Demokratischer Poly-Elchtest: ein Ausblick

30.11.2023
Nach den Wahlen ist vor den Abstimmungen. Das Volk wird in den kommenden Monaten und Jahren gleich mehrere Gelegenheiten haben, sich zum energiepolitischen Weg zu äussern. Ein Ausblick.

Nach hartem Ringen um Kompromisse hat das Parlament Ende September 2023 mit überwältigenden Mehrheiten dem Mantelerlass zugestimmt. Dieser liefert einen entscheidenden Beitrag an eine sichere Stromversorgung in der Schweiz und an die Erreichung der Klimaziele. Allerdings ist davon auszugehen, dass das Volk 2024 das letzte Wort haben wird. Unsere Branche wird sich intensiv dafür einsetzen, dass der mit der Energiestrategie 2050 eingeschlagene Weg mit einem deutlichen Ja bestätigt und die aktuellen Blockaden überwunden werden. Denn der Mantelerlass ist die Bedingung dafür, dass der in den nächsten 5 bis 10 Jahren alternativlose Ausbau der erneuerbaren Energien endlich zum Fliegen kommt.

Im Trockenen ist dieser Ausbau allerdings auch bei einem Ja zum Mantelerlass noch nicht. Es braucht nämlich als weiteres Puzzlestück auch noch die Beschleunigungserlasse für die Bewilligung der Produktion einerseits und der Netze andererseits. Darüber hinaus droht mit der Biodiversitätsinitiative eine neuerliche Blockade. Eine Annahme dieser Initiative durch Volk und Stände würde nämlich eine Vollbremsung für die Energie- und Klimastrategie bedeuten: Die Konflikte für alle Nutzungsinteressen auf fast sämtlichen Flächen in der Schweiz würden verschärft, die von allen Parteien mitgetragene Güterabwägung des Mantelerlasses wäre nur noch Makulatur. Faktisch stünden wir vor einem Scherbenhaufen mit unabsehbaren Folgen für die Stromversorgungssicherheit. Was für eine Ironie, sind doch die Erneuerbaren die conditio sine qua non für den Klimaschutz, welcher seinerseits Voraussetzung für den Schutz der Biodiversität ist…!

Ein weiterer Urnengang bahnt sich in den kommenden Jahren im Kontext der «Blackout stoppen»-Initiative an, welche kurz vor der Einreichung steht. Ziel dieser Initiative ist unter anderem, den Bau von Kernkraftwerken wieder zu ermöglichen. So löblich die Technologieoffenheit für die lange Sicht auch ist: Es könnte die trügerische Wahrnehmung entstehen, dass die kurz- und mittelfristigen Versorgungsprobleme mit der Initiative gelöst werden können und es den Ausbau der erneuerbaren Energien daher nicht braucht. Dies erhöht das Risiko für ein Scheitern des Mantelerlasses an der Urne, obwohl innert 5 bis 10 Jahren selbst mit Konsens beim besten Willen kein neues Kernkraftwerk gebaut werden kann. Daher sollten wir Prioritäten setzen – jede Debatte zu ihrer Zeit!

Schliesslich könnte auch ein Stromabkommen mit der EU Anlass zu einer Volksabstimmung geben. Ziel eines solchen Abkommens wäre in erster Linie eine Senkung der Kosten für die Konsumenten, was gerade im Kontext von erhöhten Strompreisen besonders willkommen wäre. Zudem würde ein solches Abkommen die Netz- und Systemstabilität verbessern, und dadurch einen konkreten Beitrag an die Versorgungssicherheit leisten. Es würde indes auch eine gewisse (und an ihren konkreten Auswirkungen noch zu messende) Annäherung an die aktuelle und künftige Energie- und Klimastrategie der EU mit sich bringen.

Das Volk wird mehrfach die Gelegenheit haben, sich zum energiepolitischen Weg zu äussern. Quasi ein demokratischer Poly-Elchtest inmitten einer Polykrise.

Es wurde nie behauptet, dass die Umsetzung der Energiestrategie ein Sonntagsspaziergang sei und von allem Anfang an war klar, dass auf das erste Massnahmenpaket weitere würden folgen müssen. Der VSE wird sich weiterhin einsetzen für Konsistenz in den Entscheiden und Fokus auf das Machbare, nicht zuletzt um in unsicheren Zeiten nicht noch mehr Unsicherheit zu schaffen. Das Volk wird mehrfach die Gelegenheit haben, sich zum energiepolitischen Weg zu äussern. Quasi ein demokratischer Poly-Elchtest inmitten einer Polykrise.

Bereichsleiter Public Affairs des VSE

Dominique Martin

Unter der Rubrik «Die politische Feder» veröffentlicht Dominique Martin regelmässig Kommentare und Einschätzungen zu energiepolitischen Themen. 

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