Gesamtsystem fit machen für neue Realitäten

Wie sieht das Schweizer Energiesystem bis 2050 in Abhängigkeit von Stromgesetz und Stromabkommen aus? Wie gehen wir mit den Überschüssen im Sommer um und wie sichern wir die Winterversorgung? Und was bedeutet das für die Netze?

Szenarien für die Energiezukunft

Die Umsetzung des Stromgesetzes und der Abschluss eines Stromabkommens – ein erklärtes Ziel des Schweizer Bundesrats – sind die prägenden Dimensionen der Studie. Daraus ergeben sich zwei Szenarien für die Energiezukunft:
 

  • Stromgesetz mit Stromabkommen: Die Ausbauziele im Stromgesetz werden erreicht (Ausbau von Photovoltaik, Wind, etc.: insgesamt 45 TWh; Ausbau Wasserkraft gemäss «Runder Tisch» bis 2040 (16 Projekte im Stromgesetz): +2 TWh im Winter; Nettoimporte max. 5 TWh im Winterhalbjahr). Zudem ist die Schweiz Teil des EU-Strommarktes und wird beim Market Coupling berücksichtigt (Importe und Exporte entsprechend dem Angebot und der Nachfrage).
  • Stromgesetz ohne Stromabkommen: Die Ausbauziele im Stromgesetz werden erreicht (Ausbau von Photovoltaik, Wind, etc.: insgesamt 45 TWh; Ausbau Wasserkraft gemäss «Runder Tisch» bis 2040 (16 Projekte im Stromgesetz): +2 TWh im Winter); Nettoimporte max. 5 TWh im Winterhalbjahr). Die Schweiz ist aus dem EU-Strommarkt ausgeschlossen und Grenzkapazitäten werden einseitig voraussichtlich teilweise stark eingeschränkt (vgl. Frontier Economics 2021).

Stromverbrauch steigt massiv, Gesamtenergieverbrauch sinkt dank Elektrifizierung und mehr Effizienz

Der Landesstromverbrauch steigt um rund 50% auf ca. 91 TWh bis 2050 gegenüber heute. Die Hauptgründe für den steigenden Stromverbrauch sind die Elektrifizierung von Mobilität und Wärme/Kälte, die Digitalisierung (bspw. Rechenzentren) und die Energieumwandlung (bspw. Elektrolyse, CCS, Grosswärmepumpen für Fernwärme). Der Gesamtenergieverbrauch der Schweiz sinkt jedoch deutlich, weil Strom effizienter ist als fossile Energien. Ohne zukünftige Effizienzmassnahmen wäre der Stromverbrauch im Jahr 2050 um ca. 10 TWh höher.

Entwicklung des Stromverbrauchs der Schweiz von heute (REF) bis 2050 aufgeteilt nach Verbrauchssegmenten (z.B. e-Mobilität) sowie Landes- und Endverbrauch.

Stromabkommen sichert mehr Grenzkapazitäten und macht das System resilienter, sicherer und stabiler

Mit einem Stromabkommen verfügt die Schweiz über viel mehr Grenzkapazitäten (NTC) für Import und Export, was die Versorgung insgesamt resilienter macht. Der Bedarf für inländische Stromreserven sinkt. Ausserdem sinken die Gesamtsystemkosten (sowohl in der Schweiz als auch in den Nachbarländern). 

Ohne Stromabkommen hingegen sind die Grenzkapazitäten stark reduziert und werden fast vollständig ausgenutzt. Das kann die Versorgungssicherheit beeinträchtigen, da es keinen Puffer gibt. Die eingeschränkte Grenzkapazität könnte ein Risiko für Knappheitssituationen darstellen, weshalb der Bedarf für (teure) inländische Stromreserven hoch bleibt.

Verfügbare und für Transit und Schweizer (CH) netto-Importe/Exporte genutzte Grenzkapazität (NTC) in den Szenarien «Stromgesetz mit Stromabkommen» (integriert) bzw. «Stromgesetz ohne Stromabkommen» (isoliert).

Überschüsse im Sommer: Speicher und Flexibilitäten sind zentral

Im Sommer entstehen insb. wegen des starken PV-Ausbaus grosse Stromüberschüsse, die sinnvoll im Sinne des Gesamtsystems genutzt werden sollen. Speicher, Flexibilitäten und Exporte gewinnen dadurch an Bedeutung. Der überschüssige Strom wird mittels Batterien/Pumpspeicher gespeichert und zur Deckung des Abendverbrauchs genutzt, und/oder nach Möglichkeit exportiert oder für die inländische Wasserstoffproduktion verwendet. Voraussetzung für optimalen Einsatz von Speichern/Flexibilitäten sind Anreize und Preissignale. Aufgrund der sehr grossen Strommengen wird zusätzlich eine PV-Einspeisebegrenzung (Peak Shaving) zur Entlastung der Verteilnetze nötig sein.

Aggregierter Tagesgang (brutto-Verbrauch/-Produktion) für das Sommerhalbjahr REF und 2050 im Szenario «Stromgesetz mit Stromabkommen» für die Variante «Gas».

Im Winter braucht es ergänzende Stromproduktion

Mit dem Ausbau der Erneuerbaren gemäss Stromgesetz verschafft sich die Schweiz eine bessere Ausgangslage für die Winterversorgung. Doch auch wenn die Ausbauziele im Stromgesetz erreicht werden, braucht es in den Wintermonaten ergänzende Stromproduktion. Die Art dieser Produktion hängt vom gesellschaftlichen und politischen Willen ab. Es wurden verschiedene Varianten für ergänzende Produktion berechnet: mehr Wind, zusätzliche Importe über das Stromgesetz hinaus, Gaskraftwerke (möglichst klimaneutral betrieben) oder Langzeitbetrieb eines bestehenden Kernkraftwerkes (Langzeitbetrieb = 80 J.).

Die Variante «mehr Windkraft» ist aus Systemoptik klar zu favorisieren. In dieser Variante rechnet das Modell den optimalen Mix von PV und Windkraft. Die beiden Technologien ergänzen sich, haben beinahe komplementäre Produktionsmuster: Ein optimaler Mix der beiden Technologien würde nicht nur die Winterstromlücke verkleinern (auf ca. 4 TWh) und zu tieferen Systemkosten führen, sondern auch die Überschüsse im Sommer wegen weniger PV reduzieren.

Um die noch verbleibende Lücke zu schliessen, werden Gaskraftwerke eingesetzt. Gaskraftwerke sind flexibel einsetzbar und eignen sich daher gut als ergänzende Produktion. Um die Klimaziele zu erreichen, sollten sie klimaneutral betrieben werden (Erdgas mit CO2-Zertifikaten, CO2-Abscheidung mittels CCS oder Betrieb mit erneuerbaren Gasen).

Zusammenfassung der erneuerbaren und ergänzenden (zusätzlichen) Produktion sowie des Importsaldos zur Deckung des Landesstromverbrauchs für das Szenario «Stromgesetz mit Stromabkommen» und den vier untersuchten Varianten «Gas», «LTO», «mehr Import» und «mehr Wind».

Geht man von weniger starkem Ausbau der Windkraft aufgrund fehlender Akzeptanz und von Importmöglichkeiten aus, die 5 TWh nicht überschreiten, braucht es deutlich mehr Produktion aus Gaskraftwerken (bis zu 8 TWh) und/oder den Langzeitbetrieb eines Kernkraftwerks, um die Versorgung im Winter zu sichern. Mit dem Langzeitbetrieb eines Kernkraftwerks kann der Bedarf für Gaskraftwerke um etwa die Hälfte reduziert werden: Gas- und Kernkraft steuern dann mit je rund 4 TWh etwa gleichviel zur Winterstromversorgung bei.

Wie steht es um die Winterversorgung, wenn die Ausbauziele im Stromgesetz nicht erreicht werden?

Dann braucht es noch mehr Gas und den Langzeitbetrieb von zwei Kernkraftwerken

In diesem Szenario geht die Studie davon aus, dass die Erneuerbaren (ohne die bestehende Wasserkraft) lediglich 25 TWh statt die vom Stromgesetz anvisierten 45 TWh beisteuern. Entsprechend gross sind die Auswirkungen auf die Stromversorgung im Winter: Die Winterstromlücke verdoppelt sich und damit der Bedarf nach ergänzender Produktion. Die Schweiz wäre auf grosse Strommengen aus Gaskraftwerken angewiesen: Je nach Variante müssten diese bis zu 18 TWh im Winterhalbjahr produzieren. Je mehr Gaskraftwerke nötig sind, desto schwieriger und teurer ist es, die Klimaziele zu erreichen. Werden die Ziele im Stromgesetz nicht erreicht, müssten in der Variante «Langzeitbetrieb Kernkraft» beide Kernkraftwerke (Gösgen, Leibstadt) bis 2050 Strom produzieren. Durch den Langzeitbetrieb beider KKW könnte der Bedarf nach Gaskraftwerken um etwa die Hälfte verringert werden.

Die Netzkosten steigen stark – der Anstieg kann jedoch substanziell gedämpft werden

Die Stromnetze werden durch den Ausbau und die Dezentralisierung der Stromproduktion sowie durch die Dekarbonisierung von Mobilität, Wärme und Industrie stark gefordert. Sie müssen in jedem Fall bedarfsgerecht weiterentwickelt und ausgebaut werden, um die zukünftigen Anforderungen bewältigen zu können. Die Netzkosten steigen dadurch stark an: von heute ca. 4 Mrd./J. auf ca. 9 Mrd./J. bis 2050 – ohne kostendämpfende Massnahmen. 

Dieser Kostenanstieg kann mit verschiedenen Massnahmen substanziell gedämpft werden. Allein die Einspeisebegrenzung von 3% der Jahresproduktion von PV-Anlagen führt zu einer Reduktion der Netzkosten. Wird diese statisch umgesetzt, d.h. eine fixe Einspeisebegrenzung der Anlagen bei einem bestimmten Prozentsatz der installierten Leistung, betragen die Netzkosten im Jahr 2050 ca. 7 Mrd./J. Mit einer dynamischen PV-Einspeisebegrenzung, d.h. eine bedarfsgerechte Einspeisebegrenzung der Anlagen, könnte der Kostenanstieg um eine weitere halbe Milliarde gedämpft werden.

Nebst Peak Shaving können weitere Massnahmen wie intelligente Netzsteuerung, Optimierung des Eigenverbrauchs, lokale Speicher, dynamische Tarife und/oder technische Massnahmen zur Spannungshaltung massgeblich zu einem moderateren Anstieg der Netzkosten beitragen.

Entwicklung der jährlichen (annualisierten) Netzkosten pro Netzebene (NE) für heute (REF) und 2050 im Szenario «Stromgesetz mit Stromabkommen» (integriert) 1) ohne (keine), 2) statische und 3) dynamische PV Einspeisebegrenzung (engl. peak shaving) beim Prosumer «behind-the-meter».

Systemkosten: Mit Stromabkommen wird das Gesamtsystem in allen Varianten günstiger

Mit dem Abschluss eines Stromabkommens sind die Kosten in allen Varianten leicht günstiger als ohne Abkommen. Ohne Abkommen kommen zudem Mehrkosten für die Netzstabilität im Übertragungsnetz hinzu (SDL, Regelenergie, ungeplante Flüsse). Die Variante mit mehr Windkraft generiert die tiefsten Systemkosten. Die Varianten Gas, LTO und mehr Importe unterscheiden sich kaum bzgl. der Kosten. Alles in allem dürfte die gesellschaftliche Akzeptanz und der politische Wille ausschlaggebend sein, welche Variante sich durchsetzt – und nicht die Systemkosten.

Annualisierte Systemkosten im Jahr 2050 für die Szenarien «Stromgesetz mit Stromabkommen» (integriert) und «Stromgesetz ohne Stromabkommen» (isoliert) für alle vier Variaten «Gas», «LTO», «mehr Import» und «mehr Wind».

Alles tun für die Versorgungssicherheit und Energiesystem fit machen für neue Realitäten

Die Ergebnisse zeigen klar auf, dass die Schweiz nun alle Hebel für die Versorgungssicherheit in Bewegung setzen und das Energiesystem fit für die neuen Realitäten machen muss. Sie muss das Stromgesetz konsequent umsetzen und ein Stromabkommen mit der EU abschliessen. Für den Ausbau der Erneuerbaren sind massiv mehr Akzeptanz, beschleunigte Verfahren und geeignete Finanzierungsbedingungen nötig.

Angesichts der Herausforderungen im Winter gilt der Fokus dem Produktionsausbau im Winterhalbjahr. Fördersysteme und Anreize müssen darauf ausgelegt werden. Die 16 Wasserkraft-Projekte aus dem Stromgesetz braucht die Schweiz dringend. Und je mehr Windkraft zugebaut wird, desto besser für die Stromversorgung. Dafür muss die Realisierbarkeit und Akzeptanz von Windkraftwerken und alpinen Solaranlagen sichergestellt werden. Gaskraftwerke braucht es in so gut wie allen Varianten, da sie flexibel einsetzbar sind. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen sich klimaneutral betrieben werden können. Zudem gilt es, den Langzeitbetrieb mindestens eines Kernkraftwerks zu prüfen.

Die erwarteten Überschüsse im Sommer können mit kurzfristigen Speichermöglichkeiten sowie zusätzlichen Flexibilitäten und Exporten systemdienlich genutzt werden. Wichtig ist, dass Preissignale zugelassen und Flexibilitäten konsequent bewirtschaften werden. Dies trägt ausserdem zu einem intelligenten und kosteneffizienten Netzausbau bei, wie diverse weitere Massnahmen auch: smartes Peak Shaving, Eigenverbrauchoptimierung, Anreize für Demand-Side-Management, Speicher/Batterien, dynamische Tarife, technische Massnahmen zur Spannungshaltung.