Funktion als Präsident des VSE nach Berlin eingeladen, um in einem kleinen Kreis von Vertretern 9 weiterer Länder über die europäische Stromlandschaft zu sprechen (D, F, NOR, NL, B, CZ, GB, I, LUX). Ich war beeindruckt. Ergänzend sei gesagt, dass der Teilnehmerkreis in Berlin sehr breit gefächert war: ENTSO-E, Industrie, Eurelectric, Politik, Strombranche und Verbandsvertreter, also nicht nur «Stromer». Alle diese vertretenen Länder haben viele Jahre – teilweise über 20 Jahre – Erfahrung mit einem offenen Stromnachfragemarkt.

Drei Themenbereiche stehen bei diesen Nationen stark im Vordergrund. Es sind dies die Digitalisierung, der Klimawandel sowie der Stromangebotsmarkt, beziehungsweise die damit verbundene Versorgungssicherheit.

Die Digitalisierung ist allgegenwärtig. Der Begriff wird inzwischen auch für Alles und Jedes gebraucht. Zusammenfassen kann man ihn aber mit folgenden Themen, die unser Leben durchdringen und verändern werden: Internet der Dinge, Industrie 4.0, Virtuelle Realität, E-Health, Cloud Computing, Big Data, Autonome Mobilität, Smart City, künstliche Intelligenz sowie das Zusammenbringen verschiedener Energieformen. Sehr schnell sehen wir, dass unsere Stromindustrie die Digitalisierung mitsteuern soll. Unsere Kunden sind betroffen, also auch wir. Konkretes Anwendungsbeispiel digitaler Technologien ist ein Data Hub – also eine Daten-Drehscheibe, wo Verteilnetzbetreiber, Energielieferanten und andere Beteiligte ihre Energiedaten einfach ablegen und austauschen können. Auch sogenannte «virtuelle Kraftwerke» setzen auf die neue Rechenpower. Ich meine damit den Zusammenschluss von dezentralen Stromerzeugungseinheiten, wie zum Beispiel Photovoltaikanlagen, Wasserkraftwerke und Blockheizkraftwerke, zu einem Verbund, der elektrische Leistung verlässlich bereitstellen kann. Die Digitalisierung wird mehr Flexibilität und Variabilität der Produkte bringen.

Sofort stellen sich jedoch Fragen, die sich in vielen jungen Märkten stellen – und diese komplex machen: Welcher Kunde bezahlt für welche Dienstleistung, wieviel, an wen und wie lange? Halten wir – die Strombranche – mit dem rasanten Tempo der Entwicklung mit? Werden wir rechts überholt von branchenfremden Playern? Geschieht das sogar in unseren angestammten Verantwortungsbereichen? Wir werden es sehen. Hier wird der Markt bestimmen. Das war unisono die Meinung in Berlin – und ich denke, auch hier bei uns im Kursaal in Bern. Wir werden am Stromkongress noch mehr dazu erfahren.

Der Klimawandel, das 2. Thema, ist wie die Digitalisierung in aller Munde, aber wohl noch schwieriger anzupacken. Viele Staaten haben Abkommen unterzeichnet – zuletzt in Paris –, deren Einhaltung zu einschneidenden, wirtschaftlich schmerzvollen Massnahmen führen wird. Strom wird noch in vielen Ländern mit fossilen Energieträgern erzeugt. In Deutschland sind es 51%, in Italien 70%, in Grossbritannien 47%. Wollen diese Nationen die gemachten Versprechen halten, werden Eingriffe notwendig, die unter anderem Arbeitsplätze kosten. Und in der 10-Länder-Runde in Berlin wurde mit Einhalten des Pariser Abkommens sehr schnell von 30 GW gesicherter Leistung gesprochen, die bis 2030 vom Netz gehen werden. Die Substitution dieser Energieträger wird viel Geld kosten. Nun hat der CEO eines deutschen Stromriesen, der wohl einen Turnaround geschafft hat, erklärt, dass in Deutschland – wohlwissend um die heikle Situation – niemand auch nur einen Euro in die Hand nehmen würde, ohne die Zusicherung von Subventionsgeldern. Der Markt selbst schafft leider derzeit keine Investitionsanreize.: Das Ersetzen von fossilen Anwendungen durch CO2-freie Produktion ist natürlich der Schlüssel zur Senkung der CO2-Emissionen. Dies führt aber zum Wegfall gesicherter Leistung. Gleichzeitig führt die Dekarbonisierung zur Elektrifizierung – und schon beisst sich die Katze in den Schwanz.

Politisch gesehen sind die Klimaverpflichtungen ganz heisse Pflaster und Spagatübungen, die auch von den besten politischen Kürläuferinnen und Kurläufern nur schwer zu bewerkstelligen sind. In den heiklen Momenten können wir Schweizer uns immerhin unserer besonders guten Ausgangslage bewusst werden: Wir verfügen zu 98% über eine CO2-freie Stromproduktion. Wer hat das in Europa? Wir sind mit Norwegen, Schweden, Finnland und Island ein Unikat. Im Stromangebot sind wir hinsichtlich Klimaschutz also bestens aufgestellt. Bezüglich Stromverbrauch ist die Sache noch weniger eindeutig.

Ich komme zu meinem dritten Thema: Zum Strommarktangebot und der damit verbundenen Versorgungssicherheit. Unkritisch sehen unsere europäischen Nachbarn die Stromnachfrage: Trotz liberalisiertem Markt hat nur ein Viertel der Kunden den Lieferanten gewechselt, viele neue Produkte stehen den Kunden zur Verfügung – und die Digitalisierung wird das Marktgeschehen noch weiter ankurbeln, ob gesetzlich geregelt oder nicht.

Das Stromangebot wird dagegen als kritisch eingeschätzt – und damit die Versorgungssicherheit. Das hat mit dem Energy-Only-Markt zu tun, in dem Kunden nur nach bezogenen Kilowattstunden bezahlen. Im Kurzfristbereich funktioniert dieses Marktmodell, dank wirtschaftlich nachvollziehbaren Mechanismen und Marktbewegungen. Im Mittel- und Langfristbereich vermag der Energy-Only-Markt aber kaum verlässliche Signale zu setzen. Das gilt für Europa ebenso wie für die Schweiz. Auch die dezentrale Stromwelt wird diese Problematik nur abschwächen, nicht aber lösen können. Die gesicherten grossen Strom-Infrastrukturen werden noch Jahrzehnte unentbehrlich sein, während weniger Stunden zwar, aber zu gleichen Fixkosten. Im europäischen Markt müssen Investitionsanreize geschaffen werden.

Apropos Kosten und Preise: Alle Marktteilnehmer – produzierend oder konsumierend – sollen die gleichen Rechte und Pflichten haben. Auch dafür kann heute der Energy-Only-Markt alleine nicht sorgen. Es braucht neue Regeln. Die Bepreisung der Leistung bei der Energielieferung ist zwar grundsätzlich ein guter Ansatz. Die probate Marktlösung für die Stromzukunft ist aber noch nicht gefunden, nicht in Europa und auch nicht in der Schweiz. Ist die physikalische Versorgungssicherheit gefährdet, greifen die Regierungen ein und unterbinden einmal mehr marktorientierte Preisbildungen. In Europa sind aktuell weit über 100 solche Lenkungs- und Steuerungsmechanismen zugelassen. Alle Teilnehmer in Berlin waren einhellig der Meinung: Einen markttauglicheren Weg können wir nur in einer engen internationalen Zusammenarbeit finden.

Natürlich würde ein Stromabkommen mit der EU eine solidere Basis für die internationale Zusammenarbeit schaffen. Zum einen, weil die Schweiz seit 1957 physikalisch in Europa eingebunden ist, und es zunehmend schwierig und teuer wird, die Netzstabilität sicherzustellen. Zum anderen, weil sich jetzt der finanzielle Impact eines fehlenden Abkommens auf den Stromhandel auch deutlich zeigt. Wir sind natürlich jederzeit bereit, das Thema Stromabkommen mit dem Bundesrat – falls gewünscht – zu diskutieren.

Kommen wir damit zurück in die Schweiz. Mein Eindruck ist schon, dass die Probleme bei uns dieselben oder zumindest sehr ähnlich sind wie in Europa, mit Ausnahme der Klimathematik. Doch natürlich beeinflusst uns auch diese Thematik direkt, zumal immer mehr gesicherte Leistung bei unseren Nachbarländern und Importpartnern wegfällt. Die Schweiz ist eben eingebettet im Herzen Europas, sie ist keine Insel.

Erlauben Sie mir abschliessend fünf persönliche Gedanken:

  1. Wir wissen – wie unsere Nachbarn nach 20 Jahren Erfahrung – dass ein frisch liberalisierter Strommarkt nicht alles regelt, was man sich von einem Markt geregelt wünscht. Die Eigenart des Produktes Strom und seine volkswirtschaftlich strategische Dimension erleichtern die Sache nicht. Die Schweiz ist jedoch nicht gut beraten, den teilliberalisierten, hybriden Markt beizubehalten. Er behindert die Transparenz, wirkt als Bremser und nicht als Beschleuniger. Der Endkundenmarkt wird sich mit der neuen, dezentralen Stromwelt und der Digitalisierung sowieso in eine offene Welt bewegen, ob gesetzlich begleitet oder nicht.

  2. Die Versorgungssicherheit der Schweiz ist kurzfristig nicht gefährdet. Auch die nächsten Winter werden wir bewältigen, obwohl die Situation komplexer, unberechenbarer geworden ist – und nicht vergleichbar ist mit der Vergangenheit. Die Swissgrid und deren Koordinationsaufgaben spielen dabei eine zentrale Rolle. Aber auch unsere Nachbarländer sind wichtig für uns und wir für sie, gerade für Italien. Die Verantwortlichkeiten für die Versorgungssicherheit sind in der Schweiz jedoch noch nicht klar genug geregelt. Sind es politische Instanzen, der Regulator, Swissgrid, die Energieversorger (EVU), die Produzenten? Um diese Verantwortlichkeiten zu klären, müssen wir zwischen netzseitiger (einerseits TSO und anderseits EVU) und produktionsseitiger Versorgungssicherheit unterscheiden, wie das auch international getan wird. Diese verschiedenen Verantwortlichkeiten rufen auch nach verschiedenen Mitteln und Massnahmen. Bezüglich Überwachung unserer Versorgungssicherheit können wir auf das BFE, die ElCom und Swissgrid zählen, die alle auf ihre Weise die Versorgungssituation einem regelmässigen Monitoring unterziehen und die Koordination mit den Nachbarn zu stärken versuchen – auch hier zeigt sich, wie wichtig ein Stromabkommen für die Schweiz wäre. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Investitionsanreize müssen in einer adäquaten Form geschaffen werden, solange die Preisbildung auf dem internationalen Referenzmarkt für die Schweiz ist, was sie ist (grenzkostenbasiert mit tiefen CO2-Preisen).

  3. Das BAFU/BFE haben eine Studie zur Effizienz verschiedener Fahrzeuge beauftragt. Ich habe diese Studie gerne gelesen. Sie ist wissenschaftlich und, wo immer möglich, quantifiziert. Eben Zahlen, Daten, Fakten – die auch Unerwartetes zeigen und erlauben, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Wie ich eingangs beschrieben habe: Wir haben alle unsere Meinung über die Zukunft. Oft basierend auf Vermutungen. Der Physiker und Kabarettist Vince Ebert rät uns, ab und zu «den Kühlschrank zu öffnen», um zu prüfen, ob auch da ist, was wir vermuten. Und genau das ist der erste Schritt in Richtung Wissenschaft. Als ich in der Strombranche beruflich begonnen habe, habe ich mir – als Nichtingenieur – eine etwas mehr betriebswirtschaftliche, kommerzielle Betrachtungsweise gewünscht. Heute wünsche ich mir – immer noch als Nichtingenieur – die bewährten Tugenden der exakten Wissenschaften vermehrt zurück. Die Physik, die anderen exakten Wissenschaften und der Kommerz haben sich in der Stromindustrie auseinandergelebt. Sicher nicht zum Vorteil einer guten Zukunftsplanung.

  4. Wir werden es nicht schaffen, in Gesetzen die Zukunft festzulegen. Gesetze sollen Grundsatzfragen reglen. Für die Zukunft müssen wir mit Szenarien arbeiten und über die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen verfügen, die uns erlauben, bei Bedarf energiewirtschaftlich schnell in die eine oder andere Richtung agieren zu können (das Projekt der Hochspannungsleitung Chamoson-Chippis wurde 1972 begonnen – und selbst die oberste richterliche Instanz der Schweiz hat die Kraft nicht, den Bau freizugeben...soviel zum schnellen Agieren in der Schweiz....).

  5. Die Zukunft ist immer ungewiss. Ungewissheit und Änderungen öffnen aber Gestaltungsspielraum. Nutzen wir diesen doch. Ihn zu nutzen, heisst, Dinge zu entscheiden. Und entscheiden heisst Verantwortung übernehmen. Das sollten wir tun – mit dem Ziel einer zeitgerechten und nachhaltigen Stromversorgung vor Augen. Ihnen, geehrte Damen und Herren, wünsche ich weiterhin einen interessanten und aufschlussreichen Stromkongress. DANKE, dass Sie heute bei uns sind – und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Vergessen Sie nicht, von Zeit zu Zeit den Kühlschrank zu öffnen...

Ich möchte die Gelegenheit nutzen und hier vom Stromkongress der neuen Vorsteherin des UVEK, Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga, zu ihrer neuen Aufgabe gratulieren. Da unser Kongress in die ersten 100 Tage ihres neuen Amtes fällt, vertritt heute der BFE-Direktor Benoît Revaz das UVEK. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit mit Frau Bundesrätin Sommaruga und würden uns freuen, sie am Stromkongress 2020 begrüssen zu dürfen. Jetzt aber sind wir gespannt auf die Worte von Benoît Revaz – herzlichen Dank!»