Warum Nachhaltigkeit bei Energieversorgungsunternehmen keine Option, sondern Pflicht ist
Schweizer Energieversorgungsunternehmen (EVU) stehen als Grundversorger im Zentrum öffentlicher Debatten über Versorgungssicherheit, Klimaschutz und die gesellschaftliche Akzeptanz neuer Infrastrukturen zur Energiegewinnung. Ihre Verantwortung geht weit über die verlässliche Stromversorgung hinaus: Als zentrale Akteure der nationalen Dekarbonisierungsagenda tragen sie wesentlich zur Erreichung der Netto-Null-Ziele bis 2050 bei.
Nachhaltigkeit ist dabei nicht nur ein strategisches Ziel, sondern der Treiber der Branchentransformation – bei gleichzeitig deutlich steigendem Strombedarf von rund 50 Prozent bis 2050. Durch die gezielte Steuerung der CO₂-Intensität im Strommix schaffen EVU die Voraussetzungen für eine klimaneutrale Energieversorgung. Die Unternehmen sehen sich dabei mit vielschichtigen Herausforderungen konfrontiert: begrenzte Akzeptanz für erneuerbare Energien, langwierige Bewilligungsverfahren, anspruchsvolle Finanzierungsbedingungen für die Weiterentwicklung der Stromnetze. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Qualität und Aussagekraft der ESG-Berichterstattung. Ein robustes Datenmanagement mit klaren Rollen und Kontrollen wird damit zur Schlüsselkomponente für Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit.
Was Anspruchsgruppen wirklich von Nachhaltigkeitsberichten erwarten
EVU erbringen wichtige und unverzichtbare Dienstleistungen für die Gesellschaft. Diese sind für die Entwicklung, Versorgung und Sicherheit der Volkswirtschaft entscheidend. Entsprechend vielfältig sind die Faktoren, die für die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit von grundlegender Bedeutung sind.
In der Schweiz sind aktuell gemäss Art. 964a-c OR lediglich grosse Publikumsgesellschaften sowie FINMA-beaufsichtigte Unternehmen gesetzlich verpflichtet, einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen. Viele EVU publizieren jedoch freiwillig einen Nachhaltigkeitsbericht, um den Informationsansprüchen und Erwartungen ihrer Anspruchsgruppen gerecht zu werden. Erwartet wird dabei Transparenz über den regulatorischen und marktwirtschaftlichen Kontext: Marktstruktur, Tarifsysteme, Konzessions- und Bewilligungsverfahren sowie sich verändernde Rahmenbedingungen müssen verständlich erklärt werden. Ebenso wichtig ist, dass Berichte Wirkungen über CO₂ hinaus adressieren – etwa Biodiversität, Gewässerökologie, Lärm und Landschaftsbild, Akzeptanz von Projekten sowie soziale Aspekte.
Eine zentrale Hürde bleibt die fehlende Standardisierung. Sinnvoll wäre eine klare Ausrichtung an anerkannten Rahmenwerken. In der Schweiz besteht bislang jedoch keine Pflicht zur Anwendung eines spezifischen Berichtsstandards, weshalb sich viele Unternehmen lose an verschiedenen Rahmenwerken orientieren. Wer seine Berichterstattung konsequent an anerkannten Standards ausrichtet und die doppelte Wesentlichkeit sauber herleitet, setzt klare Prioritäten und macht Fortschritte messbar. Aktuell orientieren sich viele Schweizer EVU an den Standards der Global Reporting Initiative (GRI) oder – im Bereich der Klimaberichterstattung – an den Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD). Für EU-exponierte Unternehmen kommen zusätzlich die EU-Regularien der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) ins Spiel, welche eine Berichterstattung nach den European Sustainability Reporting Standards (ESRS) fordern. Diese Vielzahl an Standards und Rahmenwerken erschwert jedoch die Vergleichbarkeit und erhöht die Komplexität.
Glaubwürdigkeit über die Offenlegung entsteht erst durch Prüfbarkeit: definierte Rollen, ein internes Kontrollsystem für ESG-Daten, belastbare Datenflüsse und eine transparente Prüfspur – kurz: assurance readiness. Externe Prüfung fungiert dabei als Qualitätsfilter. Das Ergebnis sind verlässliche Informationen für Aufsicht, Kapitalmarkt und Öffentlichkeit. So wird Nachhaltigkeitsberichterstattung vom Pflichtprogramm zum strategischen Instrument, das Akzeptanz schafft und Investitionen in die Energiezukunft ermöglicht.
Typische Fallstricke und wie man sie vermeidet
Was macht die Nachhaltigkeitsberichterstattung für EVU so anspruchsvoll? Einerseits gelten die klassischen Anforderungen: Prioritäten setzen, konsistente Daten liefern, klare Ziele formulieren. Andererseits bringt die Treibhausgasbilanzierung des Sektors eine Reihe spezifischer Stolpersteine mit sich – von Reservoir-Effekten oder Herkunftsnachweise bis hin zur Frage, wie die produzierte und verkaufte Energie richtig auszuweisen ist. Hinzu kommt der Umgang mit SF₆-Emissionen: Zwar ist der Stoff grundsätzlich verboten, gemäss Schweizer Chemikalienrecht jedoch für Hochspannungs-Versorgungsanlagen zugelassen.
Ein zentrales Element ist die doppelte Wesentlichkeit. Dabei werden die für ein EVU relevanten Themen aus der Risiko-/Chancen-Perspektive (outside-in: Einflüsse, Chancen und Risiken aus Umwelt und Gesellschaft, die das Unternehmen betreffen) und aus der Wirkungs-Perspektive (inside-out: Einflüsse, Chancen und Risiken aus der Unternehmenstätigkeit, die Umwelt und Gesellschaft betreffen) beurteilt. Nur so entstehen belastbare Prioritäten für Strategie, Investitionen und Berichterstattung – und Inhalte lassen sich auf Standards wie GRI oder EU-Vorgaben (CSRD/ESRS ) übertragen. In der Praxis führt dieser Ansatz zu Schwerpunktthemen statt zu selektiver Offenlegung. Ein Blick in bestehende Nachhaltigkeitsberichte von EVU zeigt: Unterschiedliche Standards und Regularien kommen zum Einsatz (CSRD, TCFD, GRI, Schweizerisches Obligationenrecht), zudem werden verschiedene Governance- und Assurance-Modelle beschrieben. Einige Berichte werden durch Zahlen, Richtlinien, Zertifikate oder «Eco-Management and Audit Scheme (EMAS)»-Erklärungen ergänzt, andere verzichten weitgehend auf Fakten und Zahlen und setzen stattdessen auf stark narrative Formate. Ebenso unterscheiden sich streng strukturierte KPI-Rahmen, die in den Finanzbericht integriert sind, von eher oberflächlich beschriebenen Zielen ohne detaillierte Massnahmen oder Wegleitung für die Zielerreichung.
Trotz ähnlicher Geschäftsmodelle greifen die Unternehmen somit sehr unterschiedliche Themen auf oder vermeiden sie bewusst. Um sicherzustellen, dass die richtigen Schwerpunkte gesetzt werden, empfiehlt sich eine strukturierte Wesentlichkeitsanalyse. Diese identifiziert entlang eines klaren Analyse- und Bewertungsprozesses die Themen mit der grössten Relevanz und macht transparent, was bewusst nicht vertieft wird.
Besonders heikel: Die Erhebung des CO₂-Fussabdrucks
Die Qualität der Bilanzierung hängt von fünf Faktoren ab:
- Messen: Lücken im Messnetz bei der Erhebung von Verbräuchen sind häufig: Notstromaggregate ohne separaten Zähler, gemeinsamer Dieselverbrauch mehrerer Anlagen, übersehene Kältemittel oder SF₆-Verluste in Schaltanlagen. Abhilfe schaffen vollständige Anlagen- und Zählerregister, klare Pflichtenhefte für Dateneigner sowie Plausibilitätsprüfungen.
- Einordnung in Scopes: In einem umfassenden CO₂-Fussabdruck werden die Emissionen entsprechend ihres Ursprungs in der Lieferkette in Scope 1 (direkte Emissionen), Scope 2 (indirekte Emissionen) oder Scope 3 (weitere indirekte Emissionen aus der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette) eingeteilt. Die korrekte Abgrenzung des Scopes ist zentral und im Stromsektor komplex. Bezieht ein Pumpspeicher beispielsweise Strom aus dem öffentlichen Netz, fällt dies unter Scope 2. Stammt der Pumpspeicher-Strom direkt aus einer eigenen Gasturbine, sind die Emissionen in Scope 1 abzubilden. Konzerninterne Lieferungen sind auf Gruppenebene zu eliminieren, um Doppelzählungen zu vermeiden.
- Datenkonsolidierung: Daten liegen in unterschiedlichen Einheiten (kWh, MWh oder GJ) vor. Ohne saubere Templates, Umrechnungsregeln und ein Konsolidierungshandbuch sind Fehlinterpretationen vorprogrammiert. Verantwortlichkeiten und Kontrollmechanismen müssen klar definiert sein.
- Methodik: Bei Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) entscheidet die Wahl der Allokation über glaubwürdige Ergebnisse. Die einfachste Methode ist die energetische Aufteilung der Emissionen auf Strom und Wärme. Dabei wird allerdings die Wertigkeit des Stroms nicht abgebildet. Es empfiehlt sich, mit Referenzwirkungsgraden zu arbeiten und so die Emissionen entsprechend aufzuteilen und sowohl Stromproduktion als auch Wärmeproduktion auszuweisen.
- Ausweisen: Berichte zeigen teils grosse Differenzen im Ausweisen des Energieverbrauchs und der Energieproduktion. Gemäss Empfehlungen der Global Reporting Initiative (GRI) – ergänzt um die sektorspezifischen Angaben – sollen Stromproduzenten insbesondere folgende Angaben offenlegen:
- Installierte Kapazitäten des Unternehmens, aufgeschlüsselt nach Primärquelle (z.B. Wasser, Wind, Sonne, Biomasse, Erdgas, Kohle, Kernenergie).
- Gesamte Nettoenergieproduktion in der Berichtsperiode (sowohl die elektrische Nennleistung als auch die Wärmenennleistung) nach Primärquelle.
- Gesamtenergieverbrauch inklusive verkaufter Energie, differenziert nach erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Quellen sowie nach Energieträger.
Die nachfolgende Tabelle zeigt grafisch, wie eine entsprechende Offenlegung transparent und verständlich erfolgen kann.
Für Vergleichbarkeit und Transparenz sind Methodik und Schätzungen offenzulegen, insbesondere im Umgang mit KWK-Allokation (z.B. Referenzwirkungsgrade). Spezifische Herausforderungen stellen sich auch in Bezug auf den Ausweis der CO₂-Emissionen: Netzverluste stellen entweder Scope 1 oder Scope 2 Emissionen dar, abhängig von der Netzverantwortung. SF₆-Leckagen aus Schaltanlagen sind dagegen eindeutig Scope 1 Emissionen und haben nichts mit Netzverlusten zu tun.
Transparenz zahlt sich aus
Nachhaltigkeitsberichte entfalten ihre Wirkung nur, wenn Daten, Methodik und Kontrollen stimmen. EVU sollten doppelte Wesentlichkeit anwenden, Energiedaten und CO₂-Bilanzierung transparent ausweisen und technologiespezifische KPIs nach anerkannten Standards berichten – idealerweise mit externer Prüfung. So entstehen Vergleichbarkeit und Glaubwürdigkeit, was Finanzierung erleichtert, Projektakzeptanz erhöht und Wettbewerbsvorteile schafft.
Der Nachhaltigkeitsbericht sollte auf anerkannten Standards beruhen. Viele Schweizer Unternehmen orientieren sich an GRI. Die GRI-Themenstandards zu Klimawandel (GRI 102) und Energie (GRI 103) wurden eben erst überprüft und aktualisiert, um den neuesten Entwicklungen sowie den massgeblichen zwischenstaatlichen Instrumenten in den Bereichen Klimawandel, Treibhausgasemissionen und Energie Rechnung zu tragen. Gute Nachhaltigkeitsberichte schaffen Klarheit für Anspruchsgruppen – von Investoren über Behörden bis zu Kundinnen und Kunden. Ein öffentliches Bekenntnis zur Nachhaltigkeit signalisiert zukunftsfähiges, verantwortungsbewusstes Unternehmertum. Intern schärft der Bericht das Bewusstsein für Risiken und Chancen entlang der Wertschöpfungskette und verbessert Prozesse. Die Datensammlung und -analyse fördert die Optimierung von Ressourcen und Energieeinsatz, was Kosten spart und die Umweltbilanz verbessert. Nachhaltigkeitsberichterstattung ist damit keine reine Pflichtübung, sondern ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Proaktive Transparenz signalisiert Verantwortung, stärkt die Reputation und wirkt sich langfristig finanziell positiv aus.