Meinung: Unsere Stromzukunft – an einer Hand abgezählt

Vor Kurzem bin ich einer Einladung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gefolgt. Mit von der Partie waren auch unsere Nachbarn Deutschland, Frankreich und Österreich. Holland und Tschechien gaben sich ebenfalls die Ehre. Es war für mich äusserst interessant, zu hören, welche Bilanz all diese Länder über ihre Energiewirtschaft der letzten 10 bis 20 Jahre ziehen.

14.12.2018

Und ich glaube, dass die Schweiz aus diesen Erfahrungen lernen kann – auch wenn das in einzelnen Fällen bedeutet, nicht dieselben Fehler zu machen. Fünf Punkte sind es, die mich in diesem Zusammenhang besonders beschäftigt haben.

Erster Punkt: Die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft – also die Bemühungen, deren CO2-Fussabdruck deutlich zu verkleinern, um den berüchtigten Treibhauseffekt abzumildern. Es ist frappant, welche grossen Auswirkungen dieser Trend in den erwähnten Ländern auf den Produktionsmarkt hat. Er zieht nämlich eine massive Elektrifizierung nach sich. Darunter verstehen wir den Ersatz fossiler Anwendungen, wie Benzinautos oder Ölheizungen, durch elektrische Anwendungen, wie Stromer oder Wärmepumpen. Würden alle genannten Nationen, die Schweiz eingeschlossen, ihre Versprechen von Paris einlösen, dürfte ihre Elektrifizierung bis 2050 um sage und schreibe 60 Prozent zulegen – ein enorm hoher Wert.

Der zweite Punkt: Die erwähnte Dekarbonisierung führt in allen Ländern zum Abbau gesicherter Leistung – aus Quellen wie Schweröl- und Kohlekraftwerken. Zusammen mit dem Abbau der Kernenergie dürften es bis ins Jahr 2030 30 Gigawatt weniger sein – der Gegenwert von 30 Gösgen-Kernkraftwerken. Wir haben zusammen mit neun anderen nationalen Stromverbänden bereits herausgestrichen, dass diese Entwicklungen genau zu beobachten sind, wenn uns eine hohe Versorgungssicherheit auch in Zukunft ein Anliegen ist. Bereits jetzt mussten im Angebotsmarkt Mechanismen eingeführt werden, um das System zu stabilisieren.

Drittens: Die Energiepreise für den Endkunden sind gesunken. Gesamthaft bezahlen die Kunden indes trotzdem mehr für ihren Strom, weil die Komponente der Abgaben gestiegen ist. Trotz Wahlfreiheit haben nicht viele Kunden ihre Anbieter gewechselt. Die Liberalisierung hat aber neue, vielversprechende Produkte hervorgebracht.

Viertens: Der Angebotsmarkt der Zukunft ist besonders durch das Energie-Trilemma gefordert. Sicherer Strom, der möglichst erneuerbar und sauber sein soll, zu einem attraktiven Preis. Das fordern die Kunden, die Politik und die Gesellschaft von uns. Grenzüberschreitender Austausch beim Netz ist dafür eine Grundvoraussetzung. Ein Inseldasein wird sich kein Staat leisten können.

Fünftens: Es fehlen Investitionsanreize im Mittel- und Langfristbereich für die nicht subventionierten Stromquellen. Die Preisbildung stellt auf die grenzkostenbasierte Merit-Order ab. Die hat die Wasserkraft in den letzten Jahren mit der Vollkostenrechnung aus der wirtschaftlichen Bahn geworfen.

Das Fazit? Der Abbau gesicherter Leistung in Europa wird uns auch betreffen. Es versteht sich von alleine, dass nicht alle Länder Europas gleichzeitig eine reine Importstrategie fahren können. Die Schweiz muss diese Entwicklungen genau im Auge behalten. Einfach wird es nicht. Denn mögliche Lösungen wie Gaskraftwerke bringen uns direkt in einen Widerspruch mit dem Pariser Abkommen. Und mit einem Stromabkommen können wir derzeit auch nicht rechnen. Der Hoffnungsschimmer? Unser Land ist mit 60 Prozent erneuerbarer und 99 Prozent fast CO2-freier Produktion in einer sehr guten Ausgangslage. Darauf lässt sich aufbauen.


Der Autor: Michael Wider ist Präsident des VSE.