Dynamische Tarife: Chance für Verteilnetze

18.11.2025 PerspectivE
Die fortschreitende Elektrifizierung sowie der rasante Zubau dezentraler Solaranlagen stellen Energieversorger vor neue Herausforderungen beim Betrieb ihrer Stromnetze. Dynamische Preissignale sind eine Möglichkeit, um den kostspieligen Ausbau der Netzinfrastruktur zu minimieren. Die erfolgreiche Umsetzung ist oft herausfordernder als erwartet.
Gastautor
Gabriel Chavanne
Head Smart Solutions bei Swisspower
Gastautor
Sven Tröber
Project Manager bei Swisspower
Disclaimer
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Die fortschreitende Dekarbonisierung des Energiesystems erhöht die Stromnachfrage, beispielsweise durch den vermehrten Einsatz von Elektroautos und Wärmepumpen. Zudem führt der rasche Ausbau von Photovoltaikanlagen zu einer zunehmend dezentralen und variablen Stromerzeugung. Diese Entwicklungen stellen das Stromnetz vor grosse Herausforderungen, da sowohl die Menge als auch die Variabilität der Stromflüsse zunehmen. Insbesondere in Zeiten hoher Netzauslastung – den sogenannten Lastspitzen – steigt das Risiko von Netzengpässen. Um die Kosten des erforderlichen Netzausbaus zu reduzieren, können Verteilnetzbetreiber die vorhandenen Netzkapazitäten effizienter nutzen.

Lastspitzen können reduziert werden, indem netzdienliches Verhalten seitens der Endkundinnen und Endkunden gefördert wird. Dazu werden sowohl Ansätze der direkten als auch der indirekten Laststeuerung eingesetzt (VSE, 2024).

Bei der direkten Laststeuerung steuert der Netzbetreiber flexible Lasten der Endkundinnen und Endkunden direkt. Bei der indirekten Laststeuerung passen Endkundinnen und Endkunden ihren Verbrauch freiwillig an als Reaktion auf Anreize durch die Netzbetreiber. Hierzu werden beispielsweise dynamische Netznutzungstarife eingesetzt, welche flexible Tarifstrukturen enthalten, die sich in kurzen Intervallen (z.B. alle 15 Minuten) an die aktuellen oder prognostizierten Gegebenheiten im Stromnetz anpassen. Damit bieten sie den Verbrauchern Anreize, Strom in Zeiten niedriger Netzbelastung zu nutzen, womit der Stromverbrauch geglättet und die Notwendigkeit für kostspielige Netzausbauten reduziert werden kann.

Abbildung 1: Schematisches Beispiel eines dynamischen Tarifs.
Quelle: VSE

Mit dem per 01.01.2025 in Kraft getretenen Stromversorgungsgesetz (StromVG) müssen Netznutzungstarife den Zielen einer effizienten Netzinfrastruktur und Elektrizitätsverwendung Rechnung tragen und neu explizit Anreize für einen stabilen und sicheren Netzbetrieb setzen. Mit der ab Januar 2026 gültigen Fassung der Stromversorgungsverordnung (StromVV) wird die Einführung dynamischer Netznutzungstarife vereinfacht.

Damit eröffnen sich für Schweizer Energieversorger neue Möglichkeiten in der Tarifgestaltung. Swisspower hat mit mehreren Stromversorgern zusammen unterschiedliche Tarifschemas getestet und ein Tool entwickelt, mit dem Versorger einfach und regulierungskonform dynamische Tarife einführen können. Nachfolgend beschreiben wir Möglichkeiten und Learnings aus Umsetzungsprojekten und empfehlen ein geeignetes Vorgehen zur Einführung dynamischer Tarife.

Anforderungen an die Tarifgestaltung

Dynamische Tarife sollten mindestens die folgenden Kriterien erfüllen:

  • Kostenparität: Gemäss Art. 18 Abs. 5 Bst. c StromVV sind dynamische Tarife so auszugestalten, dass sie für ein Standardlastprofil einer Kundengruppe mit anderen Tarifen dieser Kundengruppe vergleichbar sind.
  • Definierte Preisspanne: Für dynamische Tarife muss ein Maximalpreis pro Kilowattstunde angegeben werden. Die Angabe eines Minimalpreises wird empfohlen.
  • Transparenz: Die Tarifberechnung (Formel / Preismechanismus) muss transparent und nachvollziehbar ausgewiesen werden.
  • Redundanz: Zusätzlich zu technischen Redundanzen ist es sinnvoll festzuhalten, welcher Tarif zur Anwendung kommt, wenn beispielsweise aus technischen Gründen kein Signal geliefert werden kann.

Es ist die Aufgabe des Netzbetreibers, für eine Tarifgestaltung zu sorgen, welche die gesetzlichen Anforderungen erfüllt und gleichzeitig die richtigen Anreize zur Reduktion der Netzlast setzt. Da diverse Ansätze (linear, exponentiell, Stufenmechanismus, etc.) möglich sind, hat der Verteilnetzbetreiber bei der Parametrierung von dynamischen Tarifen grossen Handlungsspielraum. Eine ausgedehnte Testphase vor der Einführung dynamischer Tarife ermöglicht die korrekte Kalibrierung der dynamischen Tarife für das jeweilige Netzgebiet.

Abbildung 2: Mögliche Ausprägung des Ausspeisetarifs d1 (Braun) mit einer linearen Abhängigkeit der Netzlast-Prognose (Schwarz). Darstellung einer ganzen Woche von Montag bis Sonntag.
Quelle: ZHAW, Swisspower

Häufige Stolpersteine bei der Tarifgestaltung

Bei der Gestaltung des dynamischen Tarifs hat der Verteilnetzbetreiber grossen Handlungsspielraum. Häufige Stolpersteine sind:

  • Unzureichende Kostenparität aufgrund mangelhafter Tarifkalibrierung.
  • Fehlerhafte Implementation des Minimal- und Maximaltarifs, welche eine Verzerrung der Tarifstruktur zur Folge hat.
  • Zu hohe oder zu niedrige Sensitivität des dynamischen Tarifs aufgrund einer falschen Tarifgestaltung und einer zu kurzen Testphase.
  • Ermittlung der korrekten Formel oder Beschreibung des Preismechanismus.

In verschiedenen Umsetzungen von Stromversorgern, die zusammen mit der Swisspower AG unterschiedliche Tarifansätze testen, konnte festgestellt werden, dass insbesondere bei der richtigen Parametrierung häufig Unklarheit besteht. Netzbetreiber und Energielieferanten, die dynamische Tarife in der Netznutzung sowie in der Energielieferung einführen möchten, sollten sich der erwähnten Herausforderungen bewusst sein. Es empfiehlt sich deshalb, vor der Einführung den Preismechanismus des dynamischen Tarifs zu simulieren oder besser noch in einem Pilotprojekt zu testen.

Tarifübermittlung an die Endkund:innen

Grundsätzlich können dynamische Tarife von allen Endkundinnen und Endkunden genutzt werden. Der erhoffte Effekt einer reduzierten Netznutzung stellt sich aber am ehesten bei Endkund:innen ein, die über ein Home Energy Management System (HEMS) verfügen, welches automatisiert grosse Lasten wie das Laden des Elektroautos, die Wärmepumpe oder einen Batteriespeicher ohne Komforteinbussen für die Endkund:innen steuert. Über eine Application-Programming-Interface-Schnittstelle (API) kann der HEMS-Anbieter mindestens einmal täglich die dynamischen Tarife für den Folgetag abrufen. Die API sollte dafür dem definierten Standard des VSE Handbuchs dynamische Tarife (HDT) entsprechen.

Abbildung 3 zeigt schematisch die erforderlichen Schritte von der Netzprognose des Netzbetreibers bis zur Lastverschiebung bei den Endkund:innen anhand des Swisspower InnoStrom-Tools. Netzbetreiber nehmen mit dem InnoStrom-Tool die Preisberechnung, die Bereitstellung via API und die Kundenzuordnung vor. Der von Swisspower gewählte Ansatz (Abfrage mit Messpunktnummer) ermöglicht dabei bereits auch eine regionale Differenzierung der Tarife, womit grössere Anreize in stärker ausgelasteten Netzgebieten möglich sind.

Abbildung 3: Illustration zur Funktionsweise des Swisspower InnoStrom-Tools.
Quelle: Swisspower

Für die korrekte Abrechnung von dynamischen Tarifen ist zudem ein Smart Meter zur Messung der Stromflüsse in ausreichender Auflösung erforderlich.

Erste Resultate

Um die Wirksamkeit dynamischer Netznutzungstarife zu beurteilen und zur Adjustierung der Tarifgestaltung empfiehlt es sich, frühzeitig eine ausgedehnte Testphase durchzuführen. Der Nutzen kann beispielsweise mittels folgender KPIs ermittelt werden:

  • KPI Netzüberlastung: Die Netztarife sollten Anreize für die Verbraucher schaffen, Netzüberlastungen zu vermeiden. Derzeit sind die meisten Verteilnetze so dimensioniert, dass das Netz fast nie überlastet wird. Um zu beurteilen, ob Tarife Netzüberlastungen vermeiden können, kann die Netzkapazität rechnerisch auf einen bestimmten Anteil (z.B. 80%) der für diesen Tag erwarteten Netzspitzenlast begrenzt werden (= künstliche Verknappung der Netzkapazität). Damit kann evaluiert werden, wie sich die eingeführten Tarife in Zeiten unterschiedlich hoher Netzauslastung auf den Verbrauch auswirken.
  • KPI Strombeschaffungskosten: Es wird angenommen, dass eine Korrelation zwischen Netzlastoptimierung und Strompreisen besteht. Dieser KPI zeigt, ob ein positiver Effekt auf die Strombeschaffungskosten des Energieversorgungsunternehmens erzielt wird, wenn dynamische Netznutzungstarife eingeführt werden. Der KPI misst, um wie viel niedriger die Beschaffungskosten pro kWh für das gesamte Lastprofil sind im Vergleich zu den Beschaffungskosten pro kWh, wenn die gleiche Energiemenge gemäss dem aktuellen Netzlastprofil beschafft wird.
  • KPI Kostensenkungspotenzial: Die Tarife sollten den Verbrauchern einen Anreiz bieten, die Gesamtkosten für die Strombeschaffung, den Netzausbau und die Wartung zu senken. Das Netz macht derzeit rund 50% der Gesamtkosten in der Schweiz aus. Es wird angenommen, dass rund 40% der Netzkosten proportional zur jährlichen Netzspitzenlast sind, während die restlichen 60% der Netzkosten unabhängig davon anfallen.
  • KPI Kundeneinsparung: Die Kosten, welche die Endkund:innen bei Verwendung des Preissignals und der damit verbundenen Optimierung einsparen, sollten ebenfalls berechnet werden.

Abbildung 4 zeigt ein Beispiel einer Verschiebung der Last (blau) in Zeiten niedriger Tarife (rot). Aufgrund der beobachteten Lastverschiebung wird das Stromnetz entlastet, zudem werden Kosten aufseiten der Endkund:innen eingespart.

Abbildung 4: Beispiel einer Verschiebung der Last (blau) in Zeiten niedriger Tarife (rot).
Quelle: ZHAW, Swisspower

Swisspower hat in Projekten beobachtet, dass die Lastgänge bei Endkund:innen, die viele Lasten an ihrem HEMS angeschlossen haben, oft optimiert wurden. Allerdings haben wir auch festgestellt, dass gewisse Kundinnen und Kunden nicht oder kaum auf das dynamische Preissignal reagieren. Dieses Verhalten wurde insbesondere bei Kund:innen beobachtet, die wenige Lasten am HEMS angeschlossen hatten.

Empfohlenes Vorgehen

Erste Pilotprojekte zeigen, dass die Einführung dynamischer Netznutzungstarife gut vorbereitet werden muss, damit die gewünschten Effekte – insbesondere eine Reduktion des Netzausbaubedarfs – erzielt werden. Bei der Gestaltung der Tarife sind verschiedene Kriterien zu beachten. Anschliessend empfehlen wir eine ausgedehnte Testphase, in der die Wirksamkeit der Tarifgestaltung anhand unterschiedlicher KPIs gemessen und beurteilt wird. Bevor das Tarifsystem definitiv eingeführt wird, sollte es gemäss den Erkenntnissen aus der Testphase adjustiert werden. Dabei sind unter anderem zwei Einflussfaktoren zu beachten, die regional variieren können: der aktuelle Verbreitungsgrad von Smart Metern und HEMS im Versorgungsgebiet sowie dessen zukünftige Entwicklung.

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