Wert von Flexibilitäten aus Sicht der Verteilnetze

10.02.2023
Der Umbau des Energiesystems im Zuge der Dekarbonisierung führt zu einem erheblichen Ausbaubedarf in den Verteilnetzen. Deren Betreibern steht, als Alternative zum klassischen Ausbau, auch die Nutzung von Flexibilität offen. Um über den Einsatz von Flexibilität zu entscheiden, sollte zunächst deren Wert bestimmt werden, was mit einigen wenigen Annahmen möglich ist.
Gastautor
Carsten Schroeder
Leiter strategische Regulierung bei ewz
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Die Energiestrategie sieht einerseits den erheblichen Ausbau der dezentralen Produktion und andererseits Massnahmen zur Dekarbonisierung vor, die zu einer weiteren Elektrifizierung des Verbrauchs führen werden. Beide Elemente führen zu einem Ausbaubedarf in den Verteilnetzen, der erheblich sein kann. Diesem Bedarf kann durch konventionellen Netzausbau oder die Nutzung von Flexibilität, mit dem Ziel der Reduktion von Lastspitzen, begegnet werden. Für eine erste Orientierung empfiehlt es sich, zunächst den Wert von Flexibilität für das Verteilnetz zu bestimmen. Ausgehend von diesem Wert können anschliessend die Vorgehensweise bestimmt und Massnahmen wie beispielsweise die Einführung spezieller Flexibilitätstarife beurteilt werden. (Hinweis: der Begriff «Ausbau» wird im Folgenden als Sammelbegriff für Netzverstärkungen und Netzerweiterungen verwendet.)

Die in diesem Artikel beschriebene Methodik wurde im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Netzwirtschaftskommission des VSE erarbeitet. Der Autor war Leiter der Arbeitsgruppe und ist Mitglied der Netzwirtschaftskommission.

Die vorgestellte Methodik stellt eine mögliche Lösungsvariante dar, andere Ansätze sind natürlich möglich.

NOVA, sicher und effizient

Die Verteilnetzbetreiber sind gesetzlich verpflichtet, ihre Netze sicher und effizient zu bauen und zu betreiben. Dieser Vorgabe wurde bislang nachgekommen, indem das Netz für eine zu erwartende Last- oder Einspeisungsspitze inklusive einer Reserve ausgelegt und ausgebaut wurde. Als Ergänzung zum konventionellen Ausbau wurde zusätzlich schon seit jeher die Beeinflussung der Last (also Flexibilität) genutzt. Diese Flexibilitätsnutzung erfolgt beispielsweise durch tarifliche Anreize (Demand-Side-Response) oder durch die Steuerung von Verbrauchergruppen mittels Rundsteuerung (Demand-Side-Management). Durch die technologische Entwicklung können Flexibilitäten heute gezielt und relativ kostengünstig angesprochen werden, was für deren Nutzung neue Möglichkeiten eröffnet. Die Flexibilitätsnutzung als Alternative zum konventionellen Ausbau rückt daher noch stärker in den Fokus als bisher. Neu ist seit der Einführung des NOVA-Prinzips (Netz-Optimierung vor Verstärkung oder Ausbau, Art. 9b StromVG) ausserdem, dass die Verteilnetzbetreiber explizit aufgefordert sind, den Einsatz von Flexibilität als Alternative zu einem möglichen Ausbau zu prüfen. Die Entscheidung für oder gegen Flexibilitätsnutzung sollte daher systematisiert werden und muss gegebenenfalls gegenüber der Regulierungsbehörde belegt werden können.

Modell

Die Idee für das entwickelte Modell besteht darin, die Kosten für konventionellen Ausbau zu bestimmen und diese anschliessend als Massstab für die Flexibilitätsnutzung zu verwenden. Immer dann, wenn Flexibilität ein Problem günstiger lösen kann als konventioneller Ausbau, ist deren Nutzung zu bevorzugen. Um Klarheit zu erhalten, sollte dabei immer aus Sicht des konventionellen Ausbaus argumentiert werden.

Hierzu ein Beispiel: Bei der Flexibilitätsnutzung geht es darum, einen Leistungsbedarf (Last oder Einspeisung) zeitlich zu verschieben oder ganz zu vermeiden. Physikalische Grössen sind also sowohl die Leistung als auch die Dauer der Verschiebung.

Zeitliche Verschiebung von Leistung.

Hierbei ist die Dauer der Verschiebung aus der Perspektive des Flexibilitätsinhabers wichtig, nicht aber aus der Perspektive des Verteilnetzbetreibers. Eine kurzzeitige Verschiebung einer bestimmten Last um beispielsweise eine Stunde (die etwa ein Netzproblem mit einer Ladesäule löst) ist für den Flexibilitätsinhaber mit ganz anderen Nutzeneinbussen verbunden als eine lange Verschiebung der gleichen Last um beispielsweise einige Tage (die ein Netzproblem beim Betrieb einer Wärmepumpe lösen würde). Aus Sicht des Verteilnetzbetreibers handelt es sich um gleichgelagerte Fälle. In beiden Fällen geht es darum, einen Netzengpass zu lösen. Die Alternative (der konventionelle Ausbau des Netzes) ist in beiden Fällen gleich teuer, und dementsprechend ist der Wert der Flexibilität auch gleich hoch. Massstab für den Wert der Flexibilität aus Sicht der Verteilnetze ist also immer der konventionelle Ausbau, entsprechend basiert das Modell auch auf dessen Berechnung.

Aus dieser Überlegung ergibt sich auch die Einheit für den Wert der Flexibilität, es sind dies nur die Kosten pro versorgte Leistung (CHF/kW), alle Grössen die den Einsatz von Flexibilität abbilden, wie Dauer oder Häufigkeit einer Lastverschiebung, sind nicht relevant, weil der Wert für den konventionellen Netzausbau berechnet wird.

Methodik

Die Methodik zielt also darauf ab, die Netzkosten bezogen auf die versorgte Leistung zu berechnen. Hierbei ist zunächst die Frage zu klären, ob für die Kosten des konventionellen Ausbaus die, basierend auf der derzeitigen Netzsituation, zusätzlich entstehenden Kosten anzusetzen sind oder ob ein allgemeinerer Ansatz zu wählen ist, bei dem die Netzkosten als Mittelwert für das gesamte Netzgebiet zu ermitteln sind.

Flexibilitätsnutzung soll im Mantelerlass umfassend reguliert werden. Dieser ist derzeit noch in der parlamentarischen Beratung. Für die Entwicklung der Methodik wurde davon ausgegangen, dass die im Entwurf des Bundesrats enthaltenen Grundsätze keine Anpassung erfahren. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz, dass die Verteilnetzbetreiber Flexibilität zu einheitlichen Bedingungen kontrahieren sollen (Art.17bbis Abs. 2 StromVG). In der Botschaft zum Mantelerlass ist hierzu ausgeführt, dass damit eine einheitliche Vergütung gemeint ist. Damit wäre eine einheitliche «Briefmarke» für Flexibilität zu verwenden. Deshalb wäre es unzulässig, anhand einer speziellen Netzsituation die zusätzlich entstehenden Kosten zugrunde zu legen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, die mittleren Netzkosten heranzuziehen. Vorteilhaft ist hierbei, dass diese Informationen grundsätzlich vorliegen.

Die gesuchten Kosten können dem ElCom-Reporting der Netzbetreiber entnommen werden, was zwei entscheidende Vorteile hat. Erstens liegt mit dem ElCom-Reporting eine standardisierte Datenbasis vor, die für alle Verteilnetzbetreiber verfügbar ist, was die Anwendbarkeit und die Vergleichbarkeit der Ergebnisse stark vereinfacht. Zweitens sind die Kosten im ElCom-Reporting bereits annualisiert. Damit ist ein Vergleich mit anderen jährlichen Kosten einfach möglich. Es muss allerdings die Frage beantwortet werden, welcher Anteil der Netzkosten im Reporting als leistungsbezogen zu verstehen ist.

Hierzu kann die Logik der Kostenwälzung aus dem NNMV genutzt werden. Kosten werden hier in wälzbare und nicht wälzbare Kosten unterschieden. Nur die wälzbaren Kosten werden als leistungsbezogen betrachtet und davon auch nur ein Anteil von 70 %. Dieser Logik folgend sind 70 % der Kosten der Kategorien 100, 200 und 300 (wälzbare Kosten gemäss KRSV) leistungsbezogen. Verwendet werden die Kosten aus dem Blatt «Kostenstellenrechnung», welches die Gesamtkosten einer Netzebene inklusive der anteiligen Kosten der übergeordneten Netzebenen abbildet.

Damit kommen für die Netzebene 7 zirka 50 % der gesamten Netzkosten im Modell zur Anwendung (70 % der wälzbaren Netzkosten ~ 50 % der Gesamtkosten). Der genaue Anteil ist abhängig von der jeweiligen Netz- und Kostenstruktur. Das BFE kommt in einer 2021 veröffentlichten Studie [1] zu dem Ergebnis, dass lediglich 20 bis 30 % der gesamten Netzkosten leistungsgetrieben sind. Die Studie bewertet Netzkosten allerdings auf einem reinen «Grüne-Wiese-Ansatz», während reale Netze gewachsene Gebilde sind. Die Studie dürfte daher den Anteil der leistungsbezogenen Kosten unterschätzen.

Grundsätzlich kann der Ansatz von 70 % der wälzbaren Kosten hinterfragt werden. Wichtig wäre aber, einen einheitlichen Ansatz zu definieren, damit die Methodik analog angewendet werden kann.

Verschachtelte (schwarz) und unverschachtelte Leistung (farbig).

Bezüglich der anzusetzenden Leistung ist festzustellen, dass die unverschachtelte Leistung zu verwenden ist, also die Summe der einzelnen Leistungsspitzen aller Endverbraucher unabhängig vom Zeitpunkt, an dem diese anfallen.

Diese Leistung stellt die eigentliche Versorgungsaufgabe für den Netzbetreiber dar, es ist der Zustand «ohne Netz». Die Verschachtelung von Leistungsspitzen ergibt sich erst aus den gewählten Netzstrukturen und ist damit eine Grösse, die aus der Lösung der Versorgungsaufgabe entsteht. Auch die einzusetzende Leistung kann, unter Zuhilfenahme einer einfachen Annahme, dem ElCom-Reporting entnommen werden. Hierzu wird die an Endverbraucher der Netzebene 7 abgegebene Energie mit einer Annahme zu den Benutzungsstunden dividiert.

Als Annahme werden von der Arbeitsgruppe 2000 Stunden vorgeschlagen. Auch dieser Wert kann hinterfragt werden, wichtig wäre aber auch hier ein einheitlicher Ansatz.

Formel zur Berechnung des Werts von Flexibilität.

Der Wert der Flexibilität ist damit netzspezifisch und für das ganze Netz einheitlich berechenbar. Auswertungen der Mitglieder der Arbeitsgruppe deuten darauf hin, dass die Streuung bei den Ergebnissen eher gering ist. Die Arbeitsgruppe war aber relativ klein und nicht repräsentativ besetzt.

Wert und Vergütung

Die vorgeschlagene Berechnungsmethode führt zu einem Wert für Flexibilität aus Sicht des Verteilnetzes. Dieser Wert darf nicht mit einer eventuellen Vergütung verwechselt werden, vielmehr stellt er eine Obergrenze dar, die insgesamt bei der Nutzung von Flexibilität nicht überschritten werden sollte (weil dann der konventionelle Ausbau die günstigere Variante darstellt). Die bei der Flexibilitätsnutzung entstehenden Kosten bestehen nicht nur aus der Vergütung für den Endverbraucher als Flexibilitätsinhaber, sondern auch aus den weiteren mit der Flexibilitätsnutzung verbundenen Kosten, den Transaktionskosten. Dies sind alle Kosten, die anfallen, um eine Flexibilität überhaupt nutzen zu können, also Kosten für die kommunikative Erschliessung und die damit verbundenen Kapital- und Betriebskosten. Die Transaktionskosten hängen stark von der individuellen Situation im betroffenen Verteilnetz ab. Grundsätzlich sind hier ländlich geprägte Verteilnetze mit geringer Lastdichte und grossen Distanzen gegenüber Verteilnetzen mit hoher Lastdichte und kurzen Wegen im Nachteil. Die Erfahrungen aus der Arbeitsgruppe haben gezeigt, dass die Transaktionskosten zwischen den Verteilnetzen stark streuen und erheblich sein können. Es empfiehlt sich daher nicht, diese Kosten nur grob zu schätzen oder gar ganz zu vernachlässigen.

Auch hier bestünde zwar die Möglichkeit, die Transaktionskosten aus Angaben im ElCom-Reporting abzuleiten (über die Kosten der intelligenten Steuer- und Regelsysteme), diese Quelle ist aber nicht zu empfehlen, da damit lediglich die Kosten der bestehenden Kommunikationslösungen erfasst werden. Diese Kosten dürften meist die Rundsteuerung abbilden und nicht die künftig zu erwartenden Kosten von neueren Technologien. Die Transaktionskosten sollten daher neu, abhängig von der zukünftig geplanten Technologie, ermittelt werden.

Die Effizienzgrenze beim Einsatz von Flexibilität wäre dann erreicht, wenn die Summe aus Vergütung und Transaktionskosten tiefer liegt als der berechnete Wert der Flexibilität.

Anwendung

Die vorgeschlagene Methodik führt zu einem Wert der Flexibilität aus Verteilnetzsicht, der die Effizienzgrenze zu konventionellem Netzbau beschreibt. Wenn zusätzlich die Transaktionskosten hergeleitet werden, kann ein Maximalwert für die Vergütung von Flexibilität berechnet werden. Stellen die relevanten Flexibilitätsinhaber ihre Flexibilität nicht zu einem Vergütungssatz zur Verfügung, der unter diesem Maximalwert liegt, dann ist es aus Sicht des Verteilnetzbetreibers effizienter, das Netz konventionell auszubauen. Dieses Vorgehen beschreibt den Einsatz als Demand-Side-Management (DSM), also die direkte Kontrahierung und anschliessende Ansteuerung von Flexibilität.

Die Variante des Demand-Side-Response (DSR), also die Beanreizung von Verhalten über entsprechende Tarife, kann ebenfalls beurteilt werden, macht aber eine zusätzliche Abschätzung erforderlich. Einen entsprechenden Tarif müsste der Verteilnetzbetreiber im ganzen Netzgebiet diskriminierungsfrei anbieten, obwohl nur ein Teil der Flexibilitäten mögliche Netzprobleme beheben und damit den Ausbaubedarf reduzieren kann. Dementsprechend müsste eine Wahrscheinlichkeit angenommen werden, zu der eine Reaktion auf einen Tarif ein Netzproblem löst. Lautet die Annahme für diese Wahrscheinlichkeit beispielsweise 30 %, dann dürften die Kosten des Tarifs (die Mindereinnahmen durch reduzierte Netznutzung) 30 % des Werts der Flexibilität nicht überschreiten. Positiv ist in diesem Fall, dass praktisch keine Transaktionskosten anfallen, weil keine zusätzliche Kommunikationsinfrastruktur zur Übertragung von Steuerungssignalen nötig ist.

Fazit

Der Wert von Flexibilitäten für das Verteilnetz ergibt sich aus einem Vergleich mit den Kosten für konventionellen Netzbau unter Berücksichtigung der Transaktionskosten. Datenbasis bildet das ElCom-Reporting mit wenigen, einfachen Annahmen. Das Ergebnis ist eine Obergrenze für die Vergütung von Flexibilitäten. Der Wert kann von allen Netzbetreibern einfach und einheitlich berechnet werden.

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