Ein robustes Stromnetz für eine sichere Energiezukunft

22.09.2023
Der Umbau des Energiesystems stellt hohe Anforderungen ans Stromnetz. Damit sich drohende Engpässe im Übertragungsnetz erkennen und beseitigen lassen, erarbeitet Swissgrid derzeit das Strategische Netz 2040. Um das Stromnetz kosteneffizient zu entwickeln und zu betreiben, sind aber alle Akteure gefragt: Es braucht einen Schulterschluss.
Gastautor
Marc Vogel
Leiter Projekt «Strategisches Netz 2040» bei Swissgrid
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Mit dem Ja zum Klima- und Innovationsgesetz hat das Stimmvolk im vergangenen Juni ein klares Ziel definiert: Bis 2050 soll die Schweiz klimaneutral werden. Die dafür nötige Dekarbonisierung bedingt sowohl im Gebäudebereich als auch bei der Mobilität, stärker auf Strom zu setzen. Dazu soll die inländische erneuerbare Stromproduktion massiv ausgebaut werden – besonders zum Beseitigen der Winterstromlücke. Mit dem runden Tisch zur Wasserkraft sowie der Solaroffensive und dem «Windexpress» wurden in den letzten zwei Jahren auf Bundesebene die Weichen gestellt, um diesen Produktionsausbau zu beschleunigen.

Die Energietransition der Schweiz bedeutet daher einen Systemwechsel von einer zentralen Energieproduktion zu einer vermehrt dezentralen mit schwankenden Produktionsmengen. Zusätzliche Lösungen für die kurzfristige und die saisonale Speicherung von Stromüberschüssen sind somit unerlässlich, um ausreichend Strom in der Nacht und im Winter zu haben. Verschiedene Technologien stehen dafür bereit – etwa Wärmespeicher, Batteriespeicher, Pumpspeicherkraftwerke, Vehicle-to-Grid und Power-to-X. Was alle gemeinsam haben: Sie erfordern ein leistungsfähiges Stromnetz, das Erzeuger, Verbraucher und Speicher verbindet. Das Netz ist das Schlüsselelement für eine sichere und nachhaltige Energiezukunft.

Höhere Anforderungen ans Stromnetz

Die schon heute hohen Anforderungen ans Stromnetz werden also noch stark zunehmen – und zwar auf allen Netzebenen. Wenn einerseits immer mehr Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen Strom verbrauchen und andererseits immer mehr Solaranlagen und Windparks Energie produzieren, belasten die damit verbundenen Ströme nicht nur die Verteilnetze. Die Leistungspeaks betreffen auch das Übertragungsnetz und die daran angeschlossenen Produktionsanlagen. Scheint im Sommer überall die Sonne, werden die Speicher künftig gegen Mittag gefüllt beziehungsweise geladen sein. Dann muss die Produktion gedrosselt werden.

Im Winter hingegen, wenn die Sonne seltener scheint, bleiben nur die begrenzten Reserven in den Wasserkraftwerken und thermischen Kraftwerken (Kernkraftwerke, Gaskraftwerke etc.). Dadurch steigt das Risiko von Überlastungen und Engpässen im Schweizer Übertragungsnetz – zumal die Schweiz mangels Stromabkommen mit der EU immer weniger in den europäischen Strommarkt integriert ist und zunehmend von der Mitarbeit in Gremien und von Marktplattformen ausgeschlossen wird. Aus Sicht der Strombranche braucht es daher einen weiteren Anlauf für ein Stromabkommen, weil der volle Marktzugang die Versorgungssicherheit gerade im Winter deutlich verbessern würde.

Langfristige Netzplanung

Um trotz dieser Herausforderungen den sicheren und leistungsfähigen Betrieb des Schweizer Stromsystems zu gewährleisten, müssen bestehende sowie in Zukunft drohende Engpässe im Übertragungsnetz beseitigt werden. Dafür braucht es eine gezielte langfristige Netzplanung.

Deshalb erstellt Swissgrid periodisch einen Mehrjahresplan: das Strategische Netz. Es zeigt auf, wie sich das Übertragungsnetz bis im Zieljahr entwickeln sollte und welche zusätzlichen Netzprojekte nötig sind, um den künftigen Anforderungen zu entsprechen. Dieser Planungsprozess wird derzeit zum dritten Mal durchgeführt: Auf die Strategischen Netze 2015 und 2025 folgt jenes für 2040. Zum ersten Mal basiert der Prozess auf einer gesetzlichen Grundlage, die der Bund im Rahmen seiner Strategie Stromnetze geschaffen hat.

Szenariorahmen als Basis

Szenarien waren für die Erstellung des Strategischen Netzes immer schon eine wichtige Grundlage. Sie sind nötig, um die Lastflüsse in den Stromleitungen im Zieljahr für verschiedene Annahmen zu simulieren und somit Engpässe zu identifizieren. Für das Strategische Netz 2040 wurden die Szenarien erstmals unter der Führung des Bundesamts für Energie erarbeitet und vom Bundesrat verabschiedet.

Der aktuelle Szenariorahmen Schweiz beschreibt verschiedene, mögliche Entwicklungen bei der Energieerzeugung, dem Verbrauch und der Speicherung für die Zieljahre 2030 und 2040. Er basiert auf den energiepolitischen Zielen des Bundes (Energieperspektiven 2050+) und auf gesamtwirtschaftlichen Daten. Für das europäische Ausland erklärt er die Szenarien des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E+G) für verbindlich. Mit dem Szenariorahmen Schweiz erhalten die Stromnetzbetreiber der Netzebenen 1 bis 3 eine einheitliche, verbindliche Grundlage für ihre Netzplanung. An der Erarbeitung beteiligte sich eine Begleitgruppe, der auch Swissgrid angehörte.

Netzentwicklungsprozess

Drei schlüssige Szenarien

Der Szenariorahmen beinhaltet drei Szenarien, die alle auf dem Netto-Null-Ziel bis 2050 basieren. Sie unterscheiden sich unter anderem darin, wie sich die installierte Leistung verschiedener Produktions- und Speichertechnologien sowie der Stromverbrauch für die einzelnen Kundengruppen entwickeln. Jedes Szenario zeigt eine mögliche und in sich schlüssige Zukunftsentwicklung auf.

Das Referenzszenario geht von einer starken Elektrifizierung des Energiesystems und einem raschen Ausbau der inländischen erneuerbaren Stromproduktion aus. Das Szenario «Divergenz» weist den grössten Stromverbrauch und den höchsten Importsaldo aus und geht von einem geringeren Ausbau von Wind- und Solarenergie aus. Das Szenario «Sektorkopplung» nimmt einen besonders starken Ausbau bei Wind und Photovoltaik an und beinhaltet zusätzlich den Ausbau thermischer Kraftwerke.

Ein Szenario ist allerdings keine Prognose. Vielmehr spannt ein Szenariorahmen einen Raum auf, in dem die Fachleute die künftige Entwicklung erwarten. Je mehr Herausforderungen der unterschiedlichen Szenarien das Stromnetz beherrscht, desto robuster ist es für die Zukunft.

Regionale Zielwerte ableiten

Der Szenariorahmen Schweiz beinhaltet nur nationale Zielwerte. Für die Netzplanung werden allerdings regionale Zielwerte benötigt. Dazu stimmt sich Swissgrid im Regionalisierungsprozess mit jenen Playern der Energiebranche ab, deren Anlagen ans Übertragungsnetz angeschlossen sind: mit Verteilnetz- und Kraftwerksbetreibern sowie den SBB.

In diesem Prozess erhält Swissgrid wichtige Kenntnisse zur regionalen Entwicklung von Produktion und Verbrauch innerhalb der Schweiz: etwa zu geplanten neuen Kraftwerken und Speichern, zu Leistungsanpassungen bei bestehenden Kraftwerken, zu neuen Grossverbrauchern (Industrie, Rechenzentren etc.) und zu geplanten Anpassungen der Transformationsleistung in den Umformerwerken der SBB beziehungsweise der Verteilnetzbetreiber. Die an Swissgrid übermittelten Daten verwenden die Verteilnetzbetreiber am Übertragungsnetz auch für ihre eigene Netzplanung. Denn die Netzebenen 1 bis 3 müssen auf Basis der gleichen Annahmen geplant werden.

Vom Startnetz zum Zielnetz

Am Ende der Regionalisierung verfügt Swissgrid über alle nötigen Informationen, um das Strategische Netz 2040 zu bilden. Dieser Netzplanungsprozess erfolgt in drei Schritten:

  • Schritt 1, Bestimmung Startnetz: Das Startnetz basiert auf dem europäischen Netzmodell und beinhaltet alle Netzelemente, die heute in Betrieb sind und bis zum Zieljahr in Betrieb bleiben oder bis dahin noch in Betrieb genommen werden.
  • Schritt 2, Bildung Referenznetz: Mithilfe von Marktsimulationen für ganz Europa werden zuerst der Kraftwerkseinsatz und die grenzüberschreitenden Flüsse für jede Stunde des Zieljahres 2040 ermittelt. Die anschliessend durchgeführten Lastflusssimulationen zeigen Netzengpässe auf. Dann werden bei den Simulationen dem Startnetz so lange neue Netzprojekte hinzugefügt, bis das Netz robust genug ist und in den verschiedenen Szenarien keine relevanten Netzengpässe mehr auftreten. Die Netzprojekte folgen dabei dem NOVA-Prinzip: Netzoptimierung vor Netzverstärkung vor Netzausbau. Das um die erforderlichen Netzprojekte ergänzte Startnetz ergibt das Referenznetz.
  • Schritt 3, Bildung Zielnetz: Anhand einer Kosten-Nutzen-Analyse werden alle zusätzlichen Netzprojekte im Referenznetz bewertet. Dabei berücksichtigt Swissgrid wirtschaftliche, ökologische und technische Kriterien. Nur jene Netzprojekte, bei denen der Nutzen überwiegt, werden Teil des Zielnetzes. Swissgrid prüft beim Zielnetz in Stresstests für verschiedene Szenarien (Mehrfachausfälle, Kurzschlüsse, Frequenz-/Spannungsschwankungen etc.), ob in Zukunft die Netzstabilität noch gewährleistet ist. Sofern die Fachleute Schwachstellen erkennen, wird das Zielnetz verstärkt.

Die Gesamtheit der zusätzlichen Netzprojekte fürs Zielnetz im Vergleich zum Startnetz bildet das Strategische Netz 2040. Dieses übergibt Swissgrid voraussichtlich im April 2024 an die ElCom, die es auf Sachgerechtigkeit und Angemessenheit prüft. Anschliessend wird Swissgrid im Jahr 2025 das Strategische Netz 2040 publizieren.

Netzplanung in drei Schritten.

Flexibilitäten nutzen

Für eine kosteneffiziente Netzentwicklung spielen Flexibilitäten – regelbare Erzeuger, Speicher und Verbraucher – eine wichtige Rolle. Das Ziel muss sein, Kosten für den Ausbau der Netze und den Einsatz von Regelenergie wo immer möglich zu vermeiden. Dies gelingt, indem Stromverbrauch und -produktion stärker miteinander verbunden werden. Ein auf die Produktion angepasstes Verbrauchsverhalten vermeidet Engpässe im Stromnetz und reduziert gleichzeitig die Energiekosten der Konsumierenden.

Allerdings fehlt bisher eine wichtige Grundlage dafür: Transparenz und Anreize. Endverbraucher mit eigener Solaranlage laden ihr Auto und heizen ihr Haus, wenn die Sonne scheint. Das erfolgt vollautomatisch und damit spart man Geld. Waschmaschine, Tumbler und Geschirrspülmaschine werden manuell eingeschaltet, wenn die Sonne scheint und nicht wie früher in der Nacht. Für viele Einfamilienhausbesitzer ist das bereits gelebte Praxis. Doch wie können Bewohner von Mehrfamilienhäusern auch einen aktiven Beitrag leisten? Ein Zusammenschluss zum Eigenverbrauch, kurz ZEV, ist eine Möglichkeit. Hier ist die Branche gefordert, gemeinsam mit den Kunden innovative Lösungen zu finden, damit die Energiewende gelingt und gleichzeitig Spitzen im Netz sowie ein Netzausbau auf Vorrat vermieden werden können.

Schulterschluss nötig

Wenn es um die Weiterentwicklung des Schweizer Stromnetzes geht, braucht es also einen Schulterschluss aller Player im System. Er beginnt bei der Zusammenarbeit sämtlicher Netzbetreiber – unabhängig von der Netzebene. Um Synergien zu nutzen, lohnt es sich für die Netzbetreiber erstens, ihre Netzprojekte zeitlich, räumlich und technisch besser aufeinander abzustimmen. Zweitens lassen sich die Trassen für Stromnetze stärker mit jenen anderer Infrastrukturen bündeln, etwa mit Strasse und Schiene.

Drittens sollte der Schulterschluss der Netzbetreiber auch die engere Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden beinhalten. Deren Aufgabe besteht unter anderem darin, mit den Infrastrukturbetreibern sowie einem gemeinsamen Umwelt- und Raumplaner aktiv nach jenen Trassen zu suchen, die für Umwelt, Bevölkerung und Finanzen am verträglichsten sind. Dadurch werden Netzprojekte gleich zu Beginn am geeignetsten Ort geplant und können der Bevölkerung besser erklärt werden, was Widerstände minimiert und die Genehmigungsverfahren verkürzt.

Bevölkerung einbeziehen

Der Schulterschluss für die gemeinsame Weiterentwicklung des Stromnetzes muss auch die breite Bevölkerung einbeziehen. Denn sie erhält mit der Energietransition eine neue Rolle und hat es in der Hand, den Strom möglichst dann zu verbrauchen, wenn er lokal produziert wird. Das erfordert mehr Transparenz: Die Stromkonsumentinnen und -konsumenten müssen die wichtigsten Zusammenhänge des Energiesystems sowie ihr eigenes Verbrauchsverhalten und die aktuelle Stromverfügbarkeit in Echtzeit kennen. Das Wissen über solche Zusammenhänge in Kombination mit flexiblen Preisen erhöht die Chance für ein netzdienliches Verhalten.

Mit der Dialogoffensive «Unser Netz» will Swissgrid die breite Öffentlichkeit in diesem Sinne sensibilisieren. Der Bevölkerung muss bewusst werden: Das Stromnetz geht alle an, denn alle nutzen das gleiche Stromnetz. Sämtliche Netzbetreiber sind eingeladen, sich an diesem öffentlichen Dialog zu beteiligen.

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