Tiefenlager: Experten weisen auf Risiken der Beobachtungsphase hin

Die Autoren einer im Auftrag des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI erarbeiteten Studie des Ingenieurbüros Basler & Hofmann schlagen vor, eine sorgfältige Abwägung aller Chancen und Risiken der gesetzlich vorgeschriebenen Beobachtungsphase vorzunehmen. Die Experten empfehlen auf die Beobachtungsphase eines Tiefenlagers für radioaktive Abfälle zu verzichten, falls ihr Nutzen nicht eindeutig belegt werden kann.

15.05.2019

Das Kernenergiegesetz sieht vor, das Tiefenlager nach Einlagerung der radioaktiven Abfälle während längerer Zeit zu beobachten. Dies, um zusätzliche Daten für den definitiven Verschluss des Tiefenlagers zu erhalten. Für eine Rahmenbewilligung muss ein Konzept für die Beobachtungsphase und den Verschluss der Anlage vorliegen. Der Eigentümer eines geologischen Tiefenlagers muss ein aktualisiertes Projekt für die Beobachtungsphase vorlegen, wenn die Einlagerung der radioaktiven Abfälle abgeschlossen ist. Der Bundesrat ordnet nach Ablauf der Beobachtungsphase die Verschlussarbeiten an, wenn der dauernde Schutz von Mensch und Umwelt gewährleistet ist.

Situation über lange Zeit nicht einschätzbar

Wie lange diese Beobachtungsphase dauert, ist derzeit ungewiss. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass während der Beobachtungsphase eine Krisensituation in der Schweiz entsteht. Diese könnte schlimmstenfalls dazu führen, dass die zuständigen Instanzen keine Kontrolle mehr über das Lager haben. „Wir betrachten das als sehr unwahrscheinlich und nur denkbar, wenn es auch sonst in der Schweiz zu grossen Umbrüchen kommen würde“, sagt Peter Jost, Co-Autor des Expertenberichts «Verschlussmassnahmen in Krisensituationen» des Ingenieurbüros Basler & Hofmann. „Ein isolierter Kontrollverlust über das Lager, während der Rest der Schweiz normal funktioniert, sehen wir nicht.“ Beispielsweise müssten infolge kriegerischer Handlungen zwischen verschiedenen Staaten in Europa die Arbeiten am Tiefenlager eingestellt werden. Ein Kontrollverlust könnte einen sicheren Verschluss des Lagers verhindern.

Auf diesen Punkt hat bereits 2007 eine Studie (G. Klubertanz et al.) hingewiesen, die ebenfalls im Auftrag des ENSI gemacht worden war. Sie war zum Schluss gekommen, dass es vorbeugende Massnahmen bei Planung, Auslegung und Betrieb braucht, um die Sicherheit des Tiefenlagers auch in einer Krisensituation während der Beobachtungsphase sicherzustellen.

Als Folge davon wurde die neu vorliegende Studie des Ingenieurbüros Basler & Hofmann vom ENSI in Auftrag gegeben. Ziel war es, die Thematik des «Schnell-/Selbstverschlusses» in Krisensituationen weiter zu vertiefen. Die Studie liefert eine Grundlage für die Nagra, ihr  aktuelles Lagerkonzept mit Massnahmen zur Minimierung der Auswirkungen eines Kontrollverlustes zu ergänzen.

Gute Grundlage im Lagerkonzept

Die neue Studie kommt zum Schluss, dass mit dem aktuellen Lagerkonzept der Nagra schon viel erreicht ist, um bei einem Kontrollverlust negative Auswirkungen auf das Tiefenlager im Fall zu reduzieren. Weitere Optimierungen seien jedoch möglich. Entsprechende Massnahmen sind in der Studie aufgelistet.

Vorgeschlagene Massnahmen

Im Bericht von Basler & Hofmann werden die folgenden Massnahmen vorgeschlagenen:

  1. Auslegungsbeeinflussende Massnahmen: Das sind Massnahmen, welche einen Einfluss auf die Auslegung des Lagers und damit auf den Bau des Lagers haben können. Dazu zählt unter anderem die Möglichkeit, Zwischensiegel zu installieren, um die Lagerstollen in einzelne Kompartimente zu unterteilen. Damit wäre die Anzahl der exponierten Endlagerbehälter bei einem Kontrollverlust reduziert. Es wird auch vorgeschlagen, bei der Festlegung des horizontalen Abstandes zwischen Lagerstollen darauf zu achten, dass der Kollaps eines offenen Lagerstollens aufgrund grosser Konvergenzen keinen negativen Einfluss auf die geologische Barriere eines benachbarten, bereits verfüllten Lagerstollens hat. Ausserdem könnte durch eine Erhöhung der Anforderungen an die Nutzungsdauer der Lagerstollen, die Schädigung der geologischen Barriere bei einem temporären Kontrollverlust minimiert werden.
  2. Vorbereitete Massnahmen und Entscheide: Dies sind vorsorglich geplante Massnahmen, welche im Fall eines sich abzeichnenden Kontrollverlustes ergriffen oder vorgefasste Entscheide, welche dann umgesetzt werden. Diese Massnahmen können die Situation bei einem schnell eintretenden oder sich abzeichnenden Kontrollverlust verbessern. Insbesondere bei einem sich abzeichnenden Kontrollverlust kann die Beschädigung des Wirtgesteins durch eine rasche Verfüllung und Versieglung der offenen Lagerstollen reduziert werden. Dazu ist das hierfür notwendige Baumaterial vor Ort jederzeit verfügbar vorzuhalten.
  3. Übergeordnete Massnahmen und Überlegungen: Das sind Massnahmen und Überlegungen, welche den gesamten Lebenszyklus des Lagers betreffen und einen Einfluss auf gesetzliche Rahmenbedingungen für den Bau und Betrieb des Tiefenlagers haben können. Sie werden von den Autoren dieser Studie als Anregung für Diskussionen verstanden. Zum Beispiel scheint ihnen ein direkter Verschluss des Hauptlagers bis zur Oberkante des Wirtgesteins nach Ende der Einlagerungsphase als erstrebenswert. Insbesondere wird aber eine sorgfältige Abwägung aller Chancen und Risiken der geplanten Beobachtungsphase unter Berücksichtigung der Risiken eines möglichen Kontrollverlustes empfohlen, sowie die Berücksichtigung eines Kontrollverlustes bei einer allfälligen Rückholung der Abfälle.

Wichtig sei trotzdem zu betonen, dass ein Kontrollverlust über ein Tiefenlager nicht automatisch eine Gefahr für die Bevölkerung bedeutet: „Ein Kontrollverlust ist nicht mit der Freisetzung von radioaktiven Stoffen gleichzusetzen. Diese wären auch bei einem Kontrollverlust durch die Endlagerbehälter und die verfüllten Stollen nach wie vor sehr gut geschützt“, erklärt Peter Jost.

ENSI nimmt Empfehlungen der Studie zur Kenntnis

Die Autoren der Studie empfehlen, eine sorgfältige Abwägung aller Chancen und Risiken der geplanten Beobachtungsphase vorzunehmen – auch unter Berücksichtigung der Risiken eines möglichen Kontrollverlustes über das Lager. Sollte der Nutzen der Beobachtungsphase nicht eindeutig belegt werden können, solle auf die Beobachtungsphase verzichtet und das Lager möglichst bald nach Abschluss der Einlagerung verschlossen werden. „Dies steht jedoch in einem Widerspruch zu den aktuellen gesetzlichen Grundlagen und Vorgaben, nach welchen das Lager und sein Betrieb geplant werden“, erläutert Peter Jost.

„Wir nehmen die Empfehlung der Studie zur Kenntnis“, sagt Felix Altorfer, Leiter des Bereichs Entsorgung des ENSI. „Wir werden sie aber in den Gesamtkontext einordnen müssen. Es gibt nach wie vor wichtige andere Argumente, die für die Beobachtungsphase sprechen.“ Die Beobachtungsphase habe sichertechnische Relevanz: „Sie kann uns wichtige zusätzliche Informationen für den definitiven Verschluss der Tiefenlager geben“, betont Felix Altorfer.

Die Schlussfolgerungen der neuen Studie werden auch in die Überlegungen einfliessen, die sich aus der Neuauflage der Richtlinie ENSI-G03 ergeben. Diese Richtlinie schreibt vor, dass für den Fall einer ungünstigen Entwicklung der Rahmenbedingungen, welche die Sicherheit des Lagers oder einen ordnungsgemässen Verschluss in Frage stellen, das Lager jederzeit rasch in einen passiv sicheren Zustand zu überführen ist.

Sicherheit hat oberste Priorität

Die Entsorgung radioaktiver Abfälle stellt eine besondere Herausforderung dar. Eine Folgerung ist, dass diese Aufgabe ergebnisoffen und mit Umsicht angegangen werden muss, um den gesetzlich vorgeschriebenen Schutz für Menschen und Umwelt umsetzen zu können. In seiner Funktion als Aufsichtsbehörde zieht das ENSI deshalb regelmässig andere Sichtweisen heran, beispielsweise auch in der Diskussion „Hüte-Konzept versus Endlagerung radioaktiver Abfälle“. (ensi)