CH und EU: Führt durchs Abseits auch ein Weg?

Die Schweiz ist nicht mehr komplett in den europäischen Handel integriert. Was macht das mit unserem Strommarkt, wo schadet es uns – und wie versucht man, der Situation beizukommen? Das Interview mit Davide Orifici, Head of Swiss Office bei der Strombörse EPEX SPOT.
20.02.2020

Herr Orifici, 2019 ist das erste volle Jahr, in dem die Schweiz vom europäischen Intraday-Handel komplett ausgeschlossen war – weil noch kein Stromabkommen mit der EU besteht. Wie hat sich das auf die Strombörse ausgewirkt?
An der EPEX SPOT als Börse für den Schweizer Strommarkt konnten wir vor allem einen Rückgang der Volumen im Intraday-Handel beobachten. Der Schweizer Intraday-Markt hat seine Dynamik verloren, da die Händler nicht mehr die Möglichkeit haben, ihren Strom grenzüberschreitend zu vermarkten. Vor dem Start der neuen paneuropäischen Intraday Lösung XBID war die Schweiz mit ihren Nachbarn Deutschland und Frankreich implizit gekoppelt – d.h. bei der Gebotseingabe war die Grenzkapazität schon Bestandteil des Preises und musste nicht zuvor separat eingekauft werden. Das bedeutete für den kontinuierlichen Intraday-Markt, dass Strom frei über Landesgrenzen hinweg gehandelt wurde. All dies unter der Prämisse, dass genug Kapazitäten an den Grenzkoppelstellen zur Verfügung standen. So hatten Handelsteilnehmer nicht nur viel mehr Möglichkeiten, ihre Portfolios auszugleichen, sondern die Infrastruktur der Interkonnektoren wurde auch optimal genutzt, mit einem positiven Effekt auf das gesamte Stromsystem.

Zum Vergleich: Im Jahr 2017 wurden im Schnitt 173 GWh pro Monat auf dem Schweizer Intraday Markt gehandelt – über 40% davon waren grenzüberschreitend. Von Juli bis Dezember 2018, nach dem XBID-Start, waren es nur noch durchschnittlich 34 GWh pro Monat.

Welchen Ausweg suchen die Schweizer Handelsteilnehmer?
Natürlich haben Händler theoretisch die Möglichkeit, Grenzkapazitäten explizit zu nutzen: Das heisst, sie erwerben die Grenzkapazität separat und im Voraus und nutzen sie dann gezielt für einen grenzüberschreitenden Handel. Praktisch ist dies jedoch nicht von Nutzen, denn der Intraday-Markt zeichnet sich durch seine Kurzfristigkeit und Dynamik aus. Strom wird sogar in 15-Minuten- Tranchen gehandelt und lokal bis zu 5 Minuten vor Lieferung. Auf einem Markt, auf dem fast 20% der Gebote in der letzten Stunde vor Lieferung gesendet werden, bleibt dem Händler kaum Zeit für den kurzfristigen Einkauf der Grenzkapazität

Wie reagiert die Strombörse auf die verzwickte Situation?
Die Börse ist ihren Marktteilnehmern mit einer Erweiterung des Produktportfolios entgegengekommen: Im April 2019 hat die EPEX SPOT neue Intraday Auktionen lanciert, welche mit Italien gekoppelt sind. Diese Auktionen bündeln zwei Mal am Tag die Liquidität und ermöglichen eine grenzüberschreitende Vermarktung des Stroms. Bereits 436 GWh wurden seit dem Start auf diesen Auktionen gehandelt.

Vorher wurde die Infrastruktur der Interkonnektoren optimal genutzt – mit einem positiven Effekt auf das gesamte Stromsystem.

Im Winter ist die Schweiz Netto-Importeurin. Welche Handels- und Preistrends beobachten Sie in Bezug auf die kalte Jahreszeit?
Gerade in den Wintermonaten wurden die grenzüberschreitenden Intraday-Auktionen stark genutzt. Im Blick auf die Preise ist der Schweizer Day-Ahead, ebenso wie in den Nachbarländern, saisonal im Winter höher als im Sommer. Im Schnitt bewegt sich der Swissix in den Wintermonaten über der 50 Euro-Marke pro Megawattstunde, in den Sommermonaten fällt er unter die 40 Euro-Marke.

Haben sich die Strompreise wieder erholt – und wovon werden sie getrieben?
Ja, das Preistief von 2014 bis 2016, als der Swissix selbst im Winter kaum die 50 Euro-Marke überschritt, scheint aktuell überwunden. Die Schweizer Strompreise werden von einer Vielzahl von Faktoren getrieben, dazu gehören sogenannte «Fundamentals» wie Verbrauch, die Verfügbarkeit von Kraftwerken und Erzeugungskosten. Doch auch internationale Aspekte spielen eine Rolle, wie der Öl-, Kohle- und der europäische CO2-Preis. Diese Abhängigkeit lässt sich daran erkennen, dass der Marktpreis in Frankreich und jener in der Schweiz korrelieren.

Welche Vorteile bringt denn die europäische Marktkopplung?
Die implizite Marktkopplung der Day-Ahead und Intraday-Märkte bringt viele Vorteile: Die Interkonnektoren zwischen den Ländern werden optimal genutzt, was auch das Engpassmanagement erleichtert. Bei ausreichender Grenzkapazität konvergieren die Preise zwischen den Marktgebieten – und Preisspitzen werden abgeschwächt. Extreme Wetterbedingungen wie Kältewellen können dank benachbarter Marktgebiete gedämpft werden. Und nicht zuletzt schafft die Marktkopplung weniger Abhängigkeit von der Produktionskraft eines einzelnen Landes – und die Versorgungssicherheit wird erhöht.

Welche Nachteile erwachsen der Schweiz aus der Abseits-Situation?
All die zuvor genannten Vorteile bleiben der Schweiz verwehrt. Der kurzfristige Strommarkt ist ein physischer Markt, weshalb auch geographische Aspekte eine Rolle spielen. Der Ausschluss der Schweiz aus der europäischen Marktkopplung bedeutet, dass die Schweizer Handelsteilnehmer von ihrer optimalen geografischen Lage im Herzen Europas nicht profitieren können.

Durch den Ausschluss der Schweiz aus der Marktkopplung können die Schweizer Handelsteilnehmer nicht von ihrer optimalen geografischen Lage im Herzen Europas profitieren.

Welche Rolle spielt die Schweizer Wasserkraft auf dem Markt?
Wasserkraft spielt eine große Rolle im Schweizer Stromsystem, aber auch in Europa. Die EPEX SPOT als Strombörse ist agnostisch im Hinblick auf die Erzeugungsart der Energie, die an ihr gehandelt wird – und unsere Märkte sind offen für alle Arten von Stromproduktion. Wir verfolgen den gehandelten Strom auch nicht systematisch auf die Erzeugungsart zurück.

Es ist aber natürlich hervorzuheben, dass die flexible Wasserkraftproduktion nicht optimal und implizit auf der Strombörse vermarktet werden kann – und somit auch der Beitrag der Schweiz zur Stabilität des europäischen Stromnetzes verwehrt bleibt. Ein erheblicher Teil des auf dem Schweizer Markt gehandelten Stroms stammt aus Wasserkraft, was sich auch an folgenden Kennzahlen ablesen lässt: Laut dem Bundesamt für Energie stammen 66% des Stroms für Endverbraucher aus Grosswasserkraft – diese Zahl spricht für sich.

Wie beurteilen Sie das Potenzial des CH-Marktes in Europa?
Das Intraday-Segment hat wie bereits erwähnt an Dynamik verloren. Sofern es für die Strombörse einen Raum gibt, bestimmte Handelsprodukte implizit und grenzüberschreitend anzubieten, so lange bleibt auch das Potenzial des Marktes bestehen – und es können Möglichkeiten entwickelt werden, dieses Potenzial auszuschöpfen. Hierbei bleibt die Strombörse ein wichtiger Partner der Handelsteilnehmer.

Beim Day-Ahead-Segment handelt es sich um einen sehr reifen Markt mit hoher Liquidität. Auch wenn die Handelsvolumen durch die Physik der Märkte quasi natürlich gedeckelt sind, haben wir letzten Sommer, im Juli und August, neue Handelsrekorde im Day-Ahead-Markt verzeichnet, als wir uns den 3 Terawattstunden näherten. Das belegt, dass auch auf dem Schweizer Markt noch Raum für Entwicklung da ist.