Alpines PV-Projekt von Axpo. Bild: Axpo

Paradigmenwechsel in der Energiewirtschaft: Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation

11.11.2025 PerspectivE
Die Energiewirtschaft befindet sich in einer Transformation. Der Ausbau erneuerbarer Energien, regulatorische Reformen sowie die angekündigte vollständige Marktliberalisierung erfordern einen Paradigmenwechsel in den Systemen und Prozessen der Versorger: von manuell und isoliert zu digital und vernetzt. Kernbestandteil ist neu das Kundenerlebnis.
Gastautorin
Liliane Ableitner
CEO & Co-founder von exnaton
Disclaimer
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Wir befinden uns in einem strukturellen Wandel und stehen vor einem historischen Wendepunkt, der die Energiezukunft der Schweiz prägen wird. Das Zusammenspiel moderner Technologien, fortschrittlicher Gesetzgebung wie dem Bundesgesetz über erneuerbare Energien und der Öffnung des Marktes beschleunigen den Übergang zu einem grüneren, digitalen und stärker kundenorientierten Energiesystem.

Für Energieversorger eröffnet diese Entwicklung aussergewöhnliche Potenziale, birgt jedoch auch existenzielle Herausforderungen. Unternehmen, die Innovationen vorantreiben, werden die Branche der Zukunft gestalten. Wer hingegen zögert, läuft Gefahr, in einem zunehmend auf Agilität, Kundenorientierung und technologische Kompetenz ausgerichteten Markt an Bedeutung zu verlieren.

Ein perfekter Sturm: Katalysatoren des Wandels

Die Schweizer Energiewende wird durch mehrere Faktoren gleichzeitig vorangetrieben. Die Energiekrise 2022 hat die Anfälligkeit importabhängiger Systeme offengelegt und die Notwendigkeit verstärkter Energiesicherheit unterstrichen. Strategische Wasserkraftreserven, zusätzliche Kapazitäten und eine reduzierte Abhängigkeit von Nachbarländern rücken seither stärker in den Fokus.

Auch die Klimaziele setzen klare Prioritäten. Die angestrebte Klimaneutralität bis 2050 erfordert einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien, allen voran der Solarenergie. Mit dem Ausstieg aus der Kernkraft, saisonalen Einschränkungen der Wasserkraft sowie der Elektrifizierung der Gesellschaft und einer wachsenden Energienachfrage ist die Dringlichkeit grundlegender Reformen offensichtlich.

Parallel dazu ermöglichen technologische Fortschritte eine wirtschaftlich attraktive Modernisierung. Künstliche Intelligenz (KI), Smart Meter und moderne Analysesysteme eröffnen Möglichkeiten im Energiemanagement, die noch vor wenigen Jahren kaum denkbar waren.

Quelle: exnaton
Quelle: exnaton

Technologie als Fundament: Intelligente Infrastruktur als Schlüssel

Die gesetzlich vorgeschriebene Einführung von Smart Metern bis 2027/28 schafft die Datengrundlage für ein neuartiges Energiesystem. Bereits heute zeigt sich in den Kantonen ein heterogenes Bild – mit Abdeckungsgraden von 20 Prozent bis hin zur nahezu vollständigen Ausstattung in führenden Regionen.

Mit der flächendeckenden Einführung und einheitlichen Kommunikationsstandards entsteht erstmals eine konsolidierte Infrastruktur auf nationaler Ebene. Das wahre Potenzial entfaltet sich, wenn Energiemanagementsysteme mit KI-Lösungen verknüpft werden, die detaillierte Verbrauchsdaten in Echtzeit verarbeiten.

Die Auswirkungen sind weitreichend: Überschüssige Solarenergie in den Mittagsstunden kann durch KI-gesteuerte Preisanpassungen effizient genutzt werden – etwa zum Laden von Elektrofahrzeugen, zur Steuerung von Haushaltsgeräten oder für die Zwischenspeicherung in Batteriesystemen. Diese intelligente Steuerung wird unverzichtbar, da die installierte Solarkapazität der Schweiz bis 2025 voraussichtlich die Marke von 8 Gigawatt übersteigen wird – getragen von kontinuierlichen Investitionen, neuer Gesetzgebung und ambitionierten politischen Zielen.

Durch unsere Arbeit konnten wir beobachten, wie die Integration von KI hochentwickelte Prognosen ermöglicht – unter Berücksichtigung von Wetterdaten, historischen Verbrauchsmustern und Echtzeit-Netzbedingungen. So lässt sich die Energieverfügbarkeit präzise vorhersagen – ein entscheidender Faktor für die Versorgungssicherheit, insbesondere in den Wintermonaten, wenn die Wasserkraftreserven zurückgehen.

Quelle: Unsplash, Bill Mead
Quelle: Unsplash, Bill Mead

Regulatorische Revolution: Neue Gesetze schaffen Wettbewerb und Energiegemeinschaften

Das regulatorische Umfeld der Schweiz entwickelt sich rasant. Mit dem Bundesgesetz über erneuerbare Energien, das im Juni 2024 von 68,7% der Stimmberechtigten angenommen wurde, entsteht ab 2026 die rechtliche Grundlage für lokale Energiegemeinschaften (LEGs).

Dieses Gesetz verändert die Rahmenbedingungen grundlegend, indem es Unternehmen, Gemeinden und Haushalten erlaubt, innerhalb gemeinsam genutzter Verteilnetze Strom gemeinschaftlich zu erzeugen und zu verbrauchen. Die Gesetzgebung ermöglicht verschiedene Modelle der Energiegemeinschaft: klassische kollektive Eigenversorgung innerhalb eines Gebäudes, virtuelle Modelle über mehrere Gebäude hinweg sowie die neuartigen LEG-Modelle, die sich über ganze Gemeinden erstrecken können. Wirtschaftliche Anreize bestehen unter anderem in einer Reduktion des Netznutzungsentgelts von 20 bis 40%.

Die angekündigte vollständige Marktliberalisierung beendet zudem das bisherige System, in dem 99% der Verbraucher ihren Anbieter nicht frei wählen können. Erfahrungen aus Nachbarländern zeigen, dass die Liberalisierung den Kundinnen und Kunden neue Wahlmöglichkeiten eröffnet – sei es nach Preis, Servicequalität oder Herkunft des Stroms, inklusive zu 100% erneuerbarer Optionen. Zugleich stärkt sie die Integration in den europäischen Energiemarkt und optimiert die Nutzung der 41 Schweizer Grenzleitungen.

Mit der Marktliberalisierung werden dynamische Tarife zum Standard. Preise reagieren künftig in Echtzeit auf Angebot und Nachfrage. Damit entsteht das Fundament für erneuerbare Energiesysteme mit intelligenter Netzsteuerung, während Verbraucher gleichzeitig ihre Kosten optimieren können.

Innovationsdruck: Kundenbedürfnisse treiben digitale Transformation

Die Erwartungen der Energieverbraucher passen sich den neuen Rahmenbedingungen rasch an und erhöhen den Innovationsdruck auf die Versorger. Bisher prüften Kundinnen und Kunden ihre Stromkosten meist nur einmal im Jahr beim Erhalt der Rechnung. Heute erwarten sie weit mehr: Transparenz über Energiequellen, Zugriff auf Echtzeit-Verbrauchsdaten und proaktive Informationen zur Nutzung. Viele sind selbst zu «Prosumern» oder «Flexumern» geworden – mit eigenen Solaranlagen, Batteriespeichern oder Elektroautos. Für Versorger, die bislang kaum mit Nutzererlebnissen konfrontiert waren, stellt das eine enorme Herausforderung dar.

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, sind fortschrittliche Datenanalysen, intuitive Benutzeroberflächen und eine nahtlose Integration von Energiemanagement- und Kundensystemen notwendig. Die technische Komplexität ist hoch, doch im liberalisierten Markt wird sie zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

Da neue Marktteilnehmer und Serviceangebote hinzukommen, hängt Differenzierung zunehmend von digitalen Fähigkeiten und der Qualität des Kundenerlebnisses ab. Versorger müssen sich vom reinen Energieanbieter zum ganzheitlichen Servicepartner entwickeln – mit Angeboten für Verbrauchsoptimierung, Smart-Home-Integration und Community-Management. Anbieter mit «One-Stop-Shop»-Modellen werden langfristig dominieren.

Das regulatorische Umfeld verstärkt diesen Wandel. LEG-Compliance, Smart-Meter-Integration und dynamische Tarife erfordern technologische Reife, die viele bestehende Systeme derzeit nicht leisten können.

Quelle: exnaton
Quelle: exnaton

Das kritische Nadelöhr: Altsysteme stossen an ihre Grenzen

Trotz des offensichtlichen Innovationsbedarfs stehen viele Schweizer Versorger vor einem fundamentalen Problem: ihre veraltete Abrechnungs- und Kundeninfrastruktur.

Diese Systeme wurden für ein Paradigma entwickelt, das auf jährlichen Ablesungen, manuellen Prozessen und fixen Tarifen beruhte. Mit den Anforderungen an Smart-Meter-Daten, dynamische Preisgestaltung, Energiegemeinschaften und Echtzeit-Interaktionen sind sie schlicht überfordert. Die Herausforderung betrifft nicht nur Technik, sondern erfordert eine umfassende Neugestaltung der Geschäftsprozesse.

Traditionelle Abrechnungsmodelle gehen von klaren Zählerständen und Standardtarifen aus und basieren auf manuellen Prozessen: Ablesung per Hand, Datenerfassung, Papierabrechnungen und voneinander isolierte Systeme. Diese Ineffizienzen verursachen Fehler, verzögern Reaktionen und verhindern die Echtzeit-Kommunikation, die modernes Energiemanagement erfordert.

Moderne Services benötigen kontinuierliche Datenverarbeitung, ausgefeilte Algorithmen zur Verbrauchszuordnung und komplexe Tarifstrukturen, die zwischen gemeinschaftlich erzeugtem und netzseitigem Strom unterscheiden sowie Marktpreise integrieren können – und das bei vollständiger Transparenz für die Kundinnen und Kunden.

Die Folgen einer mangelhaften oder verspäteten Modernisierung der Systeme und Prozesse für das Kundenerlebnis sind gravierend – und gefährlich im Wettbewerb. Verbraucher erwarten heute mobile Apps mit Echtzeit-Verbrauchsdaten, Webportale für aktives Energiemanagement und transparente Abrechnungssysteme für komplexe Tarife. Anbieter mit fragmentierter IT-Infrastruktur können diese Anforderungen nicht erfüllen und laufen Gefahr, im liberalisierten Markt ins Hintertreffen zu geraten.

Der Weg zur Modernisierung: Strategische Lösungen

Unsere Arbeit mit Versorgern in der Schweiz, in Österreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern zeigt, welche Elemente für eine erfolgreiche Modernisierung entscheidend sind – sowohl zur kurzfristigen Compliance als auch für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit.

Zentral ist eine integrierte Plattformarchitektur: End-to-End-Systeme, die Zählung, Tarifierung, Abrechnung und Kundeninteraktion über einheitliche Schnittstellen abbilden und gleichzeitig ERP-Systeme einbinden. So lassen sich Störungen minimieren und Fähigkeiten gezielt ausbauen.
Ebenso entscheidend sind dynamische Preismodelle. Preis-Engines in Echtzeit müssen Verbrauchsallokationen innerhalb von Gemeinschaften optimieren, auf Marktfluktuationen reagieren und zugleich Transparenz sowie regulatorische Vorgaben sicherstellen.

Die Kundenerfahrung darf nicht als Zusatz gesehen werden, sondern ist Kernbestandteil des Angebots. Benutzerfreundliche Portale und mobile Anwendungen müssen umfassende Transparenz über den Verbrauch, die Teilnahme an LEGs und Self-Service-Funktionen bieten – und dabei mit den besten digitalen Kundenerlebnissen mithalten.

Skalierbare Implementierung ermöglicht eine schrittweise Modernisierung bei gleichzeitiger Betriebskontinuität. So können Versorger sowohl die regulatorisch notwendigen Funktionen erfüllen als auch differenzierende Mehrwertdienste entwickeln, die Umsatz und Marktanteile sichern.

Ein Aufruf zum Handeln: Die Energiezukunft der Schweiz gestalten

An diesem historischen Wendepunkt wird Erfolg nur denjenigen gehören, die ihre Abrechnungssysteme, Kundeninteraktionen und operativen Fähigkeiten umfassend modernisieren und auf das neue Energiesystem abstimmen.

Die Transformation hat längst begonnen. Marktführer investieren bereits in modernste Technologien, entwickeln neue Kundenerlebnisse und schaffen die Grundlagen für das künftige Wettbewerbsumfeld. Die Frage ist nicht, ob der Wandel kommt – sondern ob Ihr Unternehmen ihn aktiv mitgestaltet oder passiv darauf reagiert.

Die Schweiz hat die Chance, schnell und effizient den Sprung in ein modernes Energiezeitalter zu schaffen. Mit einer klaren Strategie, starken Technologiepartnerschaften und Innovationsbereitschaft kann der Sektor die Nachhaltigkeit, Resilienz und Kundenerlebnisse liefern, die der Markt künftig fordert.

Die Energiewende ist Realität. Marktführerschaft wird denjenigen gehören, die diese Chance mit Weitblick, Entschlossenheit und konsequenter Umsetzung ergreifen. Die Zukunft der Schweizer Energie wird von jenen geschrieben, die bereit sind, sie heute zu gestalten.

Women in Power
Dieser Artikel erscheint in Zusammenarbeit mit Women in Power.

Das Netzwerk «Women in Power» setzt sich für die Sichtbarkeit und Förderung von Frauen im Energiesektor ein. Ziel ist es, Diversität und Gleichstellung in der Branche voranzutreiben. Gemeinsam gestalten wir eine zukunftsfähige, inklusive Energiewelt.

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