«Prognosen aus Studien können nur so treffend sein wie die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen»

Die Stromversorgungssicherheit der Schweiz beschäftigt – auch den VSE. Der Verband fordert eine sachliche Einschätzung des Themas. Das gelingt nur, wenn man alle kritischen Elemente im Visier hat und Aussagen zur Zukunft auf realistischen Referenzszenarien basieren. Nadine Brauchli, Bereichsleiterin Energie beim VSE, sagt, was das bedeutet.
12.07.2019

Das Thema Versorgungssicherheit ist in Politik und Medien in aller Munde; unlängst hat auch die EMPA eine Studie publiziert, die ein Stromdefizit prognostiziert. Was sagt der VSE dazu?

Das Thema ist für uns absolut zentral und gewinnt im Rahmen der Umsetzung der Energiestrategie 2050, der Revision StromVG und vor allem der europaweiten energie- und klimapolitischen Entwicklungen immer mehr an Gewicht. Die Rahmenbedingungen für die heimische Produktion sind ungenügend und es fehlen langfristige Investitionsanreize, die den Erhalt und den Zubau von einheimischer Produktion gewährleisten würden. Im vergangenen Herbst haben zehn nationale europäische Verbände, darunter der VSE, in einem gemeinsamen Appell auf die kritische Versorgungssicherheit aufmerksam gemacht und auch unsere Hauptanliegen zur Revision StromVG sind eng mit dem Thema Versorgungssicherheit verbunden. Wir begrüssen, dass das Thema mit der Motion 19.3004 zur Sicherung einer langfristigen Stromversorgung nun auch sehr explizit auf der Agenda des Bundesrats und des Parlaments ist.

Andere Akteure sehen die Situation gelassener. Die System Adequacy Studien vom BFE oder von ENTSO-E beispielsweise sehen die Versorgungssicherheit als gewährleistet.

Ja, nur verändert sich die Welt leider schneller, als Studien aktualisiert werden. In System Adequacy Studien formuliert man Annahmen, so genannte Referenz- und Extremszenarien, für die Modellierung und leitet darauf basierend Handlungsbedarf ab. Konkret heisst das, dass die Prognosen aus Studien nur so treffend sein können, wie die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen. Wir stellen fest, dass die in jüngster Zeit erschienenen Studien von Annahmen ausgehen, die von der Realität längst wieder überholt sind. Um die Versorgungssicherheit fundiert einschätzen, die richtigen Massnahmen einleiten und Risiken vorbeugen zu können, braucht es nicht optimistische, sondern realistische und teilweise auch pessimistische Annahmen. Denn die Versorgungsicherheit muss auch gewährleistet sein, wenn nicht alles nach Plan läuft.

Was sind denn aus Sicht VSE realistische Annahmen?

Wir haben soeben unsere Einschätzung publiziert, was die System Adequacy Studien, die jetzt überarbeitet werden, zwingend berücksichtigen müssen. Zum einen kommt in der Schweiz der Ausbau der erneuerbaren Energien nur schleichend voran. Gleichzeitig wird aber in Europa massiv gesicherte Leistung abgebaut und die Dekarbonisierung beschleunigt sich – vor allem durch Elektrifizierung, was wiederum einen höheren Strombedarf bedeutet. Vor allem in den Wintermonaten muss die Schweiz importieren. Ob sie dies auch kann, hängt letztlich vom Exportvermögen und der Exportbereitschaft der angrenzenden Staaten ab. Doch unsere Nachbarn signalisieren zunehmend, dass sie selbst auf Import angewiesen sein werden und haben selbst ihre liebe Mühe, das Netz für die Zukunft aufzurüsten. Zum anderen fehlt der Schweiz immer noch das Stromabkommen mit der EU. Die fehlende Integration der Schweiz in den europäischen Strombinnenmarkt führt zu Einschränkungen, die sich mit dem Inkrafttreten des Clean Energy Packages in der EU weiter verschärfen werden – und die Netzstabilität wird durch diese Situation zunehmend belastet. Nur wenn man eine Auslegeordnung aller kritischen Elemente macht, kann man in der politischen Diskussion eine fundierte Einschätzung der möglichen Versorgungsrisiken machen und abwägen zwischen nötigen Massnahmen und Risiken, die man bereit ist, in Kauf zu nehmen.