Strom- und Gas-Mangellage – Energiekanton Aargau übernimmt Verantwortung, stellt aber auch Forderungen gegenüber dem Bund

Der Aargau unterstützt als Energiekanton aktiv die Pläne des Bundes, in Birr kurzfristig ein Reservekraftwerk zur Überbrückung von allfälligen Strom-Mangellagen zu betreiben. Das Departement Bau, Verkehr und Umwelt (BVU) und Regierungsrat Stephan Attiger führen dazu Gespräche mit dem Bund, der Gemeinde sowie den potenziellen Betreiberfirmen. Der Regierungsrat erwartet vom Bund ein aktives nationales Krisenmanagement. Vordringlich sind Massnahmen zu ergreifen, die eine Strom- und Gasmangellage abwenden. Gleichwohl gilt es, die Planungen und gesetzlichen Grundlagen für eine allfällige Mangellage anzugehen. Auf kantonaler Ebene wurde für die Bewältigung von möglichen Strom- und Gas-Mangellagen eine Task Force Versorgungssicherheit eingesetzt, in der alle Departemente vertreten sind (siehe Kasten). Dabei werden wichtige Stakeholder wie Wirtschaftsverbände und Arbeitnehmendenorganisationen, Gemeinden, Energieversorgungsunternehmen, Institutionen aus dem Bildungs- und Gesundheitswesen und so weiter miteinbezogen.
18.08.2022

Das ist eine Medienmitteilung des Kanton Aargau – die darin publizierten Inhalte geben nicht notwendigerweise die Meinung des VSE wieder.

 

"Wenn im kommenden Spätherbst oder Winter mehrere besondere Umstände zusammentreffen, droht der Schweiz eine Strom- und Gas-Mangellage", erklärt Regierungsrat Stephan Attiger, Vorsteher des Departements Bau, Verkehr und Umwelt (BVU), "wenn über einen längeren Zeitraum sehr tiefe Temperaturen herrschen, wenn wegen des Ukrainekrieges die russischen Gaslieferungen versiegen oder wenn der Stromimport aus dem Ausland nicht mehr funktioniert."

Der Bund hat für Strom- und Gas-Mangellagen jeweils vier Eskalationsstufen skizziert (unter anderem Einschränkungen, Kontingentierungen, Priorisierungen, Verbote, zyklische Netzabschaltungen und so weiter).

"Aargau ist als Energiekanton in einem besonderen Masse betroffen"

"Der Aargau ist als Energiekanton von den Herausforderungen einer möglichen Strom- und Gas-Mangellage in einem besonderen Masse betroffen", betont Energiedirektor Attiger: "Er ist Standort national relevanter Energieproduktionsanlagen und Versorgungsleitungen und ist einer der Haupteigentümer der AXPO, des wichtigsten nationalen Stromproduzenten und alleiniger Eigentümer der AEW Energie AG, dem wichtigsten kantonalen Netzbetreiber. Weiter verfügt er über einen einzigartigen industriellen und wissenschaftlichen Knowhow-Cluster im Energiebereich. Der Aargau ist zudem potenzieller Standortkanton von möglichen Reservekraftwerken und weist im nationalen Vergleich eine hohe Dichte an Industrie- und Logistikbetrieben von nationaler Bedeutung auf."

Der Regierungsrat und der Kanton Aargau seien gewillt, diese Verantwortung wahrzunehmen und auf nationaler Ebene wichtige Beiträge zur Lösung der anstehenden Herausforderungen und Probleme zu leisten.

Reservekraftwerk in Birr für kurzfristig verfügbare Stromkapazität

Der Regierungsrat des Kantons Aargau steht hinter dem Netto-Null-Ziel 2050 des Bundesrates. Dennoch sieht er aufgrund der besonderen Umstände einen Bedarf, kurzfristig verfügbare Reservekapazitäten im Sinne einer Versicherung zu schaffen – auch wenn diese mit fossilen Energien betrieben würden. Dem Standort Birr kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu: grosse Teile einer für den Betrieb eines öl- und/oder gasbetriebenen Kraftwerks benötigten Infrastruktur stehen dort bereits zur Verfügung. Das BVU und Regierungsrat Stephan Attiger als Energiedirektor führen dazu Gespräche mit dem Bund, der Gemeinde sowie den potenziellen Betreiberfirmen, um so rasch wie möglich eine grössere Kapazität an sicherer, flexibel abrufbarer Stromproduktionsleistung schaffen zu können. Der Regierungsrat begrüsst es, dass der Bundesrat in seiner Sitzung vom Mittwoch, 17. August 2022, entsprechende Beschlüsse gefasst hat.

Der Regierungsrat hält grundsätzlich an seiner Drei-Säulen-Strategie der kantonalen Energiepolitik fest. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen und der damit verbundenen Auslandsabhängigkeit zur Erzeugung von Raumwärme ist mit der Teilrevision des kantonalen Energiegesetzes (öffentliche Anhörung dazu läuft bis am 2. September 2022) sowie mit dem vom Regierungsrat vorgeschlagenen Zusatzkredit für das Förderprogramm Energie im Gebäudebereich 2021–2024 (Botschaft zuhanden des Grossen Rates in Erarbeitung) voranzutreiben. Der Ausbau von erneuerbaren Energien – insbesondere der Photovoltaik mit ihrem sehr hohen Potenzial – ist unter anderem mit der bereits beschlossenen Solaroffensive des Kantons zu intensivieren.

Regierungsrat erwartet vom Bund aktive Führungsrolle und einheitliches nationales Krisenmanagement

Vom Bundesrat erwartet der Regierungsrat, dass der Bund bei der Bewältigung einer allfälligen Strom- und Gas-Mangellage eine aktive Führungsrolle ausübt und dabei alles Notwendige unternimmt, um ein möglichst einheitliches nationales Krisenmanagement sicherzustellen. Dabei ist der richtige Mittelweg zu finden, damit das Leben der Bevölkerung möglichst wenig beeinträchtigt und gleichzeitig die volkswirtschaftlichen Interessen gewahrt werden können. Der Bund hat dabei die bereits geschaffenen Führungs-, Koordinations- und Steuerungsgremien und -instrumente so zu ergänzen, damit alle wichtigen Akteure (Energieversorgungsunternehmen, Wirtschaft, Arbeitnehmerorganisationen, Kantone und so weiter) vertreten beziehungsweise frühzeitig einbezogen sind.

Es ist das Ziel, mit entsprechenden Planungen, Vorbereitungen und Vorkehrungen sowie einem national, kantonal und mit allen wichtigen Akteuren koordinierten Krisenmanagement die laufenden und sich möglicherweise ändernden Herausforderungen einer Strom- und Gas-Mangellage möglichst geordnet bewältigen zu können.

Für Anwendung von Notrecht ist Bundesgrundlage notwendig

Da es sich um eine bundesweite Mangellage handelt, erwartet der Kanton Aargau vom Bund, gestützt auf seine verfassungsmässige Kompetenz betreffend Landesversorgung, auch eine Bundesgrundlage. Die notwendigen gesetzlichen Vorkehrungen wie beispielsweise Sonderverordnungen, sollten möglichst schnell und gemäss den Erfordernissen der vier Eskalationsstufen erstellt werden – und nicht erst im Ereignisfall. Um die bestehenden Vorgaben und Verfahren bei der Energieversorgung, im Arbeitsrecht, in der industriellen Produktion und so weiter temporär zu flexibilisieren und um zeitliche Risiken zu minimieren, ist die Anwendung von Notrecht angezeigt. Wenn eine solche rechtliche Basis geschaffen ist, kann der Kanton Aargau in Absprache mit der Standortgemeinde mögliche und nötige Bau- und Betriebsbewilligungen für ein Reservekraftwerk rasch erteilen.

Der Regierungsrat sieht überdies in Einklang mit dem Bundesrat ein grosses Potenzial für den gepoolten Einsatz von Notstromaggregaten, die in Industriebetrieben bereits vorhanden sind. Aus Sicht des Kantons Aargau existiert ein grösseres Potenzial als die vom Bund genannten 280 Megawatt Leistung. Eine weitere Möglichkeit für ein wirksames, kurzfristig umsetzbares, flexibles Energiemanagement sieht der Regierungsrat bei freiwilligen Reduktionen von Netzbezug durch Grossverbraucher auf der Basis von Auktionierungen; ein solcher Kapazitätsmarkt müsste national durch den Bund aufgebaut werden.

Kantonales Krisenmanagement für drei Phasen

"Der Regierungsrat befasst sich im Zusammenhang mit einer möglichen Strom- und Gasmangellage mit drei Phasen", erläutert Energiedirektor Attiger. "In der ersten Phase geht es um die Sensibilisierung von Bevölkerung, Wirtschaft und weiteren wichtigen Anspruchsgruppen für die Thematik und um den Appell, mit dem Energiesparen bereits jetzt zu beginnen. In der zweiten Phase sind die notwendigen Planungs- und Vorbereitungsarbeiten zu erledigen beziehungsweise Vorkehrungen zu treffen. Und in der dritten Phase, im Ereignisfall, ist der vorbereitete Massnahmenplan umzusetzen." Plötzlich auftretende Blackout-Situationen stünden dabei nicht im Vordergrund, sondern die Eskalationsstufen des Bundes.

Der Regierungsrat verfolge das Ziel, dass notwendige Einschränkungen die Bewohnerinnen und Bewohner des Kantons im privaten Bereich sowie das öffentliche Leben möglichst wenig beeinträchtigen würden. Er wird sich aber auch dafür einsetzen, dass die Auswirkungen auf die Wirtschaft möglichst gering sind; der Regierungsrat wird dabei zusammen mit den Wirtschaftsverbänden und Arbeitnehmendenorganisationen nach pragmatischen und flexiblen Lösungen suchen.

Zusammenarbeit zwischen Kanton und Wirtschaft wichtig

Die Aargauer Wirtschaft ist ebenfalls negativ betroffen von einem möglichen Strom- und Gasmangel. Es gibt gewisse Branchen, die gemäss Grossverbraucher-Artikel im kantonalen Energiegesetz als Grossverbraucher gelten. Das heisst, sie weisen einen Stromverbrauch von mindestens 500 Megawattstunden und/oder einen Wärmebedarf von mindestens 5'000 Megawattstunden jährlich auf. Dazu zählen industrielle Produktionsbetriebe unter anderem in den Bereichen Baustoffe, Metallverarbeitung, Lebensmittelverarbeitung, Kunststoffproduktion, Druck, Chemie und Pharma. Die Mangellage betrifft auch andere Unternehmen in besonderem Ausmass; diejenigen, die energieintensive Anwendungen und Herstellungsprozesse aufweisen mit einem Verbrauch von über 100 Megawattstunden pro Jahr (Bäckereien, Gemüseanbau, Transporteure, Banken, Gastronomie und Hotellerie).

Wenn es zu Verbrauchseinschränkungen kommen würde, müssten Private wie auch Unternehmen einen Beitrag leisten. Um die negativen Auswirkungen einer Energieknappheit möglichst gering zu halten, ist die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Kanton wichtig. Unter der Federführung des Departements Volkswirtschaft und Inneres (DVI) wird ein Gremium mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wirtschaft (Aargauer Industrie- und Handelskammer AIHK, Aargauer Gewerbeverband AGV) und Arbeitnehmendenorganisationen (ArbeitAargau) geschaffen. Ziel ist der regelmässige Austausch über sinnvolle und effiziente Massnahmen und über deren Umsetzung. (ag)