Das Stromabkommen: Zentral für die Netzstabilität in der Schweiz

04.12.2024 PerspectivE
Strom kennt keine Landesgrenzen und sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstands. Die Schweiz ist mit 41 Grenzleitungen in das europäische Stromnetz eingebunden. Physikalisch steht sie deshalb in stetigem Stromaustausch mit den Nachbarländern, was eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit unabdingbar macht. Dafür ist ein Stromabkommen dringend notwendig.
Gastautorin
Anneta Matenli
Principal Market Operations bei Swissgrid
Gastautorin
Salome Just
Public Affairs Manager bei Swissgrid
Disclaimer
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In Kürze: Darum braucht die Schweiz ein Stromabkommen mit der EU

Das Stromabkommen regelt die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Strombereich. Damit gewährleistet es auch den sicheren und stabilen Betrieb des Schweizer Übertragungsnetzes im europäischen Verbundnetz. Zudem ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen. Dafür braucht es ausreichende Kapazitäten in den Leitungen zwischen der Schweiz und den Nachbarländern. Das Stromabkommen vereinfacht die Planung dieser Kapazitäten. Darüber hinaus sichert das Stromabkommen die Teilnahme der Schweiz an europäischen Kooperationen im Strombereich rechtlich ab.

Die 41 grenzüberschreitenden Stromleitungen, die das Schweizer Netz mit dem europäischen Verbundnetz koppeln, sichern den reibungslosen Stromaustausch mit dem benachbarten Ausland. Vor allem im Winter kann sich die Schweiz normalerweise nicht vollumfänglich selbst mit Strom versorgen; diese Lücken müssen dann Kraftwerke im Ausland füllen. Im Frühjahr und Sommer hingegen, wenn die Speicherseen sich füllen und die Sonne scheint, exportiert die Schweiz überschüssigen Strom aus den Wasserkraftwerken und von der zunehmenden Anzahl Photovoltaikanlagen. Die stabile Stromversorgung in der Schweiz ist keine Selbstverständlichkeit. Sie basiert auf einem ständigen Austausch von Informationen zwischen den Stromproduzenten und Netzbetreibern in ganz Europa und damit verbundenen Stromimporten und -exporten.

Darüber hinaus fliesst durch die Schweiz eine beträchtliche Menge Strom, die gar nicht in der Schweiz konsumiert wird – von Nord nach Süd, von West nach Ost und vice versa. Ähnlich wie unsere Autobahnen ist auch das Stromnetz eine Transitachse mitten in Europa. 41 Leitungen queren die Grenze und zeigen die Bedeutung der Schweiz als Stromdrehscheibe in Europa.

Zusammenarbeit rechtlich absichern

Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit mit den Netzbetreibern im benachbarten Ausland, mit den Verbänden und Gremien, die in Europa im Strombereich aktiv sind, Standards setzen und die Netze weiterentwickeln. Für Swissgrid ist diese Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern nicht selbstverständlich. Weil die Schweiz kein Stromabkommen mit der EU hat, ist Swissgrid von einigen Gremien, die für die Regulierung des Stromaustausches zentral sind, komplett ausgeschlossen. Andere wichtige Kooperationen für den Netzbetrieb müssen auf privatrechtlicher Basis organisiert werden, die rechtlich weniger stabil ist als ein Stromabkommen mit der EU.

Kleine Schwankungen mit grosser Wirkung

Die Balance ist entscheidend für den sicheren Betrieb des Stromnetzes. Die Kraftwerke müssen genau so viel Strom produzieren, wie von der Industrie und den Haushalten verbraucht wird – zu jeder Zeit, Tag und Nacht. Denn nur wenn die Balance stimmt, schwingt der Wechselstrom in den Leitungen mit genau 50 Hertz. Fällt unerwartet ein Kraftwerk aus, sinkt die Frequenz unter 50 Hertz, und der Netzbetreiber muss sofort reagieren. Passiert dies in der Schweiz, muss Swissgrid unverzüglich die fehlende Leistung bei einem Kraftwerk anfordern.

Für diese sogenannte Regelenergie gibt es in Europa drei grosse Plattformen. Über diese Plattformen stellen Regelleistungsanbieter aus ganz Europa ihre Flexibilität den europäischen Netzbetreibern zur Verfügung. Allerdings kann Swissgrid nicht darauf zugreifen, da die Schweiz von den europäischen Regelenergieplattformen ausgeschlossen ist. Ein Stromabkommen mit der EU würde dies ändern und Swissgrid den direkten Zugang zu diesen Plattformen ermöglichen. Das erhöht unmittelbar die zur Verfügung stehende Regelleistung und damit die Sicherheit des Netzbetriebs in der Schweiz.

Bei unvorhergesehenen Schwankungen setzt Swissgrid Regelenergie ein, damit Produktion und Verbrauch wieder ins Gleichgewicht kommen.

Das Stromsystem wandelt sich in rasantem Tempo. Täglich steigt der Anteil PV-Energie und die Stromerzeugung wird dezentraler. Nicht nur einige wenige Kern- und Wasserkraftwerke speisen das Netz, sondern tausende Dächer mit PV-Anlagen und hunderte von Windrädern produzieren Strom in ganz Europa – allerdings nur dann, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Das erzeugt grosse Schwankungen im Stromnetz, und die Balance – im Gleichgewicht bei 50 Hertz – gerät häufiger als früher ins Wanken. Einen Grossteil der Regelenergie, um diese Schwankungen auszugleichen, muss Swissgrid aktuell auf dem Schweizer Strommarkt beschaffen. Dessen Kapazität ist begrenzt, was im Extremfall die Netzstabilität gefährdet. Ausserdem wird zum Ausgleich häufig die wertvolle Schweizer Wasserkraft benötigt, die damit für die Versorgung der Bevölkerung im Winter fehlt. Das Stromabkommen würde es Swissgrid erlauben, diese Regelenergie auch in Europa zu beschaffen. Das erhöht die Flexibilität im Netzbetrieb und damit die Stabilität des Schweizer Übertragungsnetzes.

Ungeplanter Transitverkehr

Wenn Frankreich Strom nach Deutschland liefert, sucht sich der Strom den Weg des geringsten Widerstands – oft führt dieser über die Schweiz, zum Beispiel von Mambelin (FR) nach Bassecourt und dann über Laufenburg nach Deutschland. Nicht selten fliesst bis zu einem Drittel des gesamten Volumens eines solchen Geschäfts durch die Schweiz, ohne dass Swissgrid im Voraus davon weiss. Das stellt eine ungeplante, enorme Belastung für das hiesige Stromnetz dar, auf die Swissgrid in Echtzeit reagieren muss. Mit einem Stromabkommen wäre die Schweiz automatisch in die Kapazitätsberechnungsmethoden und die Redispatch- sowie die Sicherheitskoordinationsprozesse miteinbezogen. Für die Sicherheit des Netzbetriebs in der Schweiz wäre dies von grossem Vorteil.

Schweiz und EU: Der Weg zur Integration im Strommarkt

Die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Strombereich verlief lange reibungslos, weil die Schweiz sich nach der gescheiterten EWR-Abstimmung 1992 den EU-Entwicklungen anpasste. Die EU führte 2009 das dritte Energiepaket ein, das unter anderem den Netzbetrieb von der Stromproduktion trennte – im Fachjargon «Unbundling» genannt – und einen einheitlichen europäischen Strommarkt schuf. Dieser soll durch grenzüberschreitenden Handel die Versorgungssicherheit erhöhen, Strompreise senken und die Energiewende unterstützen.

Die Schweiz passte sich an, gründete Swissgrid und setzte das Unbundling um. Seit 2012 fordert die EU jedoch ein Stromabkommen mit der Schweiz, bevor deren Teilnahme am EU-Binnenmarkt für Strom vollumfänglich möglich ist. Ohne dieses Abkommen bleibt die Schweiz aus wichtigen Bereichen bei der Zusammenarbeit im Netzbetrieb und im Stromhandel ausgeschlossen.

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