Stauseen – als Hochwasserschutz unverzichtbar

16.08.2024 PerspectivE
Die jüngsten schweren Überschwemmungen im Wallis, entlang der Rhone und ihrer Nebenflüsse, haben die Debatte über Massnahmen zur Verbesserung des Hochwasserschutzes neu entfacht. Bei deren Planung spielen die Stauseen der grossen Wasserkraftanlagen bereits eine wichtige Rolle, die noch an Bedeutung gewinnen wird.
Gastautor
Jonathan Fauriel
Head Civil Engineering and Environment bei Alpiq
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Die Schweizer Stauseen wurden ursprünglich hauptsächlich für eine einzige Funktion errichtet: die Energieerzeugung. Doch diese grossen Wasserkraftanlagen können weit mehr bewirken: Sie sind auch ein hervorragender Hochwasserschutz. Künftig werden sie vermehrt in den Fokus rücken, um die immer häufiger eintretenden extremen Wetterereignisse aus sicherheitstechnischer Sicht zu bewältigen.

Hochwasser im Juni 2024: grössere Schäden durch Stauseen abgewendet

Als die Rhone und ihre Seitengewässer im vergangenen Juni über die Ufer traten, erreichte der Abfluss in Sitten einen Spitzenwert von 921 m3/s und lag damit leicht über dem Höchstwert des historischen Hochwassers im Oktober 2000. Wir müssen damit rechnen, dass solche Hochwasserintensitäten zur Gewohnheit werden. Trotz grosser Schäden in der Region Siders und Chippis haben die Wasserkraftanlagen weitaus umfangreichere Schäden an der Rhone und in den Seitentälern verhindert. Im Mattertal konnten dank der Pumpstationen Z’Mutt (1972 m ü. M.) und Stafel (2180 m ü. M.) sowie der Wasserfassungen im Tal bis zu 55 m3 Wasser pro Sekunde in den Lac des Dix des Anlagesystems Grande Dixence umgeleitet werden. Ohne diese Anlagen wäre der Abfluss der Hochwasserspitze in der Gemeinde Zermatt um schätzungsweise 40 bis 60 Prozent höher ausgefallen.

Die am Ende des Mattertals gelegene Pumpstation Z’Mutt (1972 m ü. M.) ist die leistungsstärkste Anlage der Grande Dixence. © Grande Dixence SA – Foto: essencedesign.com – dpicard.ch

Hochwasserschutzfunktion bereits erwiesen

Die Wirkung von Stauseen beim Schutz vor Hochwasserereignissen wurde nach dem Hochwasser von 2000 bereits in einer Studie nachgewiesen (BWG-Bericht 2002, Hochwasser 2000). Im gesamten Einzugsgebiet der Rhone, an der Station Porte du Scex, führte die Speicherwirkung der Stauseen zu einem deutlichen Rückgang der Abflüsse, mit einer Schutzwirkung von 314 m3/s bei den Hochwassern im August 1987, 262 m3/s im September 1993 und 230 m3/s im Oktober 2000. Im Juni 2024 wurde diese Wirkung auf rund 300 m3/s geschätzt und befand sich damit in einer ähnlichen Grössenordnung wie bei früheren Ereignissen.

Die Stauseen tragen folglich dazu bei, dass die Hochwasserabflüsse im Einzugsgebiet der Rhone um etwa 20 Prozent zurückgehen. Das ist in Bezug auf die Wiederkehrzeit oder die Wahrscheinlichkeit von Hochwassern äusserst wichtig: Durch die Wirkung der Stauseen werden die Abflussraten eines Hochwassers ohne diesen Effekt erst bei selteneren Hochwassern erreicht. Konkret wird ein Hochwasser mit einer Wiederkehrzeit von 300 Jahren durch die Wirkung der Stauseen auf das Niveau eines 50-jährigen Hochwassers ohne diese Wirkung herabgestuft.

Beim Rhonehochwasser im Jahr 2000 hatte die Möglichkeit, das Wasser in den Lac des Dix umzuleiten, dazu beigetragen, den Abfluss in der Vispa erheblich zu senken. Die Stauseen der Wasserkraftanlagen Mauvoisin und Emosson spielten dank ihrer grossen verfügbaren Speicherkapazität eine entscheidende Rolle bei der Verringerung des Abflusses in der Dranse bei Martigny. Denn auf dem Höhepunkt des Hochwassers näherte sich der Abfluss der Kapazitätsgrenze des Gewässers. Ohne den Beitrag dieser beiden Stauseen wäre die Stadt Martigny zweifellos überflutet worden.

Dank der Speicherung im Mattmark-Stausee sowie der Umleitung von Wasser aus dem Mattertal in den Lac des Dix war der Pegelstand der Rhone zwischen Visp und Sitten ausserdem um etwa 30 cm gesunken und kam es entlang dieser Strecke nicht zu grösseren Überschwemmungen. Ohne die Wirkung der Stauseen hätten die natürlichen Spitzenabflüsse an vielen Stellen die Kapazitätsgrenzen des Flussbetts der Rhone überschritten.

Diese Analysen zeigen uns, dass die Speicherseen der Wasserkraftwerke während der Hochwasser umfangreiche und wertvolle Speichermöglichkeiten boten. Sie sind in der Lage, die Wassermenge in den nachgelagerten Fliessgewässern zu verringern. Durch die Wasserentnahme und mit Pumpen können grosse Wasservolumen in ein Reservoir in einem benachbarten Tal umgeleitet werden.

Die Wirkung der Stauseen lässt sich in der obigen Grafik erkennen, die einen deutlichen Rückgang der Hochwasserabflüsse der Dranse seit der Inbetriebnahme der Wasserkraftanlagen Ende der 1950er-Jahre zeigt. (Daten: BAFU)

MINERVE: ein Prognoseinstrument

Nach dem Hochwasser im Jahr 2000 wurde klar, dass es ein Instrument braucht, das in Echtzeit einen Überblick über Abflüsse, Regen, Schnee, Temperaturen oder den Füllstand der Speicherseen bietet, um präventive Entscheidungen zu erleichtern. Der Kanton Wallis hat daher das CREALP (Centre de recherche sur l’environnement alpin) mit der Entwicklung und Umsetzung eines solchen Hochwasservorhersage- und -managementsystems beauftragt: das 2013 eingeführte System MINERVE (Modélisation des intempéries de nature extrême du Rhône valaisan et de leurs effets). MINERVE erstellt auf der Grundlage von Wettervorhersagen mithilfe seiner Modellierungsfunktion hydrologische Prognosen. Es dient ausserdem dazu, Szenarien für präventive Turbinierungen oder Entleerungen zu simulieren, um die dämpfende Wirkung der Stauseen zu optimieren.

Handeln im Hinblick auf die klimatischen Erfordernisse

Trotz der Infrastrukturen und Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, konnten die Überschwemmungen im Juni 2024 nicht verhindert werden. Die bestehenden Stauseen haben jedoch die Abflüsse in der Ebene und damit die Risiken begrenzt, auch wenn ihr derzeitiges Management nicht für diese Sicherheitsfunktion optimiert ist. Viele Staudämme wurden in den 1950er- und 1970er-Jahren geplant und gebaut, bevor die Bekämpfung des Klimawandels prioritär wurde. Diese Bauwerke müssen heute auf weit mehr als nur auf die Energieerzeugung ausgelegt werden. Angesichts der prognostizierten Auswirkungen der Klimaerwärmung können wir uns nicht länger auf dem Erschaffenen ausruhen. Vielmehr müssen wir unsere Infrastruktur und deren Betrieb anpassen und den Bau neuer Infrastrukturen ins Auge fassen.

Die Folgen der Klimaerwärmung äussern sich nicht nur in intensiveren Hochwassern, sondern auch im Abschmelzen und im Schwund von Gletschern, in der Intensität und der Variabilität von Niederschlägen sowie im Anstieg der Schneefallgrenze. Dies führt zu einer allmählichen Veränderung des nivo-glazialen Regimes der Rhône hin zu einem zunehmend pluvio-nivalen Regime. Auch die Trockenperioden im Sommer werden immer ausgeprägter.

Die zukünftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit den diversen Wassernutzungen und Infrastrukturen sind daher vielfältig. Zwar wurden die Anlagen seit ihrem Bau schon im Hinblick auf verschiedene Nutzungen weiterentwickelt, doch die Multifunktionalität wird unsere Wasserkraftanlagen in Zukunft noch stärker prägen, um den sich ändernden Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Insbesondere die Versorgung mit Trinkwasser und Wasser für die Bewässerung sowie ein proaktives Management von Hochwasserschutzmassnahmen sind Nutzungen, deren Bedeutung sicherlich zunehmen wird.

Das Beispiel des Mehrzweckspeichers Gornerli

Das Projekt des Mehrzweckspeichers Gornerli ist ein hervorragendes Beispiel für diese Multifunktionalität. Die am Fusse des Gornergletschers oberhalb von Zermatt gelegene Staumauer wird natürliche Zuflüsse wie Schmelzwasser zurückhalten und allein einen Drittel des im Winter zusätzlich benötigten Stroms liefern, nämlich 650 GWh. Von den 15 Projekten des Bundes am Runden Tisch Wasserkraft weist der Mehrzweckspeicher Gornerli mit Abstand das grösste Potenzial für die Energieerzeugung auf. Das Projekt Gornerli, umgesetzt von der Grande Dixence SA, deren Hauptaktionär Alpiq ist, sowie von der Gemeinde Zermatt, würde allein einen Drittel des im Winter zusätzlich benötigten Stroms liefern. Seine Produktionskapazität wird den jährlichen Stromverbrauch von etwa 140 000 Haushalten abdecken. Es muss kein neues Kraftwerk gebaut werden, weil der Mehrzweckspeicher vollständig in das bestehende Anlagesystem der Grande Dixence integriert wird.

In der Schweiz werden fast 60 Prozent des einheimischen Stroms mithilfe von Wasserkraftanlagen erzeugt. Es gibt gemäss den Zahlen des Bundesamts für Energie 705 solcher Anlagen mit einer Leistung von 300 kW oder mehr, die über das ganze Land verteilt sind. Diese Quote wird steigen, da der Bund in seiner Energiestrategie 2050 eine Erhöhung des Anteils von Strom aus Wasserkraft – und ganz allgemein aus erneuerbaren Energien – vorsieht. Diese Strategie kann dank des neuen Stromgesetzes umgesetzt werden, das die Stimmbevölkerung am 9. Juni mit 69 Prozent angenommen hat.

Neben einem beträchtlichen Stromerzeugungspotenzial wird der Mehrzweckspeicher Gornerli den Gemeinden Zermatt, Täsch und Randa auch als Trinkwasser- und Bewässerungsreserve dienen und eine massgebliche Rolle beim Management hydrologischer Risiken im Mattertal und damit auch in der Rhoneebene spielen. Zermatt ist eine stark urbanisierte Gemeinde, mit Wohnhäusern, die sehr nah am Fluss liegen und dadurch gefährdet sind. Hochwasserspitzen bei Gewittern und Starkniederschlägen, Schneeschmelze oder das plötzliche und unkontrollierte Auslaufen eines unterirdischen Gletschersees stellen ein grosses Risiko für den Ort dar. Der Bau eines Reservoirs am Oberlauf würde das Risiko für Überschwemmungen beträchtlich verringern und ist Teil des Hochwasserschutzkonzepts für das Tal. Bei Extremereignissen, wie sie in jüngster Zeit aufgetreten sind, kann sichergestellt werden, dass das Wasser der Gornera vollständig im Stausee zurückgehalten wird.

Fotomontage des Mehrzweckspeichers Gornerli © Grande Dixence SA

Konkret kann man sagen, dass die Gornerli-Staumauer bei den Überschwemmungen im Juni dieses Jahres verhindert hätte, dass die Vispa über die Ufer tritt. Der Speicher hätte zusätzlich zu dem in den Lac des Dix umgeleiteten Wasservolumen weitere 50 bis 60 m3/s Wasser zurückgehalten. Die Vispa hätte also weder in Zermatt noch flussabwärts Schäden verursacht und die Verwüstungen durch das Rhonehochwasser wären geringer ausgefallen.

Derzeit wird das Speichervolumen, das spezifisch dem Hochwasserschutz gewidmet sein wird, auf etwa 15 Millionen m3 Wasser geschätzt. Dieses Volumen wird auf der Grundlage zukünftiger Hochwasserszenarien ermittelt. Damit die hohen Abflüsse mehrere Tage lang zurückgehalten werden können, kann das Speichervolumen an zukünftige Klimaentwicklungen angepasst werden.

Ein solches Bauwerk wird nicht nur einen Grossteil des zusätzlich benötigten und im neuen Stromgesetz geplanten Winterstroms liefern, sondern es auch erlauben, die vielfältigen künftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ressource Wasser zu bewältigen. Die technischen und administrativen Verfahren, die 2019 angelaufen sind, brauchen Zeit. Die Machbarkeitsstudien (2021) und die Vorstudien (2023) sowie die ersten Umweltanalysen (2021 und 2023) sind abgeschlossen. Im Hinblick auf einen gemeinsamen pragmatischen Ansatz der verschiedenen Beteiligten könnte der Mehrzweckspeicher Gornerli frühestens 2031 in Betrieb genommen werden.

Weiterführende Informationen

Projekt 3. Rhonekorretion (R3): https://www.vs.ch/de/web/rhone

Analyse des Projekts R3: Analysebericht R3 (vs.ch)

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