Dynamische Tarife für ein effizientes Stromsystem

19.07.2023
Strom wird dann produziert, wenn er gebraucht wird – mit entsprechenden Kosten. Das wird auch im dezentralen Energiesystem so bleiben. Weil der Strom aber auch von der Produktionsanlage zum Verbraucher gelangen muss, müssen der Ausgleich von Verbrauch und Produktion sowie die Nutzung der Stromnetze optimiert werden. Groupe E hat eine lineare Korrelation von Spotmarktpreisen und Netzlast festgestellt und prüft daher, wie sich dynamische Netztarife auswirken.
Gastautor
Peter Cuony
Leiter Produkte Verteilnetz bei Groupe E
Disclaimer
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Co-Autorin und Co-Autoren

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit folgenden Personen: Federica Bellizio, Wissenschafterin Urbane Energiesysteme an der Empa, Cédric Chanez, Verantwortlicher Tarife Verteilnetz bei Groupe E, Philipp Heer, Stellvertretender Leiter Urbane Energiesysteme an der Empa, sowie Christian Winzer, Dozent am Zentrum für Energie und Umwelt an der ZHAW.

Der Preis, den die Kunden für ihren Strom bezahlen, besteht grösstenteils aus den zwei Bestandteilen Energielieferung und Netznutzungsentgelt. Diese decken die Kosten, die für die Produktion von Elektrizität und für deren Transport über das Stromnetz bis zum Kunden entstehen. Die Kosten werden den Kunden in der Schweiz hauptsächlich in Form von Arbeitstarifen (Rp./kWh) in Rechnung gestellt.

Der zeitlich variable Stromverbrauch wurde in Zentraleuropa bis vor einigen Jahren hauptsächlich mit Bandstrom aus Kern-, Kohle- und Laufwasser-Kraftwerken sowie mit steuerbarer flexibler Stromproduktion aus Gas- und Speicherwasser-Kraftwerken abgedeckt. In der Nacht waren der Stromverbrauch und die Netzauslastung relativ tief. Ein in der Nacht gültiger Niedertarif gab die aus Sicht der Energielieferung und der Netznutzung richtigen Anreize für eine Verschiebung des Stromverbrauchs vom Tag in die Nacht. In Zukunft wird aber ein Grossteil des Stromverbrauchs von einer fluktuierenden Erzeugung aus Wind- und Photovoltaikanlagen abgedeckt werden, und eine pauschale Verschiebung des Verbrauchs vom Tag in die Nacht ist nicht mehr zielführend. So soll zum Beispiel an sonnigen Nachmittagen der Stromverbrauch nicht auf später aufgeschoben werden, sondern für eine effiziente Stromproduktion und ein effizientes Stromnetz möglichst zeitgleich mit der lokalen Produktionsspitze der Photovoltaik erfolgen.

Spotmärkte organisieren kurzfristigen Ausgleich

Der kurzfristige Ausgleich von Produktion und Verbrauch wird in Europa über sehr effiziente und länderübergreifend integrierte Kurzfristmärkte, auch Spotmärkte genannt, organisiert. In Zeiten mit tiefer Nachfrage und hohem Angebot sinkt der Strompreis, was die Nachfrage stimuliert und die Stromproduktion bremst, während sich in Zeiten mit hoher Nachfrage und tiefer Produktion der Preis erhöht, was die Nachfrage bremst und die Produktion stimuliert. Es herrscht ein breiter Konsens in Europa, dass die Spotmärkte auch in Zukunft den kurzfristigen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sicherstellen sollen, dass deren Wichtigkeit mit der Zunahme an fluktuierenden Erzeugungsanlagen weiter zunimmt und dass diese deshalb weiter ausgebaut und europaweit noch besser integriert werden sollen. Die EU hat mit dem Clean Energy Package Bestimmungen eingeführt, die Versorger mit mehr als 200'000 Endkunden verpflichten, einen dynamischen Stromtarif anzubieten. In den skandinavischen Ländern sind Spotpreise bei Endkunden schon weit verbreitet, und in Deutschland sind alle Energielieferanten verpflichtet, ihren Kunden ab 2025 variable und dynamische Energietarife als Wahltarife anzubieten.

Strom muss aber nicht nur in der richtigen Menge produziert und verbraucht, sondern auch über das Stromnetz von der Produktionsanlage zum Verbraucher transportiert werden. Es stellt sich deshalb die Frage, welches im zukünftigen Energiesystem aus Sicht der Stromnetze die richtigen Anreize sind. Die mit der Energiewende zunehmende zeitliche Variabilität der Stromflüsse ist auch für die Stromnetze eine grosse Herausforderung, und deshalb liegt der Schritt hin zu zeitlich variablen Netznutzungsentgelten nahe. In Zeiten mit hoher Netzauslastung sollten die Netznutzungsentgelte hoch und in Zeiten mit tiefer Netzauslastung tief sein. In Deutschland werden Netzbetreiber ab 2025 verpflichtet, zeitlich variable Netznutzungsentgelte anzubieten; deutsche Kunden werden so einen Stromtarif wählen können, der aus einem variablen Energiepreis und einem variablen Netznutzungsentgelt besteht, wobei aber die Variabilität der beiden Tarifkomponenten nach verschiedenen Kriterien bestimmt wird. Ein Doppeltarif mit hohen und niedrigen Preisen zu festen Zeiten ist ein zeitlich variabler Tarif, aber um gute Anreize zu geben, ist es notwendig, dass die Preise und Zeiten freier variieren können. Ein mögliches Beispiel eines solchen dynamischen Tarifes mit einem Energiepreis, der proportional zum Spotmarkt variiert, und einem Netzpreis, der proportional zur Netzbelastung von Groupe E variiert, ist in untenstehender Grafik dargestellt.

Beispiel eines dynamischen Netztarifs (grün), eines dynamischen Energietarifs (rot) und der Summe der zwei Preiskomponenten (schwarz). Der Netztarif wurde für den 21. Januar 2022 berechnet und ist proportional zur Netzlast (Netzbezug aller Kunden auf dem Verteilnetz von Groupe E). Der Energietarif ist proportional zum Schweizer Spotmarktpreis für denselben Tag.

Für ein effizientes Stromsystem müssen die beiden wichtigen Komponenten, der Ausgleich von Verbrauch und Produktion sowie die Nutzung der Stromnetze, optimiert werden. In einem System, in dem die zeitliche Variabilität für beide Bestandteile des Systems eine grosse Herausforderung ist, erlaubt eine zeitlich variable Bepreisung der zwei Bestandteile eine integrierte Optimierung hin zu einem effizienten Gesamtsystem. Es stellt sich aber die Frage, ob zeitlich variierende Anreize für die Energielieferung und für die effiziente Netznutzung in dieselbe Richtung gehen und sich gegenseitig verstärken oder ob sie in entgegengesetzte Richtungen gehen und sich aufheben. Im Rahmen des vom Bundesamt für Energie geförderten Projekts NeDeLa (Netztarife für dezentrale Laststeuerung), Teil des SWEET-Konsortiums PATHFNDR, wurde diese Frage untersucht. Dabei wurde die Korrelation der Netzlast von Groupe E und den Schweizer Spotmarktpreisen in den letzten Jahren analysiert.

Die Jahreskorrelation der Netzlast mit dem Spotmarkpreis für die Jahre 2019 und 2021 wird im untenstehenden Bild dargestellt.

Für die Jahre 2019 und 2021 werden der Schweizer Spotmarktpreis und die Netzlast (Netzbezug aller Kunden auf dem Verteilnetz von Groupe E) für jede Stunde dargestellt.

Es wurden die Jahre 2017–2022 analysiert, wobei die Korrelation im Jahr 2019 ein typisches Bild für alle Jahre vor der Energiekrise zeigt. Im Jahr 2021 ist die Erhöhung der Strompreise ab der Jahresmitte gut ersichtlich und zwei Korrelationstendenzen können für die beiden Jahreshälften gut erkannt werden. Im Jahr 2022 (nicht dargestellt) ist die Jahreskorrelation wegen des sehr volatilen Strompreises kaum mehr zu erkennen.

Kurz- und langfristige Einflussfaktoren

Das Verbrauchsverhalten der Kunden und die Sonneneinstrahlung sind die wichtigsten Einflussfaktoren für die tägliche Variation des Spotpreises und der Netzlast. Es gibt aber auch saisonale und andere längerfristige Einflussfaktoren, welche die in der ersten Grafik gezeigte Jahreskorrelation beeinflussen. Wärmepumpen, Warmwasserboiler, Elektroautos und Batterien sind flexible Verbraucher beim Kunden, die ihren Strombezug im Verlauf des Tages verschieben können. Solche «Tages-Flexibilitäten» reagieren deshalb nur auf die Veränderungen dynamischer Tarife im Verlauf des Tages, nicht aber auf die längerfristigen Veränderungen. Es ist deshalb interessant, die Differenz des Spotpreises respektive der Netzlast zum Tagesmittel zu analysieren. Die folgenden Grafiken zeigen die gleitende 24-Stunden-Korrelation zwischen Schweizer Spotmarktpreisen und der Auslastung des Verteilnetzes von Groupe E für die Jahre 2017–2022.

Gleitende 24-Stunden-Korrelation zwischen den Schweizer Spotmarktpreisen und der Last im Verteilnetz von Groupe E. Die blauen Datenpunkte zeigen die stündliche Abweichung des Marktpreises und der Netzlast von den jeweiligen gleitenden Tagesdurchschnitten. Die rote Linie zeigt die lineare Regression, während die grünen Linien das Intervall plus/minus zweifacher Standardfehler (RSE) (Arkes, J. (2023). Regression Analysis: A Practical Introduction (2nd ed.), Routledge) zeigen. Die grüne Zahl gibt an, welcher Anteil der Datenpunkte innerhalb von plus oder minus des zweifachen Standardfehlers liegen. Die Schweizer Spotmarktpreise und die Last des Verteilnetzes der Groupe E sind also linear korreliert mit einem Konfidenzintervall von 95%.

Die gute lineare Korrelation von Spotmarktpreisen und Netzlast zeigt, dass für das Verteilnetz von Groupe E zeitlich variable, zur Netzlast proportionale Netznutzungsentgelte und Spotmarktpreise gleichgerichtete Anreize ergeben, die sich tendenziell gegenseitig verstärken. Für das Verteilnetz, dessen Kosten nicht durch den Lastverlauf, sondern durch die maximale Last bestimmt wird, ist die Abwesenheit von entgegengesetzten Anreizen wichtig. In keinem der analysierten Jahre gab es eine Situation mit sehr tiefen Spotpreisen und gleichzeitig hoher Netzlast (keine Punkte unten rechts in den Grafiken). Die Einführung von zeitlich variablen Netzentgelten proportional zur Netzlast würde flexiblen Kunden einen Anreiz geben, die Netzhöchstlast von Groupe E und damit längerfristig auch den Netzausbaubedarf zu senken. Wegen der linearen Korrelation von Netzlast und Spotmarkpreisen würden variable Netzentgelte proportional zur Netzlast sowie auch variable Energiepreise proportional zum Spotmarktpreis, auch wenn einzeln eingeführt, jeweils sowohl eine netz- als auch eine marktdienliche Wirkung erzeugen. Bei einer Zusammenführung von variablen Netzentgelten und variablen Energiepriesen würden sich die Anreize gegenseitig weiter verstärken.

Aus der Analyse der Daten der vergangenen Jahre können keine direkten Schlussfolgerungen für die Zukunft getroffen werden. Da sich die Spotpreise und auch die Netzauslastung in den kommenden Jahren stark verändern werden, müssen die Auswirkungen der absehbaren Veränderungen in die Überlegungen einfliessen. Die Strompreise in Zentraleuropa, die auch in der Zukunft für die Preisbildung des Stroms in der Schweiz bestimmend sein dürften, werden weiterhin durch die verbleibenden Kohle- und Gaskraftwerke beeinflusst werden, hauptsächlich jedoch durch die Einspeisung von erneuerbaren Energien wie PV und Wind. Da die Gleichzeitigkeit der Einspeisungen von PV in benachbarten Regionen sehr hoch ist und die PV-Produktion sehr dezentral erfolgt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Korrelation zwischen der Last des Verteilnetzes und den Strommarktpreisen mit zunehmendem Einfluss der PV-Anlagen hoch bleibt. Bei Windkraftwerken hingegen, die hauptsächlich im Ausland gebaut werden, ist ein Trend zu erwarten, der die Korrelation zwischen der Last der Schweizer Verteilnetze und den Spotmarktpreisen verringert.

Tests, Simulationen und Pilotversuche

Im Rahmen des Projekts NeDeLa wurde Ende Mai 2023 ein Workshop zum Thema dynamische Stromtarife durchgeführt. Bei diesem Workshop hat Groupe E die geplante Einführung eines dynamischen Stromnetztarifes proportional zur Netzlast präsentiert und mit Vertretern von anderen Verteilnetzbetreibern und von Anbietern verschiedener Energie-Managementsysteme die Umsetzung solcher Tarife diskutiert. Erste Tests mit dynamischen Netztarifen werden in den kommenden Monaten durchgeführt. In Zusammenarbeit mit der Empa und der ZHAW soll im Laufe der nächsten Jahre sowohl im Rahmen von Simulationen als auch in Pilotversuchen die Wirkung verschiedener dynamischer Tarife getestet werden.

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